Laut den meisten BU-Policen muss eine Berufsunfähigkeit von mindestens 50 Prozent vorliegen, damit der Versicherer zahlt. Um dies zu beurteilen, braucht es freilich professionelle und demnach „gerichtsfeste“ Gutachten –diese können durch den Versicherer oder den Versicherungsnehmer, im Falle eines Rechtsstreits aber auch durch ein Gericht in Auftrag gegeben sein. Dass aber selbst Gerichtsgutachten nicht „gerichtsfest“ sind, wenn sie Privatgutachten übergehen, zeigte nun ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH). Das Urteil stellt eine Aufwertung privater Sachverständigengutachten in der BU-Versicherung dar.
Um was ging es in den Gerichtsprozess, über den der Bundesgerichtshof mit Datum vom 26.02.2020 – in Revision – urteilen musste (Az. IV ZR 220/19)? Geklagt vor Gericht hatte ein Mann, da ihm Leistungen verwehrt wurden aus seiner BU-Versicherung. Der Mann war bis 2010 Marktleiter zweier Supermarktfilialen. Durch eine psychische Erkrankung aber – mittlerweile Hauptgrund der Berufsunfähigkeit – konnte er seiner Arbeit nicht mehr nachgehen. Die Berufsunfähigkeit wurde auch medizinisch bestätigt.
Tatsächlich erhielt der Mann daraufhin zunächst, ab Oktober 2010, eine regelmäßige Rente aufgrund seiner BU-Police. Auch galt er nun als beitragsfrei gestellt. Jedoch: Ab 2012 leitete der BU-Versicherer mehrere Nachprüfungsverfahren ein. Ein psychiatrisches Gutachten bescheinigte im April 2014 dem ehemaligen Marktleiter dann auch, nun wieder berufsfähig zu sein. Würde der Grad der Berufsunfähigkeit doch unterhalb der notwendigen 50 Prozent für den Leistungsbezug liegen. Dies war Grund für den Versicherer, weitere Zahlungen der BU-Rente einzustellen. Auch verlange der Versicherer nun, dass der Mann wieder regelmäßig Beiträge für seine BU-Police zahlt.
Zweites Privatgutachten widersprach dem Versicherer
Freilich: Der ehemalige Marktleiter wollte dies nicht hinnehmen und gab nun seinerseits, privat, ein Gutachten in Auftrag. Die mit dem Gutachten betraute Sachverständige machte ihre Aufgabe besonders gründlich: differenziert schlüsselte sie Fähigkeiten auf, die der Betroffene im zuletzt ausgeübten Beruf benötigte. Für jede Fähigkeit wurde zudem eingeschätzt, wie stark die prozentuale Einschränkung ist.
In der Summe kam die Gutachterin zu dem Schluss: Der Mann sei noch immer berufsunfähig. Denn ganz maßgeblich für dessen Tätigkeit als Marktleiter sei die Fähigkeit, eigenverantwortlich unternehmerische Entscheidungen zu treffen sowie das Personal zu führen und anzuleiten. Für diese Bereiche liege aber eine deutlich über 50-prozentige Einschränkung des Klägers vor. Deswegen sei der Mann auch nicht in der Lage, seine Leitungsfunktion wieder auszuüben.
Landgericht urteilte aufgrund eines eigenen Gutachtens
Unter Berufung auf das private Gutachten forderte der Mann nun wieder seine BU-Rente sowie die Freistellung von den Beiträgen – und verklagte das Versicherungsunternehmen, als dieses die Leistung verweigerte. In erster Instanz aber hatte der Marktleiter keinen Erfolg, denn das Landgericht (LG) Halle wies mit Urteil vom 19.04.2018 die Klage ab (Az. 5 O 144/15). Hierfür berief sich das Landgericht nun auf ein eigenes Gerichtsgutachten. Dieses bescheinigte dem klagenden Versicherungsnehmer nun – in Anschluss an das Gutachten des Versicherers – wieder die Berufsfähigkeit.
Das Gericht meinte also, durch die eigenen Sachverständigen ein deutliches Urteil fällen zu können. Der betroffene Marktleiter freilich wollte das Urteil nicht hinnehmen – und ging nun in Berufung vor dem Oberlandesgericht (OLG) Naumburg (Az. 4 U 55/18). Und hier, in nächster Instanz, neigte sich Justitias Waage ganz zugunsten des Marktleiters.
OLG wiederholte den selbst beanstandeten Fehler
Berufungsgericht entschied: Das Landgericht hätte das Privatgutachten einbeziehen müssen
Denn das Landgericht hatte einen Fehler begangen: Es berief sich auf das Gutachten des eigenen Sachverständigen, ohne auf das detaillierte Gutachten des Versicherungsnehmers einzugehen. Dies bewertete das Oberlandesgericht als "Gehörsverletzung" und "Fehler bei der Beweiswürdigung". Auf Berufung des klagenden Versicherungsnehmers kassierte das Oberlandesgericht Naumburg das Urteil aus erster Instanz demnach wieder und sprach nun dem Marktleiter auch Leistungen der BU-Rente zu.
Auch das Oberlandesgericht berief sich für sein Urteil auf ein eigenes Gerichtsgutachten und war, aufgrund des eigenen Sachverständigen, deutlich von seinem Urteil überzeugt – eine Revision des Versicherers wurde zunächst nicht zugelassen. Erst über eine Nichtzulassungsbeschwerde gemäß Paragraph 544 Zivilprozessordnung erreichte das beklagte Versicherungsunternehmen, überhaupt ein Revisionsverfahren in Gang zu setzen.
Erfolg des Versicherers in Revision: Ausgang des Verfahrens wieder offen
Und nun neigte sich Justitias Waage zwar nicht zugunsten des verklagten Versicherungsunternehmens, aber zumindest zugunsten eines offenen Ausgangs. Denn in Revision wurde das Berufungsurteil des Oberlandesgerichts aufgehoben und der Fall, zur neuen Verhandlung und Entscheidung, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Und dies ist darin begründet, dass das Oberlandesgericht einen Fehler des Landgerichts wiederholte.
Denn auch das Oberlandesgericht hatte sich auf den eigenen Sachverständigen berufen und hierbei nun allerdings jenes Privatgutachten in seinen Urteilsgründen missachtet, das die Versicherung in Auftrag gab. Bereits vorliegende Gutachten dürfen allerdings nicht übergangen werden. Im Gegenteil!
Widersprechende Gutachten erfordern besondere Sorgfalt
Denn der Bundesgerichtshof stellt deutlich heraus: Legt eine Partei ein medizinisches Gutachten vor, das im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen steht, so sei vom Tatrichter sogar besondere Sorgfalt gefordert. Der Tatrichter dürfe in einem solchen Fall - wie auch im Fall sich widersprechender Gutachten zweier gerichtlich bestellter Sachverständiger - den Streit der Sachverständigen nicht einfach dadurch entscheiden, dass er „ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt“.
Stattdessen müssen Einwände der Privatgutachten oder sich widersprechender Gutachten ernst genommen werden – ihnen ist gezielt nachzugehen. Der zugrunde liegende Sachverhalt der Privatgutachten ist weiter aufzuklären, bevor geurteilt wird.
Gegebenenfalls: Gegenüberstellung der Gutachter
Mehr noch: Gegebenenfalls muss das Gericht eigene Sachverständige unter Gegenüberstellung mit den Privatgutachtern anhören. Erst so ist zu entscheiden, wieweit das Gericht dann tatsächlich den Ausführungen des eigenen Sachverständigen folgen will oder wieweit es den privaten Gutachtern folgt. Das Urteil kann auf den Seiten des Bundesgerichtshofs nachgelesen werden.