Viele Bundesbürger zeigen sich angesichts der Euro-Krise zunehmend skeptisch über die möglichen Vorteile, die ihnen Europa bietet. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen vergleichenden Bevölkerungsumfrage in Deutschland, Frankreich und Polen durch die deutsche Bertelsmann Stiftung. Generell sagen danach nur noch etwas mehr als die Hälfte der Deutschen (52 Prozent), dass sich für sie aus der Mitgliedschaft in der EU persönlich eher Vorteile ergeben, ein knappes Drittel (32 Prozent) sieht darin eher Nachteile.
Insbesondere für die persönlichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder die Wahrung des sozialen Friedens sieht nur noch eine Minderheit der Deutschen Vorteile durch die EU. Sehr groß ist inzwischen vor allem die Euro-Skepsis. So sind zwei von drei Deutschen der Meinung, dass es ihnen persönlich besser ginge, wenn es anstelle des Euros noch die D-Mark gäbe. Im Vergleich äußern sich die Menschen in den beiden größten Nachbarländern Polen und Frankreich weniger europaskeptisch als die Deutschen.
Im Detail erklärte bei der Befragung mit 49 Prozent knapp die Hälfte der Deutschen, dass es ihnen persönlich etwas oder sogar viel besser ginge, wenn es die Europäische Union nicht gäbe. Nur 29 Prozent glauben, ohne EU ginge es ihnen schlechter. Mehr als die Hälfte (52 Prozent) sind der Ansicht, dass ihre persönlichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt ohne EU besser oder mindestens gleich gut wären; nur 28 Prozent denken, sie seien ohne EU-Mitgliedschaft eher schlechter. Generell gelinge der EU die richtige Mischung aus Marktwirtschaft und sozialer Verantwortung eher schlecht, meinen ebenfalls 50 Prozent. Und fast genauso viele (48 Prozent) sind der Meinung, dass der soziale Friede durch die EU-Mitgliedschaft eher unsicherer geworden sei. Besonders ausgeprägt ist die Euroskepsis der Deutschen dabei in den mittleren und höheren Altersgruppen sowie bei Menschen mit geringer Bildung und geringerem Einkommen.
Mehrheitlich positiv bewerten die Bundesbürger dagegen die Schutzfunktion der EU im internationalen Wettbewerb. So meinen 59 Prozent, Deutschland benötige die EU, um gegenüber den Großmächten und Schwellenländern bestehen zu können. Knapp 40 Prozent sagen, Deutschland brauche die EU dafür nicht. Außerdem ist die EU für fast 70 Prozent der Bundesbürger eher ein Vorbild für andere Regionen der Welt. Über die Perspektiven der zukünftigen Entwicklung gehen daher die Meinungen in der Bevölkerung stark auseinander. Mit 34 Prozent glaubt jeder Dritte, dass sich der europäische Einigungsprozess weiterentwickeln werde. Die Gruppe der Skeptiker ist gleich groß. So denken 35 Prozent, dass diese Entwicklung wieder zurück gedreht werden wird und 27 Prozent glauben, dass er auf dem derzeitigen Niveau erhalten bleiben wird.
Im Vergleich zur Bevölkerung in Deutschland bewerten Franzosen und Polen den Wert der EU in vielen Aspekten deutlich besser. In beiden Nachbarländern ist jeweils eine Mehrheit der Meinung, ihre persönliche Situation oder ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt seien ohne EU schlechter. Hier ist auch eine Mehrheit der Auffassung, die EU begünstige den sozialen Frieden. Polen und Franzosen erkennen dabei noch stärker als die Deutschen die Schutzfunktion der EU innerhalb des globalisierten Wettbewerbs. Signifikante Unterschiede zwischen den drei Ländern ergeben sich insbesondere beim Thema "europäische Identität". Auf die Frage "Können Sie sich etwas unter einer 'europäischen Lebensart' vorstellen?" sagen 66 Prozent der Polen "Ja", bei den Deutschen immerhin noch 44 Prozent, aber nur noch 26 Prozent der Franzosen. Eine weitgehend gleiche Sichtweise teilen die Menschen in allen drei Ländern in ihren Zukunftserwartungen an die EU. Hier halten sich die Zahlen der Optimisten und Pessimisten der europäischen Einigung in etwa die Waage.
Für Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, sind die Umfrageergebnisse ein Alarmzeichen für die Politik: "So schlecht haben die Menschen die EU und den Euro insbesondere in Deutschland noch nie beurteilt." Doch wäre es ein hilfloser Versuch, die Politik allein nur einfacher oder besser kommunizieren zu wollen. Für immer mehr Deutsche und andere Europäer verschwinden die EU und der Euro als Hoffnungsanker für wirtschaftlichen Wohlstand und Stabilität. "Gefordert ist eine politische Antwort, ein überzeugendes Konzept für eine vertiefte und damit bessere Union." Die politische Führung müsse jetzt das Modell für eine Wirtschafts-, Politik- und Sozial-Union in den "Vereinigten Staaten von Europa" präsentieren. Ein erster Schritt dahin müsse ein überzeugendes Konzept zur baldigen Überwindung der Euro- und Finanzkrise im Rahmen eines Währungs- und Fiskalpakts sein. Aart De Geus: "Die Europäer und insbesondere die Deutschen wollen als Ersatz für die untergangene D-Mark und den bewährten Nationalstaat der Nachkriegszeit einen Euro als Gewähr für Wohlstand und eine gefestigte EU als Anker für Stabilität und Gerechtigkeit. Nur das wird sie wirklich überzeugen."
Gleichzeitig müssten die Bürger aber auch aus ihrer Rolle als ohnmächtiger Zuschauer einer Entwicklung geholt werden, die sie nicht beeinflussen könnten. Aart De Geus: "Die europäische Integration hat den Bürger zumeist als Konsumenten betrachtet, nicht als Souverän. Psychologisch und politisch wird es entscheidend sein, sie dagegen in die Rolle des Entscheiders zu bringen. Die Politik muss einerseits ein neues Konzept vorstellen und die Bürger müssen sich unter den verschiedenen Optionen frei entscheiden können. Erst dann werden sie bereit sein, die Konsequenzen und die erforderliche Solidarität im Rahmen einer vertieften Gemeinschaft aktiv zu tragen. Für eine Diskussion darüber gibt es keinen besseren Zeitpunkt als die jetzige Krise."
Die repräsentative Bevölkerungsumfrage wurde im Auftrag der Bertelsmann Stiftung im Juli 2012 unter jeweils 1.000 Teilnehmern in Deutschland, Polen und Frankreich vom Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid durchgeführt. Sie wurde im Hinblick auf eine internationale Konferenz von Intellektuellen, Bürgern und Experten durchgeführt, die am 18. September unter dem Titel "Der Wert Europas" im Auswärtigen Amt in Berlin stattfinden wird.