Ein Pflegenotstand in bisher nicht gekanntem Ausmaß prognostiziert die Bertelsmann Stiftung in einer am Montag veröffentlichten Studie. Demnach würden im Jahr 2030 rund 500.000 Pflegekräfte fehlen, sofern nicht grundlegende Reformen angeschoben werden. Die Wissenschaftler gehen allerdings von besonders pessimistischen Schätzungen aus.
Eine halbe Million Pflegekräfte werden im Jahr 2030 fehlen, um den steigeden Pflegebedarf zu decken. Mit dieser wenig optimistischen Prognose trat gestern die Bertelsmann Stiftung an die Öffentlichkeit. Hauptursache für den Mangel an Pflegepersonal sei die kräftig wachsende Zahl an Pflegebedürftigen. Sie steigt bis 2030 den Berechnungen zufolge von 2,3 Millionen auf 4,3 Millionen. Bis zum Jahr 2050 soll sich die Zahl der Pflegefälle sogar verdoppeln – auf 4,5 Millionen Betroffene. Hier fordert die fortschreitende Alterung der Gesellschaft ihren Tribut.
Allerdings stellt sich die Situation für die einzelnen Städte und Bundesländer sehr unterschiedlich dar. Während im Bundesschnitt die Pflegebedürftigkeit um 47 Prozent steige, sei vor allem in einigen Regionen der Neuen Bundesländern eine Explosion der Pflegezahlen zu befürchten, weil dort bereits zum jetzigen Zeitpunkt viele ältere Menschen leben. In Mecklenburg-Vorpommern werde die Zahl der Pflegefälle bis zum Jahr 2030 um 56 Prozent ansteigen, in Brandenburg sogar um 72 Prozent. Auch in Bayern (54 Prozent), Schleswig-Holstein (54 Prozent) und Baden-Württemberg (54 Prozent) seien erhebliche Steigerungsraten zu erwarten.
Bertelsmann Stiftung fordert schnelles Handeln von Politik und Kommunen
„Der drohende Pflegenotstand ist längst bekannt; die Reaktionen reichen jedoch von schlichter Panikmache bis hin zur Vogel-Strauß-Haltung“, sagte Brigitte Mohn, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, bei der Vorstellung des Pflegereportes in Berlin. „Wir wollen weder das eine noch das andere, sondern mit dem Pflegereport Bevölkerung und Politik auf die vor uns liegende Wegstrecke für eine nachhaltige und sozial gerechte Bewältigung der künftigen Pflegebedarfe vorbereiten."
Zudem betonte Mohn, zukünftig werden die notwendigen Leistungen in der Pflege von professionellen Kräften allein nicht zu erbringen sein. Sie fordert deshalb, bei der Verwirklichung von Pflegekonzepten auf die Vernetzung aller verantwortlichen Personen und Institutionen zu achten, von der Stadtplanung über Wohnungsbaugesellschaften, Pflegekassen bis hin zu Leistungsanbietern. Vor diesem Hintergrund zeigt sich auch ein starkes Eigeninteresse der Bertelsmann Stiftung, die selbst Länder und Kommunen bei der Entwicklung derartiger Netzwerke berät.
Zwar hatten zuvor bereits vergleichbare Studien einen Mangel an Pflegekräften prognostiziert, aber nicht in dem alarmierenden Ausmaß. Das Statistische Bundesamt (Destatis) prognostiziert beispielsweise 110.000 fehlende Vollzeitstellen für das Jahr 2025.
Hohe Belastung bei relativ schlechter Bezahlung
Ein Grund für den Mangel an Pflegepersonal ist die relativ schlechte Bezahlung des Berufes bei zugleich hoher körperlicher und zeitlicher Belastung, so dass sich viele Jugendliche gegen einen Pflegeberuf entscheiden. Laut einer Erhebung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung verdient ein Altenpfleger durchschnittlich 2.148 Euro im Monat (Stundenlohn: 14,13 Euro), ein/e Altenpflegehelfer/in sogar nur 1.877 Euro (Std.: 12,35 Euro) und ein/e Krankenpflegehelfer/in 1.828 Euro (Std.: 12,03 Euro). Die Aufstiegschancen in diesen Berufen sind vergleichsweise schlecht.
Trotz des niedrigen Lohns müssen über 70 Prozent des Pflegepersonals im Schichtdienst arbeiten und haben auch an Sonn- und Feiertagen nicht frei. Hinzu tritt die schwere körperliche Belastung beim Heben, Umbetten und Aufrichten der Patienten. Im Rahmen des Mikrozensus gaben 16 Prozent der in der Pflege Beschäftigten an, dass sie in den letzten zwölf Monaten arbeitsbedingte Gesundheitsprobleme hatten. Hiermit liegt der Anteil der Betroffenen mehr als doppelt so hoch wie in anderen Gesundheitsberufen und der Gesamtgesellschaft.