Es kommt nicht selten vor, dass selbstständige Versicherungsvermittler noch mit über 70 Jahren arbeiten. Dies bestätigt auch die Studie von Daniela König (2020) zum Thema „Zusammenhang zwischen Leistungsorientierung und Arbeitssucht – gemessen am Beispiel der Berufsgruppe Versicherungsvermittler“. Die älteste Versuchsperson ist 73 Jahre und ist noch als Versicherungsvermittler tätig. In ihrer Tätigkeit als Maklerbetreuerin im Vertriebsinnendienst, ist ihr ältester zu betreuender aktiver Versicherungsmakler 95 Jahre. Einerseits gibt es diejenigen, die hart arbeiten, weil sie viel erreichen wollen und andererseits die, die ständig erreichbar sind und schuften bis sie zusammenbrechen, weil sie Furcht davor haben, sich in die Insolvenz steuern zu sehen. Aus diesem Grund sind sie häufig geprägt von einer hohen bis übertriebenen Arbeitsbezogenheit, welche letztendlich in der Arbeitssucht mündet. Sie überidentifizieren sich mit ihrem Beruf. (v. Dick & Groß, 2014)
Die meisten Menschen verbinden mit der Furcht etwas Negatives, obwohl sie für das Überleben essenziell wichtig ist. Verantwortlich dafür ist die Amygdala, das Angstzentrum im Gehirn. In der westlichen Welt im heutigen Zeitalter herrscht die Existenzangst, eine besondere Form der Angst. Menschen, nicht nur Versicherungsvermittler, sind davon geplagt, das eigene Leben nicht meistern zu können, arbeitslos zu werden, in den Ruin zu steuern und auch dem eigenen Leben keinen Sinn mehr zu geben. Des Weiteren wird der Druck erzeugt, dem digitalen Wandel nicht standzuhalten. Schließlich sind Menschen Gewohnheitstiere und vor Neuem zurückhaltend.
Die Angst von Versicherungsvermittlern wird durch die Covid-19-Pandemie noch verstärkt. Zu Beginn der Pandemie in 2020 sei kaum jemand in der Lage gewesen, eine Online-Beratung durchzuführen, doch Besuche beim Kunden seien verboten gewesen. Einige Kunden geraten durch Covid-19 in die Kurzarbeit sowie Arbeitslosigkeit und machen von ihrem Kündigungsrecht Gebrauch, vor allem in den Sparten der Lebensversicherung oder stellen ihre Verträge beitragsfrei. 27 Prozent der Deutschen verfügen über keinerlei Rücklagen. (Brzeski & Franke, 2018) Dies hat bei vielen Versicherungsvermittlern zu weiteren Sorgen geführt und einige haben sich beruflich neu orientiert. Viele Versicherungsvermittler befinden sich am Rande des Existenzminimums. (Wenig, 2020)
Die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust oder fehlenden Einnahmen führt zusätzlich zum Präsentismus, wie zuvor bereits erläutert. Einige erleben sich selbst als Versager oder denken, dass andere sie ablehnen, weil sie merken, dass die Betroffenen ängstlich seien. Ist die Existenzangst bereits soweit fortgeschritten, handelt es sich um eine Angststörung. Konfrontiert sich die Person häufig mit diesen Gedanken werden diese Ängste als kognitive Schemata gespeichert und zu Grundüberzeugungen. (Krull, Leibing, Pöhlmann, Leichsenring, und Salzer, 2014) Steigt der Leistungsdruck in der Gesellschaft, erhöht dies die Furcht vor dem Scheitern. Betroffen seien überwiegend junge Leute und diese seien zunehmend gestresst durch Angst vor Überforderung und zu hohem Erwartungsdruck. (Amonat, 2017) Haben Versicherungsvermittler selbst eine Krankheit, die sie davon abhält, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, herrscht die Existenzangst vordergründig. Neben Krankheiten bedrohen Mitbewerber, Regularien am Markt, der Verwaltungsaufwand und Kündigungen von Versicherungsverträgen das Einkommen von Versicherungsvermittlern. (Kunz & Jost, 2014)
Zusammenfassend ist die Furcht vor Misserfolg in diesem Berufsfeld nachvollziehbar. Auf der einen Seite herrscht die Getriebenheit durch Erfolgsorientierung und auf der anderen Seite die Angst vor Verlusten, zu geringen Umsätzen und Sanktionen aufgrund der Missachtung von Regeln. Während der Corona-Krise 2020 wird dies noch deutlicher. Kunden geraten in Kurzarbeit sowie Arbeitslosigkeit. Aufgrund dessen können die Betroffenen ihre Versicherungen nicht bezahlen, müssen Einsparungen vornehmen und geraten schlimmstenfalls in den Mahnprozess. (Herz, 2020) 27 Prozent der Deutschen verfügen zudem über keinerlei Rücklagen und können die Differenz durch Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit kaum auffangen. (Brzeski &Franke, 2018) Einerseits sind Vertriebler sehr leistungsorientiert und versuchen möglichst viel durch die variablen Gehaltsbestandteile zu verdienen, andererseits haben sie Angst davor, sich am unteren Ende einer Rankingliste wiederzufinden oder in die Insolvenz zu steuern, wenn das Neugeschäft ausbleibt und der Bestand schrumpft. Im Angestelltenverhältnis herrscht zudem die Angst vor Konsequenzen, falls Vorgaben nicht erfüllt werden. Vorangegangene Rückschläge führen dazu, vieles nicht erneut zu wagen, aus Angst erneut zu versagen. Versicherungsvermittler stehen nicht selten unter dem Druck, Ziele erreichen zu müssen. Im Angestelltenverhältnis sind diese vom Arbeitgeber vorgegeben. Der Selbstständige muss eigenverantwortlich für ausreichend Provision sorgen, um seinen Lebensstandard aufrecht zu erhalten. Laut der Studie „Provisionen und Courtagen – Was die Versicherer ihren Vermittlern zahlen“ erwirtschaften 51 Prozent der Versicherungsmakler weniger als 50.000 Euro Jahresgewinn. (Wenig, 2015) Der Vorsitzende des Bundesverbandes Deutscher Versicherungskaufleute, Michael Heinz, erwähnt in einem Interview aus 2014 für die Welt, dass es keine Seltenheit sei, Vermittler in den Konkurs steuern zu sehen. Circa ein Drittel aller Versicherungsvermittler verdiene weniger als 55.000 Euro im Jahr und dieser Betrag sei noch zu versteuern. Bliebe dann der Erfolg aus, so sei die Insolvenz meist unvermeidbar. Eine ehrliche Versicherungsberatung sei zudem nur möglich, wenn der Versicherungsverkäufer keinerlei Existenzängste habe. (Baumann, 2018)
Im Rahmen der zuvor genannten Studie haben 339 Versicherungsvermittler teilgenommen, davon 154 Ausschließlichkeitsvermittler, 34 Versuchspersonen aus dem Vertriebsinnendienst, 26 Mehrfachagenten und 105 Versicherungsmakler. 235 der Versuchspersonen waren selbständig. Die meisten der Befragten verdienen durchschnittlich 30.000 – 60.000 € noch vor Steuern, was die Aussage von Wenig bestätigt. 68 von ihnen arbeiten mehr als 50 Stunden pro Woche und ein Versicherungsvermittler verfolgt noch eine Nebentätigkeit. Während der Studie beschäftigen sich viele der Teilnehmer mit den einzelnen Fragen auf dem Onlinefragebogen. Viele konnten sich unter dem Begriff „Arbeitssucht“ nichts vorstellen und ertappten sich selbst dabei, keine oder kaum Pausen zu machen. Sie teilten zudem ihre Krankheiten mit, die in der Regel auf Stress zurückzuführen waren. Ihre Gedanken kreisten dauerhaft um den Umsatz. Sie betonten, dass sie Angst vor Gesprächen mit den Vorgesetzten hätten und fürchteten sich davor Fehler zu machen. Sie rechneten mit weitreichenden Konsequenzen. Belohnungen hingegen waren allen Anrufern egal, da diese nicht der Rede wert waren. Sie argumentierten zudem, dass sie lieber krank zur Arbeit erscheinen, anstatt sich auszukurieren, da sie entweder Abmahnungen befürchteten, Angst davor hatten, dass ihre Vertretung Fehler mache oder Kunden ihre Verträge kündigen, weil sich niemand um sie kümmere. Das fehlende Kümmern war die größte Sorge der Selbstständigen, da es sich überwiegend um Einzelmakler handelte, welche keine Angestellten beschäftigten, beziehungsweise niemanden finden konnten, der sie unterstützt. Mehr als 50 % der Versicherungsmakler, die sich telefonisch meldeten, waren auf der Suche nach einer Innendienstkraft. Die meisten waren geplagt von dauerhaften Rückenschmerzen, Zähneknirschen, Kopfschmerzen, Tinnitus, Gelenks- und Herzerkrankungen sowie Schlaganfällen. Auch teilten sie mit, dass die Herz-Kreislauf-Erkrankungen häufig auf den Konsum von Energydrinks zurückzuführen waren, schließlich wollten sie so lange wie möglich wach bleiben, um zu arbeiten.