Wie verbindlich sind sogenannte „unverbindliche Musterrechnungen“? Der englische Versicherer Clerical Medical hat bei einer Lebensversicherung hohe Gewinne versprochen, doch die Kunden machten Verluste. Nun wehrt sich der Anbieter gegen den Vorwurf, er habe ein Grundsatzurteil vor dem Bundesgerichtshof verhindern wollen.
Am 08. Februar sollte vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe ein Grundsatzurteil gesprochen werden, das die Assekuranz hätte erschüttern können. Im Mittelpunkt stand die Frage, inwiefern sich ein Versicherungskunde auf sogenannte „unverbindliche Musterrechnungen“ verlassen darf.
Streit um Lebensversicherung
Wegen einer solchen Musterrechnung hatte eine Frau den englischen Versicherer Clerical Medical verklagt. Sie wollte die Summe einfordern, die ihr aus einer fondsbasierten Lebensversicherung versprochen war – immerhin 254.000 Euro. Da sich der angeschlossene Fonds schlechter entwickelte als vermutet, machte die Frau hohe Verluste. Der Verkäufer hatte ihr jedoch im Beratungsgespräch zugesichert, dass sie kein Minus zu befürchten habe.
Bereits in erster Instanz war der Frau eine Schadensersatzsumme zugesprochen worden. Das Oberlandesgericht Dresden hatte befunden, dass eine fehlerhafte Beratung des Vermittlers vorliege und der Versicherer dafür haften müsse. Den Hauptantrag auf Zahlung der versprochenen Leistung hatte das Gericht zwar abgelehnt, jedoch dem Antrag auf Schadensersatz stattgegeben (Gerichtsurteil vom 22. September 2010, Az: 7 U 1358/09). Auch vor dem Bundesgerichtshof standen die Chancen der Klägerin nicht schlecht – doch bevor es überhaupt zur Verhandlung kam, sicherte ihr Clerical Medical eine hohe Schadensersatzsumme zu.
Verhinderte „Clerical Medical“ bewusst ein Grundsatzurteil?
Warum jedoch die Versicherungsgesellschaft wenige Tage vor dem Gerichtstermin ein Urteil in höchster Instanz verhinderte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Während mehrere Medien spekulierten, ein Grundsatzurteil zum Nachteil der Versicherungswirtschaft sollte unter allen Umständen vermieden werden, da eine Klageflut und hohe Schadensersatzansprüche die Folge wären – unter anderem hatte sich der Versicherungsbote derart positioniert – betont nun Clerical Medical die Singularität des verhandelten Falles.
Carsten Hennike, Leiter Recht der Clerical Medical Deutschland, erklärte: „Wir wollen diesen Fall nicht vor dem BGH austragen, denn dieser Fall ist von besonderen Umständen geprägt. Der Vermittler war nicht hinreichend ausgebildet. Es gab wohl eine eindeutige Falschberatung.“ Das prozessuale Anerkenntnis in diesem Fall stelle demnach kein Anerkenntnis eines Fehlverhaltens von Clerical Medical als Finanzdienstleister dar. Das Versicherungsunternehmen legt zudem Wert auf die Feststellung, dass aus diesem Einzelfall keinerlei Rückschlüsse auf andere noch anhängige Fälle gezogen werden können. Carsten Hennicke: „Es ist nicht unsere Strategie, dass wir uns in allen Fällen vergleichen. Clerical Medical ist selbst daran interessiert, die Rechtslage zu klären.”
BdV schlägt Gesetzesänderung vor
Wollte Clerical Medical also einen Urteilsspruch vor dem Bundesgerichtshof gerade deshalb verhindern, weil im verhandelten Fall kein Grundsatzurteil zu erwarten war? Weil dieser Fall nicht exemplarisch genug ist, um als Orientierung für ähnliche Rechtsstreitigkeiten zu gelten? Hier meldet der Bund der Versicherten Bedenken an – und verweist auf eine lang gepflegte Versicherungspraxis.
„Leider kommt es immer wieder vor, dass der BGH in einigen ihm vorliegenden Fällen kein Urteil sprechen kann, weil die Versicherer das im letzen Moment noch abwenden.“, sagt Axel Kleinlein, Vorstandsvorsitzender des Bundes der Versicherten. „Denn wenn sie erkennen, dass sie den Prozess wahrscheinlich verlieren, schlagen sie zur Vermeidung von Grundsatzurteilen in letzter Sekunde häufig noch einen Vergleich vor oder ziehen die Revision zurück.“ Dies sei gängige Rechtspraxis, denn das deutsche Gesetz sehe vor, dass auch die obersten Richter vor ihrer Entscheidung mit den Parteien noch ein Rechtsgespräch führen – um womöglich eine gütliche Einigung herbeizuführen.
Eine derartige Übereinkunft ist im Einzelfall durchaus sinnvoll, jedoch können Betroffene in ähnlich gelagerten Fällen von einem solchen Vergleich nicht profitieren. Denn ein verbindliches Grundsatzurteil des BGH, an dem sich auch die Amtsrichter in unterster Instanz zu orientieren haben, wird durch diese Rechtsprechung verhindert. Oftmals müssen die Betroffenen dann ebenfalls den Weg durch alle Instanzen gehen, was für die Kläger teuer und zeitaufwendig ist – viele Versicherungsnehmer geben vorzeitig auf.
Der Bund der Versicherten fordert daher eine Änderung der Praxis, durch Rückzug der Klage in letzter Sekunde höchstrichterliche Grundsatzentscheidungen abzuwehren. Axel Kleinlein: „Damit verhindern die Versicherer ihre Zahlungen in all den anderen, manchmal Hunderten von Fällen, die einen vergleichbaren Sachverhalt betreffen. So darf es nicht weitergehen. Der Gesetzgeber muss eine Änderung zum Schutz der Verbraucher vornehmen!“