Wichtige Weichen in der deutschen und europäischen Wirtschaftspolitik sind Anfang 2011 falsch gestellt. Das drängendste Problem: Die EU-Länder haben trotz ihrer jüngsten Beschlüsse noch nicht die nötigen Vorkehrungen getroffen, um die Krise der Währungsunion einzudämmen. Zu diesem Ergebnis kommt das "Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung" (IMK) in der "Hans-Böckler-Stiftung" in seinem Jahresausblick, der als "IMK Report 59" erschienen ist.
Um die Eurokrise dauerhaft zu entschärfen, empfehlen die Wissenschaftler einen Mix von Maßnahmen. Dazu gehören unter anderem: Der Rettungsfonds sollte so erweitert werden, dass er die bestehenden Staatsschulden von Krisenländern garantiert. Bis dahin sollte die Europäische Zentralbank (EZB) Staatsanleihen notfalls auch in größerem Umfang als bisher aufkaufen.
Ferner sollten Kredite des Rettungsfonds niedrig verzinst werden. Ab 2013 sollten Eurobonds aufgelegt und ein Europäischer Währungsfonds gegründet werden. Die Steuerbasis in den Krisenländern sollte verbreitert und ein verbindliches Mindestniveau der Besteuerung EU-weit etabliert werden. Schließlich sollte es in Deutschland und anderen EU-Staaten mit Leistungsbilanzüberschüssen Investitionsprogramme geben, um die Binnennachfrage zu stärken. Dies sei notwendiger Bestandteil eines Stabilisierungskonzepts, so das "IMK".
"Viele Politiker und Ökonomen in Deutschland und Europa schwanken bei der Suche nach Wegen aus der Eurokrise zwischen Kraftmeierei und Verzagtheit", sagt Prof. Dr. Gustav A. Horn, der Wissenschaftliche Direktor des "IMK". "Einerseits ist die Rede davon, europäische Länder, die wichtige Partner in Politik und Außenhandel sind, zur Not einfach pleite gehen zu lassen. Andererseits wollen jetzt alle Regierungen mit Sparprogrammen auf Nummer Sicher gehen. Obwohl die zumindest bei uns und in anderen Ländern mit einigermaßen intakten Staatsfinanzen derzeit viel mehr schaden als nutzen."
Natürlich müssten alle Euroländer ihre durch Finanzkrise und Bankenrettung strapazierten Haushalte konsolidieren, betont der Wirtschaftsforscher. "Aber das gelingt nicht nach Schema F, indem alle gleichzeitig auf die Ausgabenbremse steigen und die Konjunktur abwürgen. Das führt eher in einen Teufelskreis: Viele Finanzmarktakteure sind nervös und misstrauen den europäischen Staaten. Wenn dann noch schlechte Konjunkturzahlen kommen, werden sie noch nervöser", so Horn. "Die beste Konsolidierungsstrategie unterstützt im ersten Schritt ein nachhaltiges Wachstum und profitiert dann von höheren Einnahmen und geringeren Ausgaben."
In seiner aktuellen Konjunkturprognose von Mitte Dezember veranschlagt das "IMK" für 2011 ein Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent und einen Rückgang der Arbeitslosenzahl auf weniger als drei Millionen im Jahresdurchschnitt. Die Forscher warnen aber davor, vorschnell auf eine stabile Erholung zu vertrauen. Die Aufwärtstendenz sei nach wie vor nicht selbst tragend, sondern ein Effekt der weltwirtschaftlichen Belebung, die wesentlich auf den Konjunkturprogrammen im In- und Ausland beruhte. Deren Wirkung läuft aus, die Weltkonjunktur schwächt sich leicht ab.
Vor diesem Hintergrund ist die Konjunktur in Deutschland und Europa besonders anfällig für Erschütterungen aus der Eurokrise. Das "IMK" skizziert Ansätze zu ihrer dauerhaften Bewältigung:
- - Insolvenzrisiken ernstnehmen -
Die Wissenschaftler warnen vor Vorschlägen, die eine Aufspaltung der Eurozone, den Austritt oder Ausschluss von Mitgliedern, ein "Gesundschrumpfen" durch maximale Sparprogramme oder die Insolvenz von Euro-Staaten als gangbaren Weg der Krisenbewältigung propagieren. Jeder dieser Ideen berge kaum kalkulierbare Risiken für die gesamte Währungsunion und auch für die deutsche Wirtschaft - sei es durch Auf- oder Abwertungsdruck auf den Euro, schwindende Exportchancen oder den Ausfall von Krediten in Milliardenhöhe. Der Kreditausfall "könnte einige Banken, auch deutsche, in Schwierigkeiten bringen und in der Folge ein neues Bankenrettungspaket nötig machen", schreibt das IMK. - - Garantie von Staatsanleihen -
Um die Finanzmärkte zu beruhigen, sollte der Euro-Rettungsschirm dahingehend erweitert werden, dass er die bereits existierenden Staatschuldtitel von Krisenländern garantiert. Bis der Rettungsfonds um Garantien der Staatsanleihen erweitert wurde, sollte die EZB weiterhin bereit sein, Staatsanleihen - notfalls in größerem Umfang - aufzukaufen und so marktausgleichend zu wirken. - - Günstige Zinsen an Krisenländer weitergeben -
Nach dem bisherigen Konzept des Euro-Rettungsschirms können die Gläubigerländer, die für die Anleihen der European Financial Stability Facility (EFSF) bürgen, mit hohen Zinsgewinnen rechnen. Das ist aus Sicht des IMK nicht sinnvoll: "In dieser historischen Situation eines durch die Finanzmarktkrise ausgelösten Anstiegs der Staatsverschuldung müssen für die Schuldner die Zinskosten des Rettungsschirms (und des griechischen Rettungspakets) sowie des anvisierten dauerhaften Rettungsmechanismus niedrig gehalten werden", um ihre Zahlungsfähigkeit nicht zu gefährden. Daher solle die EFSF die günstigen Zinsen, zu denen sie Kredite aufnimmt, ohne Aufschlag weiterreichen. - - Eurobonds -
Das IMK unterstützt den Vorschlag, Euro-Anleihen aufzulegen, für die die Staaten der Währungsunion gemeinsam garantieren. Als bis 2013 begrenzte Sofortmaßnahme sollten alle aktuell im Umlauf befindlichen Anleihen gemeinsam garantiert werden. Für die Zeit nach dieser Übergangsphase favorisieren die Wissenschaftler einen Anleihe-Mechanismus, bei dem Euro-Staaten normalerweise bis zu einer Verschuldungsquote von 60 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts von niedrigeren Zinsen der Eurobonds profitieren. Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen dürften diesen Wert um die Höhe ihres Leistungsbilanzüberschusses noch überschreiten. Kredite darüber hinaus sind möglich, würden aber nicht als Eurobonds begeben und in den meisten Fällen vom Markt mit einem Zinsaufschlag versehen. Die Finanzierung über Eurobonds wird an Auflagen geknüpft, die dazu dienen sollen, die Leistungsbilanzdifferenzen im Euroraum zu reduzieren. Aufgelegt werden sollen die Eurobonds von einem neu zu gründenden Europäischen Währungsfonds, der ab 2013 den aktuellen Rettungsfonds ersetzen soll. Er kontrolliert zudem die Auflagen und übernimmt von der Europäischen Kommission die Federführung beim (modifizierten) Stabilitäts- und Wachstumspakt. - - Finanzkraft der Krisenländer stärken -
Von den Ländern mit Finanzschwierigkeiten könne erwartet werden, dass sie ihre Finanzkraft stärken und ihre Leistungsbilanzdefizite reduzieren, betont das IMK. In Griechenland geschehe das bereits, indem der griechische Staat die Steuerbasis verbreitere. Grundsätzlich könne die EU-weite Etablierung eines Mindestniveaus bei der Besteuerung den Staaten helfen, ihre Einnahmen zu verbessern. Auch die Verschuldung des Privatsektors muss in einigen Ländern reduziert werden. Geraten Banken dadurch in Schwierigkeiten, müssten sie verstaatlicht und restruktruiert werden, so das IMK. Zur Reduzierung der Leistungsbilanzdefizite muss in den betroffenen Ländern die preisliche Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden. - - Investitions- und Lohnpolitik in Überschussländern -
Eine dauerhafte Stabilisierung der Eurozone kann nach der IMK-Analyse nur gelingen, wenn die großen Ungleichgewichte zwischen den nationalen Leistungsbilanzen abgebaut werden. Dazu könnten die Länder, die deutliche Überschüsse haben, auf zwei Wegen beitragen. Die Tarifparteien sollten eine Lohnentwicklung anstreben, die das trendmäßige Wachstum der Produktivität und die Zielinflationsrate der EZB abdeckt. In Deutschland entspräche das einem gesamtwirtschaftlichen Lohnwachstum von rund 3,5 Prozent. Zudem sollten die Regierungen durch staatliche Mehrausgaben für Bildung und Investitionen die inländische Nachfrage steigern. Davon profitiere die eigene Bevölkerung, aber auch die Defizitländer, die mehr exportieren könnten. Um künftig gefährlichen Unwuchten bei den Leistungsbilanzen vorzubeugen, plädieren die Forscher für eine Neugestaltung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes, der vorrangig die Leistungsbilanzsalden - und damit die öffentlichen und die privaten Finanzierungssalden in den Blick nehmen sollte. - - Sparprogramm und "Schuldenbremse" -
Die Sparbeschlüsse der Bundesregierung wiesen jedoch in die Gegenrichtung, betont das IMK. Der diskretionäre fiskalische Impuls, mit dem der Staat das Wachstum beeinflusst, wechselt nach den IMK-Berechnungen durch Beitragssatzerhöhungen und Ausgabenkürzungen 2011 erstmals seit 2007 wieder ins Minus. Bis 2014 sieht die Haushaltsplanung des Bundes selbst nominal - ohne Anrechnung der Inflation - weitere Ausgabenkürzungen vor. Zum Vergleich: Sogar in Großbritannien sind in den kommenden vier Jahren noch geringe nominale Ausgabensteigerungen geplant.
"In Deutschland fällt ein solch radikal niedriger Ausgabenpfad des Staates aber offenbar gar nicht mehr als ungewöhnlich auf, denn er stellte im Durchschnitt der letzten zehn Jahre vor der Krise schon fast den Normalfall dar", schreibt das IMK. Nach Daten der EU schrumpften die deutschen Staatsausgaben zwischen 1998 und 2008 real, also inflationsbereinigt, um 0,2 Prozent pro Jahr - eine Entwicklung, die extremer nur noch in Japan zu verzeichnen war. Noch stärker als die Ausgaben wurden allerdings die Steuern gesenkt, so dass die Staatsfinanzen defizitär blieben.
Die Wissenschaftler warnen davor, die Tendenz zu einer konjunkturschädlichen Fiskalpolitik durch die "Schuldenbremse" für Bund und Länder noch zu verschärfen. Die Wissenschaftler fürchten, dass zahlreiche methodische Ungenauigkeiten die "Schuldenbremse" anfällig für Manipulationen machen. So habe die EU-Kommission das Verfahren, mit dem sie die strukturellen und konjunkturellen Defizite berechnet, allein in diesem Jahr zweimal modifiziert. Mittlerweile gebe es vier verschiedene Varianten des EU-Verfahrens, das auch der Bund für seine "Schuldenbremse" anwenden will.
Simulationsrechnungen des IMK zeigen, dass sich je nach angewandter Variante der Spielraum für die Kreditaufnahme um mehrere Milliarden Euro öffnet oder verkleinert.