Neben der Corona-Pandemie bestimmen Nachhaltigkeit, Klima- und Umweltschutz die Schlagzeilen. Raphael Bruß und Michael Schwienhorst (Versicherung der Zukunft) untersuchten in Befragungen, was genau unter 'Nachhaltigkeit' verstanden wird. In ihrer fünfteiligen Beitragsreihe zeigen sie, welche Handlungsfelder an Bedeutung gewinnen werden und weshalb die Versicherungswirtschaft ein Paradebeispiel der Gemeinwohlökonomie werden muss.
Worum geht's überhaupt – Versteht der Kunde unter dem Wort Nachhaltigkeit das Gleiche wie ich?
Einfache Definitionen und allgemeine Ansätze vom Begriff Nachhaltigkeit fokussieren sich überwiegend auf die Umweltaspekte. In der ursprünglichen Definition, welche auf Hans Carl von Carlowitz (1645-1714) zurückgeht, heißt es dazu wörtlich:
"Wird derhalben die größte Kunst, Wissenschaft, Fleiß und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen, wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen, daß es eine continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe, weil es eine unentberliche Sache ist, ohne welche das Land […] nicht bleiben mag".
Der Ansatz erscheint logisch, da ein Leben und Wirtschaften auf der Erde nur möglich ist, wenn kein Raubbau am Planeten verübt wird. Allerdings verfügt Nachhaltigkeit über (mindestens) drei Dimensionen:
- Soziale Nachhaltigkeit
- Ökonomische Nachhaltigkeit
- Ökologische Nachhaltigkeit
Für 47 Prozent unserer Befragten bedeutet Nachhaltigkeit umfassend, "die Bedürfnisse so zu befriedigen, dass Möglichkeiten zukünftiger Generationen nicht eingeschränkt werden". Diese Definition suggeriert eine Gleichrangigkeit der drei Säulen der Nachhaltigkeit. In unseren Befragungen konnten wir allerdings feststellen, dass mehr als die Hälfte der Befragten, eine der drei genannten Säulen einen herausragenden Stellenwert beimessen. Schauen wir uns dies im Einzelnen an.
Soziale Nachhaltigkeit
Einfach formuliert, geht es um einen dauerhaften gesellschaftlichen Zusammenhalt, Gerechtigkeit und Humanität. Der deutsche Professor Michael von Hauff definiert die soziale Nachhaltigkeit als Voraussetzung, um die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaftsform oder einer Volkswirtschaft sicherzustellen. Übertragen auf jede*n Einzelne*n sind wir individuell bereit, andere Mitglieder der Gesellschaft zu bestrafen, die mit ihrem Verhalten das Wohlergehen zukünftiger Generationen schädigen. Bei sozialer Nachhaltigkeit darf natürlich auch eine gerechte Verteilung der Ressourcen sowie des sozialen Kapitals (im Sinne eines Zusammenhalts von Gruppen) nicht fehlen. Ca. 16 Prozent unserer Befragten sehen Nachhaltigkeit als gesellschaftspolitisches Konzept und betonen soziale Aspekte als Kern.
Ökonomische Nachhaltigkeit
Die ökonomische Nachhaltigkeit ist unmittelbar mit der Wirtschaftsleistung einer Gesellschaft oder Volkswirtschaft verbunden. Diese Leistungen sind nachhaltig, wenn sie auch dauerhaft - also insbesondere in kommenden Generationen - betrieben werden können. Die Wirtschaftsleistung wurde in der Vergangenheit unter anderem mit Pro-Kopf-Einkommen, Wirtschaftswachstum oder Bruttoinlandsprodukt gleichgesetzt. Das individuelle Wohlbefinden wurde bisher von dieser Perspektive nicht beachtet, und ist direkt, aber nicht ausschließlich, von diesen Werten abhängig.
Ein neuerer Ansatz für die Messung der ökonomischen Nachhaltigkeit ist der nationale Wohlfahrtsindex. Dieser berücksichtigt zahlreiche monetäre und quantifizierbare Dimensionen, die über das Bruttoinlandsprodukt deutlich hinausgehen (bspw. Gerechtigkeit, Verteilung von Vermögen, etc.). Ökonomische Nachhaltigkeit bezieht sich somit auf die Langfristigkeit des wirtschaftlichen Handelns und die Fähigkeit der Wirtschaftsakteure "das richtig zu tun". 13 Prozent der Befragten unserer Umfragen sehen die ökonomische Abhängigkeit als besonders relevanten Aspekt von Nachhaltigkeit. Daran werden insbesondere Versicherungsgesellschaften gemessen werden. Lesen Sie dazu mehr in Teil IV: Versicherungen in der Dekade des Handelns – Greenwashing, nein Danke!
Ökologische Nachhaltigkeit
Ca. 23 Prozent der Befragten sehen den klaren Fokus auf Regeneration von Natur und Umwelt. Denn ökologische Nachhaltigkeit meint, dass die Natur durch die Menschen nur in dem Umfang beansprucht werden sollte, wie sich diese regenerieren kann - ein Kreislauf also. Im Kontext der sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit stellt die ökologische Nachhaltigkeit faktisch eine Art Voraussetzung dar. Wirtschaftliche und soziale Systeme können nur (nachhaltig) existieren, wenn die Menschheit auch über eine lebensfreundliche Umwelt verfügt. Soweit, so unklar. Denn der scheinbar logische Zusammenhang lässt sich für die überwiegende Mehrheit der Befragten nur schwer in den eigenen Alltag integrieren. Nur 13 Prozent der Befragten können konkrete, unmittelbare und individuelle Maßnahmen zum Schutz der planetaren Grenzen benennen. Erschwerend kommt hinzu, dass davon auszugehen ist, dass in unserer Befragung "Leugner" von Klimawandel und Endlichkeit von Ressourcen unterrepräsentiert sind. Über die Gesamtbevölkerung vermuten wir ein niedrigeres Ergebnis.
Und nun?
Wir vermuten, dass nur jede*r Zehnte ein dezidiertes Verständnis der planetaren Grenzen hat und individuell erkennt, welche Maßnahmen oder Konsumeinschränkungen zur Einhaltung der planetaren Grenzen konkret notwendig sind. Wir als Autoren zählen uns übrigens auch zu den "Unwissenden". Allerdings können wir und die Kunden sehr konkrete Erwartungshaltungen an gesellschaftliche Institutionen, Politik und (Versicherungs-)Wirtschaft adressieren. Diese Erwartungen sind umso höher, desto intensiver sich die Kunden mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Ausgehend von unseren Befragungsergebnisse heißt das schlussendlich für 90 Prozent der (potenziellen) Kunden: es besteht eine Bewusstseins-Lücke! Diese besteht zwischen dem Verständnis, dass dringend nachhaltige Änderungen notwendig sind, jedoch nicht klar ist, was dies konkret für die einzelne Konsumentscheidung sowie das individuelle Verhalten, bedeutet. Verstehen Sie uns aber bitte nicht falsch. Somit liegt die Verantwortung beim Anbieter oder Berater der Produkte, diese individuelle Bewusstseinslücke zu füllen, spätestens wenn der Gesetzgeber über Taxonomie und Beratungsdokumentation das verlangt. Dazu sind verschiedenen (globale) Lösungen denkbar.
Vorstellbar ist eine Selbstverpflichtung der Versicherungswirtschaft die konkreten Auswirkungen der Beitragsverwendung offen zu legen. Das Zielbild der vollkommenen Transparenz ist sicherlich weit entfernt. Aber einfache, einheitliche und vergleichbare Standards könnten ein imposanter Testballon für unsere Branche sein. Lesen Sie dazu auch in Teil III: grüne Versicherungsprodukte – Nachhaltigkeit ist, wenn am Ende ein Baum gepflanzt wird!
Schlusswort Teil I
Zum Schluss möchten wir uns für die reißerischen Titel entschuldigen. Nüchtern betrachtet, sind diese Art von Titeln eigentlich überflüssig, aber (leider) eine Methode, um in der Aufmerksamkeitsökonomie zu bestehen. Wir freuen uns sehr auf den Diskurs. Insbesondere wenn Sie sich von diesem oder folgenden Artikel angegriffen fühlen, möchte wir bereits jetzt klarstellen, dass es uns nicht darum geht, Einzelpersonen als defizitär vorzuführen. Wir nutzen diese drastische aber nüchterne Sprache, um Sie auf die Dringlichkeit des Themas aufmerksam zu machen.
Danke für Ihr Verständnis.