Baloise: „Entscheidend für die Folgen des KI-Einsatzes ist der Mensch“

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Matthias Hilgert ist Chief Transformation Officer bei Baloise Germany: und verantwortet somit den Transformationsprozess des Versicherers hin zu einem agilen und digital konkurrenzfähigen Konzern. Im Interview gab der Manager und Transformations-Experte Auskunft darüber, ob Versicherer schon bald von künstlicher Intelligenz geführt werden, welche Änderungen in der Branche demnächst anstehen - und wie Versicherer Konflikte mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei ihren Umbauprozessen vorbeugen können.

Versicherungsbote: Herr Hilgert, Sie sind Chief Transformation Officer bei Baloise. In den letzten Jahren hatte man den Eindruck, Versicherer seien Dauerbaustellen. Ein bisschen wie Hase und Igel: Kaum ist eine Transformation umgesetzt, kommt die nächste technische Neuerung, auf die reagiert werden muss. Täuscht dieser Eindruck, oder gibt es für die Versicherer in Zukunft keine Ruhepausen mehr?

Matthias Hilgert: Ruhepausen wird es in unserer vernetzten Welt tatsächlich nicht mehr geben. Dafür ist der Wandel zu stetig, zu schnell und zu groß. Ich sehe unsere Branche trotzdem nicht als negativ konnotierte Dauerbaustelle. In vielen Bereichen unseres Lebens sehen wir Updates als etwas Selbstverständliches. Warum nicht auch im Unternehmen? Einige Neuerungen, wie beispielsweise im Berichtswesen, sind vorgegeben. Vieles treiben wir selbst voran. Dabei ist Folgendes sehr wichtig: Wir wollen die Dauer unserer „Baustellen“ verkürzen. Wir wollen Vorgehen und Technik optimieren, kleinere Pakete schnüren und Kundinnen und Kunden (dazu zählen Vertrieb, End:kundinnen und Mitarbeitende) möglichst früh einbinden. Also vorangehen und nicht hinterherlaufen – Igel statt Hase sein. Und – Wandel, Updates und Neuerungen bedeuten nicht die Abwesenheit von Kontinuität. Sie bilden vielmehr die Basis für Kontinuität in vielerlei Hinsicht. Uns gibt es seit fast 160 Jahren in Deutschland. Und es gäbe uns nicht mehr, wenn wir uns nicht andauernd angepasst hätten.

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Von Versicherern wird traditionell Verlässlichkeit, Stetigkeit und auch Stabilität gefordert: nicht nur von den Kundinnen und Kunden, auch Gesetze und Aufsichtsregeln sind darauf angelegt. Steht dies im Widerspruch zu der Tatsache, dass sie sich permanent wandeln müssen?

Wenn junge Eltern für ihr Kind heute eine Kinderrentenversicherung als Vorsorge abschließen und wir wissen, dass z. B. jedes dritte neugeborene Mädchen 100 Jahre alt wird, dann stellen wir sicher, dass wir die Rente auch noch in 100 Jahren bezahlen können. Wer sonst bietet eine solche Sicherheit?

Daher sehe ich darin keinen Widerspruch, ganz im Gegenteil. Flexibilität im Sinne von Anpassungsfähigkeit war schon immer die Voraussetzung für Erfolg. Davon bin ich fest überzeugt und versuche, diese Formel nicht nur selbst zu beherzigen, sondern auch in meinem Umfeld vorzuleben.

Unsere Kundinnen und Kunden wandeln sich. Ihre Bedürfnisse entwickeln sich weiter. Zukünftigen Ansprüchen werden wir nicht mit heutigen Lösungen gerecht. Die Welt ist nicht statisch und deshalb können und wollen wir es auch nicht sein. Unserer Verlässlichkeit tut das keinen Abbruch, sondern der Wandel ist die Voraussetzung dafür! Darüber hinaus finden viele der Veränderungen im Versicherungsgeschäft intern statt, sodass die Kundinnen und Kunden sie nicht direkt erfahren.

Weiterentwicklung ist also kein Hindernis für Stabilität, sie ist eine Notwendigkeit. So bieten wir nicht nur unseren Kundinnen und Kunden, sondern auch unseren Vertriebspartner:innen und Mitarbeitenden Verlässlichkeit und Stabilität.

Ein Problem scheint zu sein, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei diesen Veränderungen mitzunehmen: Zumindest müssen wir auffallend häufig von Konflikten in Unternehmen berichten, die aus Veränderungsprozessen resultieren. Viele haben auch schlicht Angst um ihren Arbeitsplatz. Wie kann es gelingen, die Beschäftigten für diese Prozesse zu gewinnen, ohne sie vor den Kopf zu stoßen?

Eine sich immer schneller verändernde (Arbeits-)Welt bringt auf jeden Fall Fragen und Ängste mit sich. Bei Baloise in Deutschland befinden wir uns mitten in einem Transformationsprozess, um als Unternehmen agiler zu werden. Obwohl klar ist, dass dabei keine Arbeitsplätze abgebaut werden, erleben wir Verunsicherung bei unseren Kolleginnen und Kollegen. Dazu zählt auch die Angst vor inhaltlicher Veränderung. Um diese und andere Ängste zu nehmen, setzen wir auf vier Elemente:

  1. Vorteile und Ziele herausstellen: Wir sind davon überzeugt, dass nicht nur das ganze Unternehmen, sondern auch jede:r Einzelne von agilen Methoden profitieren kann. Unsere Ziele sind klar definiert. Wir wollen damit eine Steigerung der Leistung und der Mitarbeiterzufriedenheit erreichen.
  2. Transparent und kontinuierlich kommunizieren: Wir haben gelernt, dass wir zwar nicht „überkommunizieren“ können, aber die relevante Zielgruppe deutlicher kenntlich machen und entsprechend ansprechen. Den Informationsbedarf unser Kolleginnen und Kollegen decken wir durch verschiedene Push- und Pull-Angebote – von Intranetkommunikation über virtuelle Informationsveranstaltungen bis hin zu individuellen Austauschterminen bzw. Teamformaten.
  3. Vorleben und Ausprobieren: Dass Theorie und Praxis auch beim agilen Arbeiten auseinanderklaffen, weiß ich selbst nur zu gut. Loslassen fällt eben schwer. Umso wichtiger ist es mir, diese Erfahrungen aktiv zu teilen.
  4. Strukturen schaffen: Auf dem Weg zu einer agilen Organisation kommt man irgendwann an eine Grenze bzw. einen Punkt, an dem man zwingend den Aufbau des Systems ändern muss (insbesondere Aufbauorganisation, Rollen, Governance etc.), da ansonsten die Vorteile nicht gehoben werden können. Faktisch ist es der Switch von einem evolutionären Vorgehen hin zu einem radikalerem. Es muss auch Altes abgeschafft werden, ansonsten ist alles additiv und es führt zur mehr Lähmung statt zu mehr Agilität. Diesen Wechsel haben wir 2022 vollzogen.

Kann KI bereits Versicherungsvorstände ersetzen?

...und wie sieht es bei der Beratung aus? Werden wir in Zukunft erleben, dass sich Kundinnen und Kunden vor Abschluss eines Vertrages von der KI beraten lassen und nicht mehr von einem Vermittler aus Fleisch und Blut?

Etwas vereinfacht formuliert ist KI der nächste große Schritt in der Automatisierung. Viele Automatisierungserlebnisse z.B. mit Bots sind heute noch eher enttäuschend. Da erwarte ich qualitativ in der Tat einen großen Fortschritt, gerade wenn man das mit dem Potenzial von ChatGPT vergleicht.

KI wird definitiv weitere Vorteile für die Kundenberatung bringen und das Vermittlergeschäft vereinfachen. Sie kann zudem den aktuell noch relativ kleinen Teil des Direktgeschäfts erhöhen. Schon jetzt setzen gerade Jüngere auf digitale Tools. Einen kompletten Ersatz von Vermittlerinnen und Vermittlern in der Beratung erwarte ich nicht. Meiner Meinung nach wird es beides geben. Die einen vertrauen auf die künstliche Intelligenz, die anderen wünschen sich emotionale Intelligenz und Erfahrung von ihren Beraterinnen und Beratern und setzen auf menschlichen Kontakt. Aber die Grenzen verschieben sich und verschwimmen immer mehr.

Künstliche Intelligenz ist derzeit DAS Thema, auch in der Versicherungsbranche. Auf LinkedIn scherzten Sie, ich zitiere: „Seit unser CEO Jürg Schiltknecht von ChatGPT abgelöst wurde, hat er mehr Zeit für Tennis“. Natürlich ist Herr Schiltknecht immer noch CEO. Aber Hand aufs Herz: Glauben Sie, dass KI eines Tages sogar Versicherungsvorstände ersetzen kann?

Für einen Scherz bei LinkedIn hat es gereicht, für den Job des Vorstandsvorsitzenden dann eben doch nicht. Daher ein klares Nein!
Eine Künstliche Intelligenz hat kein Bewusstsein, keine Gefühle, keinen Willen und extrapoliert Bestehendes, sie „denkt“ bzw. rechnet also in Wahrscheinlichkeiten. Wie will man so ein Vorstandsteam zusammenstellen, das gut zusammenarbeitet? Wie will man so die eine, unwahrscheinliche Marktchance entdecken, die andere nicht sehen? Das heißt alles aber nicht, dass sich durch den Einsatz von KI sehr große Chancen ergeben. Aber der Hype und der sprungartige Anstieg von KI-Experten überrascht mich im Ausmaß schon.

Arbeitet Baloise in der Praxis bereits mit Tools wie ChatGPT? Wie und wo?

Wir haben eine gruppenweite Community bei Baloise, die sehr weit in die Zukunft denkt und Know-how bündelt, aber auch konkrete Use Cases umgesetzt that. Dazu gehören z. B. Input Management, Betrugsbekämpfung, Stornovermeidung und Lead Management. Wir sind es gewohnt, feste Regelwerke zu definieren und damit zu arbeiten. KI hilft uns hier, daraus auszubrechen.

In welchen Bereichen eines Versicherers könnte ein KI-Modell wie ChatGPT besonders nützlich sein? Welche Aufgaben oder Prozesse könnten durch die Nutzung automatisiert oder vereinfacht werden?

Es gibt, wie oben genannt, eine Reihe von Bereichen, in den KI sehr nützlich ist. Konkret kann KI bspw. bei der Zusammenfassung von Kundenanliegen per Telefon eingesetzt werden – und zwar von Antrag- über Vertrags-Geschäftsvorfällen bis zu einem eventuellen Schaden. Es gibt selbst heute schon Lösungen, die Teammeetings zusammenfassen und Aufgaben in den entsprechenden Tools erfassen und zuordnen.

Letztendlich hoffe ich sehr, dass wir mit KI insgesamt die verschiedenen „Kundenreisen“ (Customer Journeys) deutlich verbessern werden. Warum braucht eine Versicherung beispielsweise bei einem Schaden so viele Daten und warum fühlt sich der Kunde hier meist als Bittsteller? Weil es leider Betrug gibt. KI kann hier bei der Datenerhebung und -Analyse helfen und es damit den Kundinnen und Kunden wie dem Versicherer einfacher machen.

"Entscheidend für die Folgen des KI-Einsatzes ist der Mensch!"

Elon Musk, nicht gerade für seine Technikskepsis bekannt, hat vor einigen Wochen gemeinsam mit anderen Investoren in einem offenen Brief ein Innehalten gefordert, um die Folgen des Einsatzes von KI genauer abzuschätzen. Sehen Sie auch Risiken, wenn KI bei Versicherern verstärkt zum Einsatz kommt? Welche?

Zu den Gründen, warum Elon Musk sowie weitere Unternehmer und Forschende den Brief verfasst haben, lässt sich nur spekulieren.

Ohne Bewusstsein und eigenen Willen kann KI alleine bzw. aus sich selbst heraus kein Risiko darstellen. Entscheidend für die Folgen des KI-Einsatzes ist der Mensch. Von ihm gehen die Risiken aus. Und mit KI wird der Hebel deutlich größer, den der Mensch nutzen kann. Wir sehen heute schon, wie Social Media die Meinung von Massen beeinflusst. Jetzt können durch KI erzeugte Texte, Bilder, Videos oder auch Sprache von Nutzer:innen kaum noch als künstlich erzeugt erkannt werden. Das wird von Menschen auf der ganzen Welt genutzt werden. Eine wirksame Regulierung kann hier helfen, neue Tools sowie Aufklärung und kritisches Denken vielleicht viel mehr.

Wenn wir Versicherer eines können, dann ist es mit Risiken umgehen. So ist es auch beim Einsatz von KI. Beispielsweise könnten Risiken für einzelne Kundinnen und Kunden entstehen, wenn Entscheidungen automatisiert getroffen werden und die KI falsch trainiert wurde oder „halluziniert“. Allerdings stehen den Kundinnen und Kunden heute bereits durch den Datenschutz Informationsrechte zu, die einen solchen Fehler aufdecken können. Auch ein Versicherer braucht richtige Entscheidungen, da sonst das Geschäftsmodell nicht funktioniert, hat also ein Eigeninteresse, dass dieses Risiko nicht eintritt.

Ein weiteres Transformationsthema ist der Wandel von Unternehmen zu agilen Organisationen. Hat Baloise diesen Wandel bereits vollzogen oder ist dabei? Wenn ja, können Sie anhand von Beispielen erläutern, warum diese neuen Organisationsformen notwendig sind?

Viele Unternehmen sind heute noch so organisiert wie vor vielen Jahrzehnten. Damals wurde nach Funktionen strukturiert, um effizient die meist manuellen Tätigkeiten abzuarbeiten. Wenn immer mehr der eigentlichen Tätigkeit automatisiert wird und die Arbeit, die für uns Menschen übrigbleibt, immer komplexer wird, dann müssen wir uns schon fragen, ob die Organisation von damals heute noch die richtige ist.

Wenn nun heute eine motivierte Fachexpertin eine gute Idee hat und wir zwei und mehr Jahre brauchen, um sie technisch umzusetzen, dann bringen wir weder die Leistung, die im Zweifel der Kunde von uns erwartet, noch haben wir eine zufriedene Fachexpertin. Das können wir nur ändern, wenn wir die Art und Weise der Zusammenarbeit und damit die Arbeitsteilung verändern.

Bei Baloise in Deutschland sammeln wir seit ungefähr fünf Jahren Erfahrung mit agilem Arbeiten. Wir haben viel ausprobiert und die Vorteile erlebt. Durch agiles Arbeiten kommen viele neue Methoden und Rollen dazu. Sie können ihre Wirkung nicht vollständig entfalten, wenn man nicht alte weglässt oder mit dem gleichen Mindset unterwegs ist. Daher haben wir Mitte 2022 einen großen Schritt gewagt und stellen die gesamte Organisation um, prüfen aber auch, wo wieviel Agilität Sinn macht. Wir lassen diejenigen direkt miteinander arbeiten, die ein gemeinsames Produkt oder eine Dienstleistung für unsere internen oder externen Kundinnen und Kunden gestalten. Das tun wir unabhängig von Abteilungsgrenzen bzw. den auch in anderen Branchen bekannten „Silos“. So produzieren wir schneller sichtbare und bessere Lösungen. Wir sind noch nicht im Ziel, aber auf gutem Weg.

Welche anderen technologischen Entwicklungen und Trends müssen Versicherer derzeit im Auge behalten? Vielleicht auch solche, über die weniger in der Presse berichtet wird, weil sie nicht so greifbar und „sexy“ sind wie das Thema KI?

Ich würde gerne eine Gegenfrage stellen: Was wird bei all den Veränderungen und Trends denn mit Sicherheit bleiben? Sich das regelmäßig zu fragen, hilft enorm, um sich nicht in den vielen Trends zu verlieren und sogar eine Priorisierung vorzunehmen. Bleiben wird der Wunsch zu wohnen und der Wunsch mobil zu sein. Ein wichtiger Grund, warum wir uns bei der Baloise Gruppe mit dem Aufbau von einem Ökosystem in Home und Mobility beschäftigen.

Bleiben wird auch der Wunsch, bestimmte Risiken im Privatleben oder als Unternehmer nicht selbst tragen zu müssen. Um diese Risiken kümmern sich nicht nur Versicherer, sondern ein ganzes Ökosystem aus Vertrieben, Pools, Assekuradeuren, Gutachtern, Schadendienstleistern, Abwicklungsplattformen, Rückversicherern etc. Die Veränderungen in diesem Ökosystem werden gerne überlagert von trendigeren Themen wie KI oder Metaverse, dabei unterschätzt man die dortigen Umwälzungen und verpasst dadurch vielleicht eine Chance. Eine Chance, die auch die KI nicht gesehen hätte.

Die Fragen stellte Mirko Wenig