Millionen ältere Menschen schlucken zu viele Pillen! Laut dem aktuellen Arzneimittelreport der Barmer GEK nimmt ein Drittel der über 65-jährigen mehr als fünf Arzneimittel täglich zu sich. Der Pillencocktail kann in der Summe eher schaden als nützen und sogar das Leben der Senioren gefährden. Barmer-Vorstand Rolf-Ulrich Schlenker fordert deshalb einen besseren elektronischen Abgleich der Arzneiverschreibungen.
Eine Pille gegen Schlafstörungen, eine gegen die Vergesslichkeit, eine gegen Gelenkbeschwerden: Viele Senioren nehmen mehrere Medikamente gleichzeitig ein. Das als Polypharmazie bekannte Phänomen zeigt sich gerade bei älteren Menschen in einem Ausmaß, welches der Gesundheit eher schadet als nützt. Demnach würde ein Drittel aller Versicherten über 65 Jahre mehr als fünf Arzneimittelwirkstoffe täglich zu sich nehmen, berichtet die Gesundheitskasse Barmer GEK anhand der Auswertung von 2,1 Millionen Patientendaten.
“Drei bis vier Wirkstoffe gleichzeitig kann man gut aushalten, alles andere wird problematisch“, sagt der Bremer Arzneimittelexperte Gerd Glaeske, der die Untersuchung im Rahmen des Arzneimittelreports 2013 leitete. Bei der Einnahme vieler Medikamente würden die Wechselwirkungen steigen, etwa weil bestimmte Herzmedikamente nicht mit Abführmitteln verträglich sind. Zudem steigt das Risiko, dass ältere Menschen die Einnahme von Pillen vergessen – auch dies kann lebensgefährliche Folgen haben.
Bei Hochbetagten schluckt jeder zweite Patient Pillencocktails
Besonders viele Pillen nehmen hochbetagte Patienten zu sich. In der Altersgruppe zwischen 80 und 94 Jahren schluckt jeder Zweite täglich mehr als fünf Arzneimittelwirkstoffe. Im Durchschnitt sind es sogar mehr als 7 Wirkstoffe, die jeder Versicherte der Generation Ü65 pro Tag zu sich nimmt.
Vor allem der Einsatz von sogenannten Benzodiazepinen wird vom Autorenteam des Arzneimittelreports kritisch bewertet. Dabei handelt es sich um Schlaf- und Beruhigungsmittel, die bevorzugt an Demenzpatienten verabreicht werden – aber auch den Verlust von kognitiven Fähigkeiten nach sich ziehen. Aufmerksamkeit, Erinnerungsvermögen und Lernfähigkeit können leiden. Diese Mittel wurden 2010 an 23.500 Versicherte der Barmer GEK verabreicht, zu 70 Prozent an Frauen.
“Ohne Zweifel sind viele ältere Menschen von Benzodiazepin-haltigen Arzneimitteln abhängig. Sie bekommen sie vermutlich oft nur, um quälende Entzugssymptome zu vermeiden“, argumentiert Gesundheitsexperte Glaeske. Denkbar sei jedoch, dass sich nach langen Jahren der Abhängigkeit eher eine Demenz entwickle als bei Menschen, die deutlich seltener solche Mittel eingenommen haben. Das Medikament begünstigt also im schlimmsten Fall die Herausbildung einer Demenz.
Glaeske vermutet, dass mit der Verabreichung schwerer Beruhigungsmittel auf den Pflegenotstand in den Heimen reagiert werde. Auffällig sei, dass bis zu 50 Prozent aller Dementen in der Pflegestufe III, also bevorzugt Heimbewohner, diese starken Tabletten verabreicht bekommen. „Hier wird nicht vorhandenes Personal durch Medikamente ersetzt“, so der Wissenschaftler.
BARMER GEK-Vorstand fordert elektronischen Arzneimittelabgleich
Der Schwerpunkt des aktuellen Barmer-Arzneimittelreports hat auch ein handfestes politisches Ziel: er soll die Akzeptanz der zentralen Speicherung von Gesundheitsdaten erhöhen. „Gerade die Ergebnisse zur Polypharmazie zeigen, dass wir dringend mehr Vernetzung und Transparenz im Gesundheitswesen brauchen“, sagt Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Barmer GEK. „Hätten wir die elektronische Gesundheitskarte, das elektronische Rezept und die elektronische Patientenakte, hätten behandelnde Ärzte und auch Apotheker einen viel besseren Überblick über die Arzneimitteltherapie.“
Wegen datenschutzrechtlicher Bedenken und technischer Probleme konnte sich die elektronische Gesundheitskarte bisher nicht wie gewünscht durchsetzen. Zu groß ist die Angst, sensible Daten könnten in die falschen Hände gelangen und öffentlich werden. Die Krankenkassen versprechen sich jedoch Einsparungen in Millionenhöhe, etwa weil bei einem besseren Datenabgleich weniger Rezeptverschreibungen zu erwarten sind.
Die Patienten können auch selbst aktiv werden, um etwas gegen die Übermedikation zu tun. Gesundheitsexperte Glaeske empfiehlt, mit einem Arzt oder Apotheker die Liste aller eingenommenen Tabletten durchzugehen und zu besprechen, welche Präparate abgesetzt werden können.