Auch in Europa kann eine nukleare Katastrophe wie in Japan nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden, dies zeigen unzählige Störfälle der letzten Jahre. Mit einem Atomausstieg ist dennoch nicht so schnell zu rechnen. In Deutschland gibt es eine starke Lobby, in anderen Ländern steht eine mögliche Energiewende gar nicht erst zur Debatte.
Es war ein Atomkraftwerk, das im Sommer 2006 den kleinen schwedischen Ort Forsmark ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit rückte. Und es war auch ein Atomkraftwerk, das aus Nicklas Sjulander einen Helden machte.
Damals war durch einen Kurzschluss der Atommeiler im beschaulichen schwedischen Städtchen vom Stromnetz getrennt worden. Infolge dessen kam es zum Ausfall der Notkühlung, das Personal hatte jede Kontrolle über die Anlage verloren. Dies war die Stunde des Niklas Sjulander.
Denn anders als es die internen Sicherheitsvorschriften vorsahen, ergriff Sjulander nicht erst nach 30 Minuten manuelle Maßnahmen. Als seine Kollegen noch mit Chaos und Konfusion kämpften, ging er in den Kontrollraum des betroffenen Reaktors, verschaffte sich Zugriff auf die fehlerhafte Schaltanlage und speiste Strom aus einem externen Netz ein, nach genau 21 Minuten und 41 Sekunden. Die Dieselreaktoren sprangen wieder an, die Kühlung setzte ein, eine mögliche Katastrophe war abgewendet.
Ein Angestellter sagte später den schwedischen Medien, dass der Reaktor kurz vor der Kernschmelze gestanden habe. Lars Olov Höglund, ehemaliger Chefkonstrukteur bei Vattenfall, bezeichnete damals die Störung als „schwersten Zwischenfall seit Tschernobyl und Harrisburg“. Als Ursache für den Kurzschluss wurde das Auftreten eines „unbekannter technischen Fehlers“ genannt.
Das Beispiel Forsmark zeigt: bedrohliche Szenarien, wie sie sich nun in Japan ereigneten, sind in Europa nicht gänzlich auszuschließen. Da hilft es nichts, wenn das deutsche Atomforum einen Tag nach Beginn der Katastrophe per Pressemitteilung verlautbaren lässt, dass mit einem ähnlichen Fall wie in Japan in unseren Breitengraden nicht zu rechnen sei: „Eine Verkettung eines derart schweren Erdbebens und eines schweren Tsunamis ist in Deutschland nicht vorstellbar“. Da hilft es auch nichts, wenn die BILD-Zeitung, bisher wichtiger Motor einer Pro-Atom-Kampagne, am Montag nach dem Tsunami RWE-Chef Jürgen Großmann für die Sicherheit der deutschen Kernenergie werben lässt. Eine hundertprozentige Sicherheit ist auch in Deutschland nicht zu haben, die Mehrheit der Bevölkerung ist spätestens seit dem Unglück in Tschernobyl kritisch gegenüber der Atomkraft eingestellt. Und auch wenn Angela Merkel ein „Atom-Moratorium“ ankündigte, so können Kernkraftgegner an dieser Stelle vorsichtig beunruhigt werden: mit einer schnellen Wende in der Atompolitik, so sei prophezeit, ist vorerst nicht zu rechnen.
Einflussreiche Kernenergie-Lobby
Kaum war ein möglicher Ausstieg aus der Laufzeitverlängerung Thema, kaum sah sich die Atomkraft infolge der japanischen Horrormeldungen angezählt, da schoben einflussreiche Entscheidungsträger schon wieder vorsichtig ihren Fuß in die Eingangstür des Kanzleramtes und der öffentlichen Debatte. EnBW-Chef Hans-Peter Villis ließ durchblicken, dass die Atomlobby gewillt ist, den schwarzen Peter abzugeben: „Nach drei Monaten wird ja das Spiel wieder neu gespielt.“ Ein RWE-Sprecher sah das Primat zwar bei der Politik, fügte jedoch hinzu, dass man weiterhin auf einen kurzen Draht zum Kanzleramt setze. „Wir gehen davon aus, dass wir zu Gesprächen eingeladen werden.“ Und die BILD-Zeitung, die Katastrophenmeldungen von Fukushima noch auf der Titelseite, droht bereits mit einem Anstieg der Energiekosten, wenn der Atomausstieg beschleunigt werde.
Man setzt anscheinend aufs Vergessen: in drei Monaten, so wohl die Hoffnung, sind die Ereignisse in Japan nicht mehr mit einer so hohen Emotionalität besetzt wie es aktuell noch der Fall ist. Dann kann zur alten Tagesordnung übergegangen werden.
Dass die Kernkraftbetreiber ihren Einfluss auf die Politik erfolgreich geltend machen können, zeigte sich nirgendwo so deutlich wie bei der beschlossenen Laufzeitverlängerung des letzten Jahres. Wie das ARD-Magazin Monitor in einem Beitrag vom 09.09.2010 berichtete, hatte damals die Bundesregierung die Atomversorger davon befreit, dringend notwendige Nachrüstungen an ihren Alt-Reaktoren vorzunehmen. Die Folge waren Einsparungen in Milliardenhöhe für die Atomanbieter, doch zugleich Abstriche bei der Reaktorsicherheit. Auf die lange Bank geschoben wurde etwa eine Vergrößerung der Flutbehälter, notwendig bei einem Ausfall des Kühlsystems. Auch ein Austausch maroder Rohrleitungen war für die Energieanbieter nicht mehr verpflichtend, obwohl in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg von Störungen zu verzeichnen war, die auf Verschleiß und Ermüdung von Bauteilen zurückgingen. Wolfgang Renneberg, ehemaliger Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium, sprach damals von einem „Ausverkauf an Sicherheit“.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Atomlobby in Deutschland gut vernetzt ist. Zuletzt hatte im August 2010 ein energiepolitischer Appell für Aufsehen gesorgt. 40 Prominente und Spitzenmanager sprachen sich damals für eine Verlängerung der Laufzeiten aus. In dem Papier hieß es: „Ein vorzeitiger Ausstieg würde Kapital in Milliardenhöhe vernichten – zu Lasten der Umwelt, der Volkswirtschaft und der Menschen in unserem Land.“ Zu den Unterzeichnern gehörten Josef Ackermann, Oliver Bierhoff und Otto Schily.
Ferner sind die Drehtüreffekte zwischen Politik und Energiewirtschaft den lobbykritischen Verbänden ein Dorn im Auge. Wolfgang Clement, der nach seinem Ausstieg aus der aktiven Politik in den Aufsichtsrat des Energiekonzerns RWE wechselte, nahm sein Engagement für den Atomstrom zum Anlass, bei der Hessenwahl vor zwei Jahren von der Wahl der eigenen Partei abzuraten. Zuvor hatte Hermann Scheer für das Bundesland eine energiepolitische Wende angekündigt. In einem Kommentar für Die Welt forderte Clement damals, in Deutschland neue Kernkraftwerke zu bauen – und verwies unter anderem auf mögliche Kostensteigerungen für die Industrie, falls die Kernkraft durch grüne Energie ersetzt werde. Er sprach davon, dass eine Umstellung auf grüne Energiepolitik Arbeitsplätze vernichtet – ein Totschlagargument.
Aus versicherungspolitischer Sicht sorgt die niedrige Haftpflicht für Atomreaktoren für Ärger. Versichern müssen die Kernkraftbetreiber nur einen möglichen Schaden von 2,5 Milliarden Euro – im Falle eines Unglückes wird jedoch mit Schäden von bis zu 5500 Milliarden Euro gerechnet, wie eine Studie im Auftrag der Bundesregierung ergab. Andere Schätzungen gehen sogar von der doppelten Schadenssumme aus.
Doch nicht nur in Deutschland zeigten sich die Kontrollinstanzen bisher nachsichtig bei der Beurteilung von Reaktorrisiken. Auch ein Blick zu den europäischen Nachbarn kann überraschende Ergebnisse offenbaren.
Frankreich ist eine wahre Atomnation. Fast 80 Prozent des Energiebedarfs werden aus Kernkraft gewonnen, mehr als in Japan. Auch die Exportzahlen sind beachtlich. Und die Risiken: Im Jahr 2007 hatte sich in Dampierre, einer Ortschaft achtzig Kilometer entfernt von Paris, ein ähnlicher Vorfall wie im schwedischen Forsmark ereignet. Nach dem Ausfall des Reservenetzes konnte der betroffene Reaktor nur mit einem einzigen verbleibenden Diesel herunter gefahren werden. Dennoch wurde das Ereignis von der französischen Atombehörde mit INES 1 eingestuft, der kleinsten zur Verfügung stehenden Kategorie. Eine mögliche Kernschmelze in der Nähe von Paris: für die Energiebehörden kein Grund, von einer ernsten Gefahr zu sprechen.
Gleichsam konnte die fehlende Erdbebensicherheit vieler Kernreaktoren die französischen Behörden nicht beunruhigen. Bereits im Jahr 2002 wiesen Gegner der Kernenergie darauf hin, dass 34 Anlagen im Fall von Erdstößen nicht ausreichend geschützt seien, nachdem ein Erdbeben in Mittelitalien mehrere Dörfer zerstört hatte.
André-Claude Lacoste von der französischen Behörde für Atomsicherheit warf damals den Kernkraftgegnern vor, sie würden sich unter Ausnutzung des aktuellen Erdbebens einer seit langem zugänglichen Information bedienen, "um die Bürger unnötig zu beunruhigen".
Ähnlich wie Lacoste argumentiert der Journalist Jan Fleischhauer am Montag in einem Kommentar für SPIEGEL-Online: Die Katastrophe in Japan dürfe nicht dafür instrumentalisiert werden, in Deutschland die Atomenergie in Frage zu stellen.
Wie also weiter mit der Atomkraft?
Auf einen beschleunigten Atomausstieg deutet trotz des angekündigten Moratoriums zunächst nichts hin. Zwar äußerte Norbert Röttgen den Wunsch, die Kernkraftwerke nur noch bis zum Jahr 2021 oder 2026 laufen zu lassen – doch schon meldete sich Regierungssprecher Steffen Seibert zu Wort, der verkündete, dass es sich hierbei um eine „Einzelmeinung“ handele. Auch in der FDP mehren sich Stimmen, die davor warnen, die Laufzeitverlängerung nun voreilig in Frage zu stellen.
Doch wie sinnvoll wäre überhaupt ein deutscher Atomausstieg, wenn die europäischen Nachbarn nicht mitziehen? In Frankreich ist man beispielsweise keineswegs gewillt, die Kernenergie in Frage zu stellen. Sarkozy gilt als Atomfan, ein Ausstieg steht nicht zur Debatte. „Frankreich hat beim Bau und Betrieb seiner Einrichtungen stets größtmöglicher Sicherheit den Vorrang gegeben“, ließ die französische Regierung verlauten und sieht keinerlei Handlungsbedarf. Gegenüber der Zeitung Le Figaro verkündete Nicolas Sarkozy: „Ein Ausstieg kommt nicht in Frage.“
Auch Italien hält am Bau von vier neuen Reaktoren fest, ebenso wie die Niederlande weiterhin in Kernenergie investieren will. Laut eines Beitrages von MDR-Info schaut man in diesen Ländern verwundert auf die hitzig geführte deutsche Debatte: man kann die Aufregung nicht nachvollziehen. Ein deutscher Alleingang ist nicht ausreichend, verbindliche Richtlinien für Europa müssten formuliert werden. Auch Atom-Befürworter sollten sich zudem die Frage stellen, wie sich trotz der Kungelei zwischen Politik und Atombetreibern hohe Sicherheitsstandards durchsetzen lassen.
In Schweden, wo Niklas Sjulander zum Held wurde, schaut man ebenfalls verwundert auf Deutschland – dort sollen nach Abschaltung der alten Reaktoren neue Kraftwerke gebaut werden.
Mirko Wenig