Rentnern in Deutschland droht der soziale „Wohn-Abstieg“: Der Wohnungsmarkt ist auf die steigende Zahl älterer Menschen nicht vorbereitet. Es fehlt an barrierearmen Wohnungen. Ebenso an kleinen Wohnflächen. Darüber hinaus bietet ein seniorengerechter Wohnungsmarkt die Chance, die enorm wachsenden Kosten im Bereich der Pflege wirkungsvoll zu reduzieren. Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Studie „Wohnen 65plus“, die das Pestel-Institut in Berlin vorgestellt hat.
Die Wissenschaftler aus Hannover geben darin erstmals auf der Grundlage der neuen Zensus-Zahlen eine Prognose für die Bevölkerungsentwicklung. Demnach werden im Jahr 2035 in Deutschland nahezu 24 Millionen Menschen älter als 65 Jahre sein – über 40 Prozent mehr als heute. Damit sei bundesweit ein enorm wachsender Bedarf an Senioren-Wohnungen verbunden.
„Mit der starken Zunahme Älterer wird auch die Zahl der Pflegebedürftigen rasant wachsen“, sagt Pestel-Studienleiter Matthias Günther. Bereits 2035 werde es 3,5 Millionen Pflegebedürftige geben. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung werde damit von derzeit rund 2,9 Prozent auf dann 4,5 Prozent steigen. Für das Jahr 2050 erwarten die Wissenschaftler sogar mehr als vier Millionen Pflegebedürftige. Jeder Achtzehnte, der in Deutschland lebt, wird dann auf Pflege angewiesen sein.
Die Ausgaben im Pflegebereich werden explodieren: 2035 erwartet das Pestel-Institut knapp 33 Milliarden Euro an Kosten bei der Pflegeversicherung – ein Plus von 50 Prozent gegenüber heute. Die Hilfe zur Pflege als staatliche Sozialleitung werde dann sogar um das Fünffache auf 18 Milliarden Euro steigen. Insgesamt wird die Pflege im Jahr 2035 rund 25,4 Milliarden Euro mehr kosten als heute, rechnen die Wissenschaftler vor.
Ein Teil dieser Ausgaben ließe sich vermeiden. Voraussetzung sei allerdings ein seniorengerechter Wohnungsmarkt. Entscheidendes Kriterium dabei: Barrierefreie Wohnungen, die eine ambulante Pflege zu Hause ermöglichen.
„Wer heute als älterer Mensch auf Pflege angewiesen ist und keine altersgerecht ausgestattete Wohnung hat, ist gezwungen, schon allein deshalb ins Pflegeheim zu gehen, weil eine ambulante Betreuung in den eigenen vier Wänden nicht mehr möglich ist. Wenn sich nichts ändert, wird das künftig die Regel sein“, sagt Matthias Günther. Für die Pflegekosten sei dies „fatal“.
Denn für die Mehrkosten der stationären gegenüber der ambulanten Pflege kann, so das Pestel-Institut, von rund 7.200 Euro pro Jahr ausgegangen werden. Dagegen koste der Umbau zur barrierearmen Wohnung durchschnittlich 15.600 Euro. „Rein wirtschaftlich betrachtet, lohnt es sich also, in das altersgerechte Bauen und Sanieren zu investieren“, sagt Matthias Günther. Schon mit den Extrakosten für die Heimpflege lasse sich eine seniorengerechte Wohnungssanierung in gut zwei Jahren finanzieren.
Um wirkungsvoll gegen die „graue Wohnungsnot“ in Deutschland vorzugehen, ist die Schaffung von rund 2,5 Millionen zusätzlichen Senioren-Wohnungen in den kommenden Jahren notwendig, so das Pestel-Institut. Die Gesamtinvestition dafür belaufe sich auf 39 Milliarden Euro. – Zahlen, die auch das Bundesbauministerium in einer Studie vertritt. Anders als das Fachressort von Bundesminister Peter Ramsauer (CSU) nennt das Pestel-Insitut auch die notwendige Förderhöhe für das altersgerechte Bauen und Sanieren: 540 Millionen Euro jährlich in den kommenden acht Jahren. Studienleiter Matthias Günther erläutert: „Ein Förder-Euro zieht etwa acht Euro an privaten Investitionsmitteln nach sich. Für eine 39- Milliarden-Euro-Investition muss der Staat also eine 4,33-Milliarden-Euro-Förderung schaffen – in diesem Fall verteilt auf acht Jahre.“
Der Wohnungsmarkt für Senioren dürfe nicht länger vernachlässigt werden: „Es wird höchste Zeit, das altersgerechte Bauen und Sanieren stärker zu fördern“, sagt der Leiter der Studie „Wohnen 65plus“, Matthias Günther. Die Politik müsse dabei – neben KfW-Krediten – verstärkt auch auf direkte Bau-Zuschüsse und die steuerliche Abschreibung setzen. „Denn ein Kredit mit zwanzig Jahren Laufzeit stößt bei einem Siebzigjährigen in der Regel nur auf wenig Interesse“, so Günther.
Der Pestel-Studienleiter spricht sich für eine gezielte „Senioren-Wohnungsbau-Förderung“ aus. Ältere Menschen lebten oft in zu großen Wohnungen. Es sei notwendig, ihnen kleinere und damit bezahlbare Wohnungen anzubieten. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden Altersarmut. Bereits heute seien rund drei Prozent der Senioren auf Grundsicherung im Alter angewiesen. Ihre Zahl werde in den kommenden zwanzig Jahren auf mehr als 25 Prozent steigen.
Die Studie zum Senioren-Wohnen hat das Verbändebündnis „Wohnen 65plus“ in Auftrag gegeben. Dazu gehören: der Deutsche Mieterbund (DMB), der Sozialverband VdK Deutschland, der Bund Deutscher Baumeister, Architekten und Ingenieure (BDB), die IG Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), die Deutsche Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau (DGfM) und der Bundesverband Deutscher Baustoff-Fachhandel (BDB).
Das Verbändebündnis wirft den Parteien vor, das drängende Thema „Wohnen im Alter“ nicht mit der erforderlichen Aufmerksamkeit zu beachten. Das treffe insbesondere auf die gezielte Vermeidung zukünftiger Kostenbelastungen zu. Bereits in den zurückliegenden vier Regierungsjahren der schwarz-gelben Koalition habe es „so gut wie keine Rolle gespielt“. Mehr noch: „Die jetzige Bundesregierung hat sich gewissermaßen vom altersgerechten Bauen und Sanieren verabschiedet und den KfW-Fördertopf von ursprünglich 100 Millionen Euro jährlich auf Null gesetzt. Die neue Bundesregierung wird sich daran messen lassen müssen, ob sie es ernst meint und 540 Millionen Euro für das Senioren-Wohnen bereitstellt“, so das Verbändebündnis „Wohnen 65plus“.
Das Bündnis erwartet von den Parteien „entschlossenes Handeln und weniger Taktieren“. Eine spezifische Motivation für die Zielgruppen fehle völlig: „Um freie Investoren zu gewinnen, sind Abschreibungsmöglichkeiten notwendig. Für betroffene ältere Menschen ist eine Zuschussvariante attraktiv“, so das Verbändebündnis „Wohnen 65plus“. Alles andere sei „Wortklauberei und wird dem Stellenwert nicht gerecht, den das Thema angesichts der Faktenlage haben sollte“.