Corona fraß auch am Risikopuffer der Lebensversicherer. Da Eigenmittel sinken, greifen immer mehr Versicherer zu Volatilitätsanpassung und Übergangsmaßnahmen. 17 Versicherer würden ohne die Maßnahmen die Anforderungen von Solvency II nicht erfüllen.
Damit Versicherer ihre Verpflichtungen gegenüber den Kunden dauerhaft erfüllen können, schreibt das Solvency-Aufsichtsregime vor, auch für wirtschaftlich schwere Zeiten genügend Eigenmittel als Polster vorzuhalten. Haben Leben-Policen doch in der Regel eine Laufzeit von mehreren Jahrzehnten. Wichtigste Kennzahl dieser Anforderung ist die Solvenzquote (SCR-Quote). Für diese Quote werden die Eigenmittel eines Versicherers ins Verhältnis gesetzt zu den Verpflichtungen gegenüber den Leistungsempfängern.
Eine gesetzliche Norm für die Krisenfestigkeit
SCR-Quoten sind aufsichtsrechtlich relevante Kennzahlen: Sie entscheiden darüber, in welchem Maße die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) in den Geschäftsbetrieb der Versicherungen eingreifen darf. Für SCR-Quoten wird allerdings nicht das Verhältnis der Eigenmittel zu Verpflichtungen im „Normalbetrieb“ ermittelt. Stattdessen wird ein Extremereignis mathematisch simuliert, das einmal alle 200 Jahre auftritt. Die Wahrscheinlichkeit für dieses Ereignis beträgt also 0,5 Prozent. Die Berechnung der Solvenzquoten ist komplex und orientiert sich an dem Risikoprofil eines Unternehmens. Verwendet wird entweder ein Standardmodell oder ein internes Modell.
Wer im Ergebnis eine Solvenzquote von mindestens 100 Prozent vorweisen kann, der hat genügend Eigenkapital, um eine 200-Jahres-Krise zu überstehen (Versicherungsbote berichtete). Gerät ein Versicherer unter 100 Prozent, erfüllt er die aufsichtsrechtlichen Anforderungen nicht. Deutsche Versicherer sind seit 2016 in der Beweispflicht: mit Deadline bis zum 22. Mai 2017 mussten Unternehmen vor vier Jahren erstmals die Berichte zur Solvabilität und Finanzlage (SFCR) bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht vorlegen – und von da ab jährlich.
Zehn Unternehmen weichen von Standardformel ab
Berechnungen der Solvenzquote müssen so erfolgen, dass idealerweise alle quantifizierbaren Risiken, denen ein Versicherungsunternehmen ausgesetzt ist, berücksichtigt werden. Deswegen dürfen interne Modelle erst dann verwendet werden, wenn die BaFin sie geprüft und genehmigt hat. Interne Modelle sind derzeit aber in der Minderheit: Insgesamt 61 Lebensversicherer haben bei der Berechnung ihrer Solvenzquoten 2020 die Standardformel verwendet.
Sechs Unternehmen verwendeten hingegen in 2020 ein vollständiges internes Modell – die Allianz, die Axa, die Cosmos, die Deutsche Ärzte sowie die Dialog. Vier Unternehmen nutzten ein partielles internes Modell – HDI, die Neue Leben, die PB sowie die Targo. Das geht aus dem neuen MAP-Report aus dem Hause Franke und Bornberg mit der Nummer 919 hervor.
Maßnahmen erleichtern „Ankunft“ in Solvency II
Jedoch: Beim Übergang waltet Milde! Denn mehrere Paragrafen des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) erleichtern den Versicherern noch bis Ende 2031, auf eine Solvenzquote in Höhe von 100 Prozent zu kommen (und damit die aufsichtsrechtliche Hürde zu überwinden):
- So ermöglicht Paragraf 82 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) die Volatilitätsanpassung: Anleihen dürfen höher bewertet werden, wenn sie nur vorübergehend an Wert verlieren – etwa, weil sie zu einem festen Wert später wieder verkauft werden.
- Paragraf 351 VAG ermöglicht eine Maßnahme für risikofreie Zinssätze: Versicherungsunternehmen dürfen eine vorübergehende Anpassung der maßgeblichen risikofreien Zinskurve vornehmen (der Anteil, für den dies möglich ist, sinkt schrittweise: In 2016 startete er mit 100 Prozent und liegt in 2032 bei null Prozent).
- Und Paragraf 352 VAG ermöglicht die Übergangsmaßnahme für versicherungstechnische Rückstellungen auf der Passivseite des Unternehmens: Die BaFin kann Versicherern die Genehmigung erteilen, ihre Rückstellungen nicht sofort auf Grundlage von Solvency II zu bewerten, sondern erst nach und nach mit mehrjähriger Verzögerung.
Nur acht Unternehmen verzichten auf Übergangshilfen
Betrachtet man Volatilitätsanpassung und Übergangsmaßnahmen als überbrückende Hilfsmaßnahmen, könnte man eigentlich erwarten, dass sie immer weniger genutzt werden. Andererseits liegt es natürlich im Interesse der Versicherer, möglichst gute Quoten vorzuweisen – zumal 2032 noch in Ferne liegt. Fakt jedenfalls ist: Statt weniger werden die Übergangsmaßnahmen immer mehr genutzt. Auch das zeigt die neue Ausgabe des MAP-Report mit der Nummer 919: Nur noch acht von 81 Unternehmen kommen in 2020 ganz ohne Übergangsmaßnahmen aus, so dass Nettoquoten (ohne Übergangshilfen) den Bruttoquoten entsprechen:
- Alte Leipziger (SCR-Quote von 300,0 Prozent)
- Delta Direkt (SCR-Quote von 490,1 Prozent)
- Deutsche (SCR-Quote von 547,5 Prozent)
- Dortmunder (SCR-Quote von 299,6 Prozent)
- Ergo Vorsorge (SCR-Quote von 576,6 Prozent)
- Europa (SCR-Quote von 807,6 Prozent)
- Hannoversche (SCR-Quote von 478,4 Prozent)
- InterRisk (SCR-Quote von 283,5 Prozent)
Allianz wendet erstmals Übergangsmaßnahmen an
56 Unternehmen wendeten sowohl die Volatilitätsanpassung gemäß Paragraf 82 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) als auch die Übergangsmaßnahme für versicherungstechnische Rückstellungen gemäß Paragraf 352 VAG an. „Neu“ in der Riege dieser Versicherer sind die R+V- Töchter R+V a.G., Condor und R+V AG. Neu unter diesen Versicherern ist ebenfalls die Allianz – und damit Deutschlands Marktführer. Neu ist ebenso die Frankfurter, die Ideal sowie die myLife.
- Die Allianz hatte zuvor in 2019 nur die Volatilitätsanpassung verwendet, nimmt in 2020 nun noch die Maßnahme für versicherungstechnische Rückstellungen hinzu. In 2020 hat sie eine Nettoquote von 156,6 Prozent. Die Volatilitätsanpassung verbessert die Quote auf 245,8 Prozent. Die Maßnahme für versicherungstechnische Rückstellungen hebt die Quote dann nochmals – auf 355,4 Prozent.
- Die Frankfurter, die Ideal, die myLife sowie die R+V a.G. hatten zuvor nur die Maßnahme für versicherungstechnische Rückstellungen genutzt – nun kam noch die Volatilitätsanpassung hinzu:
- So wächst durch die Übergangshilfen die Quote der Frankfurter von 37,9 Prozent (Basis- oder Nettoquote) auf 230,6 Prozent (Nettoquote + Maßnahme für versicherungstechnische Rückstellungen) auf 249,8 Prozent (Nettoquote + VA u. Ü),
- die Quote der Ideal wächst von 177,7 Prozent (Nettoquote) auf 393,4 Prozent (Nettoquote + Ü) auf 442,5 Prozent (Nettoquote + Ü + VA),
- die Quote von myLife wächst von 141,1 Prozent (Nettoquote) auf 231,3 Prozent (Nettoquote + Ü) auf 246,9 Prozent (Nettoquote + Ü + VA)
- und die Quote der R+V a.G. wächst von 134,7 Prozent (Nettoquote) auf 231,3 Prozent (Nettoquote + Ü) auf 555,3 Prozent (Nettoquote + Ü + VA).
- Zuvor keine Maßnahme und nun alle beide Maßnahmen nutzten die R+V-Töchter Condor und R+V AG. Die Condor kann dadurch ihre SCR-Quote von 234,1 Prozent (Nettoquote) auf sagenhafte 608,9 Prozent heben. Und die R+V AG hebt ihre SCR-Quote von 155,3 Prozent auf 553,4 Prozent.
- Die Credit Life griff erstmals auf Volatilitätsanpassung und die Maßnahme für risikofreie Zinssätze zurück: Die Übergangshilfen verbessern die Quote von 157,2 Prozent (Nettoquote) auf 295,7 Prozent (Nettoquote + Maßnahme für risikofreie Zinssätze) auf 379,1 Prozent (Nettoquote + Maßnahme für risikofreie Zinssätze + VA).
- Die WWK nutzte beide Maßnahmen schon zuvor. Sie hätte ohne die Maßnahmen eine Quote von 152,1 Prozent, darf nun der BaFin aber 289,4 Prozent melden.
Maßnahme für risikofreie Zinssätze kaum genutzt
Nur zwei der 81 Lebensversicherer nutzen die Maßnahme für risikofreie Zinssätze gemäß Paragraf 351 VAG – in beiden Fällen kombiniert mit der Volatilitätsanpassung, jedoch ohne Übergangsmaßnahme für versicherungstechnische Rückstellungen: Die WWK sowie die Credit Life.
17 Versicherer erfüllen ohne Hilfen Anforderungen nicht
Volatilitätsanpassung und Übergangsmaßnahmen führen dazu, dass aufsichtsrechtlich relevante Brutto-Quoten, die derzeit der BaFin gemeldet werden, sich stark von der eigentlichen Basis- oder auch Nettoquote unterscheiden. Denn die Basis- oder auch Nettoquote gibt an, wie hoch die Eigenmittelausstattung der Unternehmen ohne Übergangshilfen ist. Ab 2032 gilt diese Basisquote allerdings ausnahmslos.
Größter Unterschied der Brutto- zur Nettoquote: 512,4 Prozentpunkte
Versicherer aber gehen gern mit jener Brutto-Quote hausieren, in die alle Erleichterungen eingeflossen sind. Und diese weichen häufig mehrere hundert Prozent von den Basisquoten (ohne die Hilfen) ab. Besonders fällt dies in 2020 bei der Victoria auf: Mit 727,6 Prozent erreicht die Ergo-Tochter eine blendende Bruttoquote. Rechnet man aber die Volatilitätsanpassung und die Maßnahme für Rückstellungen heraus, dann bleibt eine Basisquote von (immerhin noch guten) 215,2 Prozent übrig. Die Übergangsmaßnahmen verhelfen also der Victoria zu einer um 512,4 Prozentpunkte günstigeren Quote.
Die SRC-Schlusslichter „retten“ sich durch Übergangshilfen
Mag ein Unterschied von 512,4 Prozentpunkten noch ein Extrem sein, sind hingegen Unterschiede von 200 bis 300 Prozentpunkten keine Seltenheit. Dies wird auch an jenen Versicherern deutlich, die 2020 die schlechtesten Basis-Solvenzquoten vorweisen mussten: Landeslebenshilfe und Süddeutsche. Ohne Übergangshilfen kommen beide Versicherer auf eine Quote von 0 Prozent. Beide Versicherer hätten demnach überhaupt keine Eigenmittel für eine simulierte Extremsituation, wie sie alle 200 Jahre auftritt.
Aufgrund der Übergangsmaßnahmen und der Volatilitätsanpassung aber sind beide Versicherer aus dem aufsichtsrechtlich relevanten „Schneider“: Die Landeslebenshilfe kommt auf eine offizielle Quote von komfortablen 354,4 Prozent. Und die Süddeutsche kommt auf immerhin 253,9 Prozent.
17 Versicherer reißen Hürde durch Netto-Quote
Mit Übergangshilfen erfüllen alle Versicherer die gesetzlichen Vorgaben und überspringen die aufsichtsrechtliche Hürde von 100 Prozent. Ohne Übergangshilfen hingegen würden insgesamt 17 Versicherer laut MAP-Report diese Hürde reißen: Die Neue Leben (87,4 Prozent), die HDI (83,6 Prozent), die Bayerische Beamten (70,0 Prozent), die HUK-Coburg (66,9 Prozent), die Athora (66,5 Prozent), die Ergo (52,0 Prozent), die Frankfurter (38,3 Prozent), die DEVK Allgemeine (36,2 Prozent), die Debeka (35,7 Prozent), die Signal Iduna (32,5 Prozent), die Frankfurt Münchener (25,3 Prozent), die PB (19,8 Prozent), die DEVK Eisenbahn (15,2 Prozent), die Öffentliche Oldenburg (10,4 Prozent), die VRK (2,8 Prozent), die Süddeutsche (0,0 Prozent), die Landeslebenshilfe (0,0 Prozent).
SCR-Quotenschnitt im Sinken
Die aufsichtsrechtlich relevante SCR-Brutto-Quote der Branche verschlechterte sich zudem trotz Übergangserleichterungen (Versicherungsbote berichtete). In 2019 betrug sie noch 422,3 Prozent, sackte aber in 2020 auf 381,2 Prozent (und damit um 41 Prozentpunkte) ab.
Die besten offiziellen Quoten weis0en in 2021 aus: Die Victoria (727,6 Prozent), die LV 1871 (711,6 Prozent) und die LVM (702,2 Prozent).
Hingegen sind die SCR-Schlusslichter in 2020: die WGV (193,8 Prozent), die DEVK Eisenbahn (186,1 Prozent) und die VRK (179,5 Prozent).
Dialog erfüllt Anforderungen am besten
Bei den Basis- bzw. Nettoquoten gibt es – was erstaunt – zwei höhere Werte als bei den offiziellen Quoten. In der Regel jedoch liegen die Basisquoten ohne Übergangshilfen unter den Quoten für die BaFin. Gewinner bei der SCR-Bedeckung 2020 mit der höchsten Quote ist die Dialog (811,6 Prozent) und die Europa (807,6 Prozent). Der drittplatzierte Versicherer liegt mit seinen 576,6 Prozent da schon auffallend zurück – die Ergo Vorsorge.
Die schlechtesten Basis-Quoten hingegen müssen die Öffentliche Oldenburg (mit 10,4 Prozent), die VRK (mit 2,8 Prozent), die Süddeutsche und die Landeslebenshilfe (mit jeweils 0,0 Prozent hinnehmen (Versicherungsbote berichtete).
Hintergrund: Der aktuelle MAP-Report mit der Nummer 919 leistet auf mehrfachen Ebenen einen Vergleich der „Solvabilität“. Denn zum einen vergleicht er Kennzahlen der Versicherer untereinander innerhalb eines Geschäftsjahres. Zum anderen zeigt er aber auch, wie sich die Bedeckungsquoten der einzelnen Anbieter in den vergangenen zehn Jahren im Verhältnis zum Marktdurchschnitt entwickelten. Dadurch können auch längerfristige Tendenzen zur Entwicklung der Quoten beobachtet werden. Das Analyse-Instrument kann kostenpflichtig auf der Seite von Franke und Bornberg bestellt werden.
Weitere Kennzahlen zur Lebensversicherung haben wir unter einer neuen Rubrik zusammengefasst.