Zinszusatzreserve 2024: Milliarden fließen zurück – und vieles bleibt offen

Quelle: DALL-E

Erstmals seit Einführung der Zinszusatzreserve müssen Lebensversicherer 2024 nichts mehr nachreservieren – im Gegenteil: Milliarden fließen zurück. Doch was bedeutet das für die Branche? Versicherungsbote stellt Zahlen einer aktuellen Assekurata-Studie vor.

Die Zinszusatzreserve wurde im Jahr 2011 eingeführt – nicht als Reaktion auf eine akute Krise, sondern als vorausschauende Maßnahme gegen das damals bereits sinkende Zinsniveau. Zwar lag der Hauptrefinanzierungssatz der EZB noch bei 1,50 Prozent, doch die Renditen sicherer Kapitalanlagen begannen sich auf niedrigem Niveau zu stabilisieren. Gleichzeitig mussten Lebensversicherer Altverträge mit Garantiezinsen von 3,25 oder sogar 4,00 Prozent weiterhin bedienen. Die Idee: Wer Altverträge mit hohen Garantiezinsen im Bestand hat, muss jährlich Kapital als zusätzliche Rückstellung bilden. So sollte die langfristige Erfüllbarkeit der Verpflichtungen gesichert werden – auch wenn laufende Kapitalmarkterträge nicht mehr ausreichten. Die ZZR diente damit als Puffer für schlechtere Zeiten – zulasten der laufenden Ergebnisverwendung, aber zugunsten stabiler Zusagen.

Vom Sicherungsmechanismus zum Kapitalblock

Was freilich damals niemand ahnen konnte: Der Zinsverfall sollte deutlich länger andauern als erwartet. Bundesanleihen notierten teils im Negativbereich, die Zinskurve wurde flacher, Kapitalerträge sanken drastisch. Die Folge: Die ZZR wuchs rasant – auf einen Höchstwert von 96 Milliarden Euro im Jahr 2021. Das entsprach dem Fünffachen des bilanziellen Eigenkapitals der Branche.

Zwischen 2017 und 2020 wurden jährlich bis zu 14 Milliarden Euro zugeführt – ein Kraftakt, der die Nettoverzinsung drückte, die Überschussbeteiligung schmälerte und Investitionen erschwerte. Die ZZR wurde zum Synonym der Niedrigzinsphase – und zum Streitpunkt zwischen Regulierung, Wissenschaft und Praxis.

Die Korridormethode: Schutz vor zu früher Entlastung – und zu schneller Belastung

Mit zunehmendem Druck durch die Zinszusatzreserve reagierte der Gesetzgeber im Jahr 2018 mit einer strukturellen Reform: Die Einführung der Korridormethode verlängerte den Berechnungszeitraum für den sogenannten Referenzzins – von bislang sieben auf zehn Jahre – und stabilisierte ihn durch ein arithmetisches Mittel (Versicherungsbote berichtete). Ziel war es, kurzfristige Zinsschwankungen abzufedern und den exponentiellen Aufbau der ZZR zu bremsen, ohne ihre Funktion grundsätzlich infrage zu stellen.

Der Referenzzins ist die zentrale Berechnungsgröße für die ZZR. Er bildet den durchschnittlichen Kapitalmarktzins über zehn Jahre ab – und definiert, ab welchem Rechnungszins Nachreservierungspflichten bestehen. Ist der Rechnungszins eines Vertrags höher als der Referenzzins (zuzüglich eines Sicherheitspuffers), muss für diesen Vertrag zusätzlich reserviert werden.

Diese Methodik zeigt bis heute Wirkung. Obwohl sich das Zinsumfeld zuletzt spürbar verändert hat – der Null-Kupon-Euro-Zinsswapsatz, der dem Referenzzins zugrunde liegt, stieg nach dem Ende der Nullzinspolitik auf einen Jahresmittelwert von 2,65 Prozent (2024) –, bleibt der berechnete Referenzzins bei 1,57 Prozent. Denn: Die Korridormethode glättet die Zinsdaten der letzten zehn Jahre, sodass der plötzliche Anstieg am Kapitalmarkt nicht sofort zu einer drastischen Senkung der ZZR-Verpflichtungen führt.

Umgekehrt zeigt das Vergleichsszenario von Assekurata, was ohne Korridormethode passieren würde: Der Referenzzins läge im Jahr 2024 nur bei 1,09 Prozent – und damit deutlich niedriger. Das hätte zur Folge, dass wieder deutlich mehr Verträge unter die ZZR fallen würden und neue Nachreservierungen nötig wären. In diesem Fall würde der Aufbauzwang erneut steigen – obwohl sich das Zinsumfeld faktisch verbessert hat.

Die Korridormethode wirkt damit in beide Richtungen: Sie verhindert in der Niedrigzinsphase eine Überbelastung durch zu starke Rückstellungen, aber sie verhindert in der Zinswende auch eine zu frühe Entlastung, die rein rechnerisch nicht dauerhaft gesichert wäre. Für das Jahr 2024 bedeutet das: Kein Unternehmen muss mehr nachreservieren, aber auch keine vorschnelle Entwarnung. Die Rückflüsse erfolgen moderat – und abhängig von weiteren Entwicklungen auf den Kapitalmärkten.

2024 muss erstmals kein Unternehmen nachreservieren

2024 markiert einen Wendepunkt: Erstmals seit Einführung der Zinszusatzreserve muss kein Unternehmen der Assekurata-Stichprobe Kapital nachreservieren. Im Gegenteil: Im Branchenschnitt wurden 0,51 Prozent der konventionellen Deckungsrückstellungen aufgelöst – das entspricht einem Rückfluss von rund fünf Milliarden Euro. Das gewichtete Mittel liegt bei –0,44 Prozent.

Besonders deutlich fällt die Entlastung bei sieben Versicherern aus, die jeweils mehr als 0,7 Prozent ihrer Rückstellungen freisetzen konnten. An der Spitze stehen dabei laut Studie die Bayerische Vorsorge, Axa und die Hannoversche – sie führen die Gruppe der Rückführungsstärksten im Jahr 2024 an.

Milliarden fließen zurück – aber nicht automatisch in die Überschüsse

Doch was passiert mit dem frei werdenden Kapital? Zunächst ist wichtig zu wissen: Die ZZR ist ein Sicherungstopf zugunsten der Versicherten. Sie wurde gebildet, um garantierte Leistungen sicherzustellen – folglich gehören auch freigesetzte Mittel bilanzrechtlich und wirtschaftlich den Kunden.

Allerdings bedeutet das nicht automatisch, dass das Geld kurzfristig zur Erhöhung der Überschussbeteiligung verwendet wird. Denn viele Versicherer nutzen die Rückflüsse zunächst, um stille Lasten abzubauen. Diese entstehen, wenn Kapitalanlagen – etwa festverzinsliche Wertpapiere – zu einem höheren Buchwert in der Bilanz stehen als sie am Markt aktuell wert sind. Das ist häufig bei Papieren der Fall, die in der Niedrigzinsphase mit sehr niedrigen Kupons erworben wurden – und deren Marktwert bei gestiegenem Zinsniveau sinkt.

Wichtig: Solche Papiere verursachen keinen realen Verlust, solange sie bis zur Fälligkeit gehalten werden. Doch wer sie vorzeitig veräußert, muss Buchverluste realisieren. Genau das tun viele Versicherer: Sie verkaufen gezielt verlustbehaftete Altanlagen, um das Kapital in besser verzinste Neuanlagen umzuschichten – und damit die Bilanzstruktur zu verbessern. So tragen die Rückflüsse aus der ZZR dazu bei, stille Lasten aktiv abzubauen und die künftige Ertragslage zu stärken – auch wenn dies kurzfristig nicht unmittelbar in der Überschussbeteiligung sichtbar wird.

Der Einfluss von Wahrscheinlichkeiten auf den Rückfluss

Ein weiteres Detail mit erheblicher Auswirkung: Etwa die Hälfte der untersuchten Unternehmen berücksichtigt bei der ZZR-Berechnung sogenannte Storno- und Kapitalwahlwahrscheinlichkeiten. Damit wird unterstellt, dass nicht alle Verträge bis zur letzten Rentenzahlung bestehen bleiben – sondern ein Teil vorzeitig gekündigt oder als Kapitalleistung ausgezahlt wird. Die Folge: Die rechnerische Restlaufzeit der betroffenen Verträge verkürzt sich – und Reserven müssen nicht mehr über den vollen ursprünglichen Zeitraum vorgehalten werden. Das ermöglicht einen frühzeitigen Rückfluss von Teilen der ZZR.

Wie stark dieser Effekt sein kann, zeigt die Studie deutlich: Mit Wahrscheinlichkeiten liegt die Rückführungsquote 2024 bei –0,54  Prozent, ohne sie bei –0,44 Prozent. Ein Unterschied von 0,10 Prozentpunkten, der bei großem Altgarantiebestand bereits darüber entscheiden kann, ob Rückflüsse bilanziell möglich sind – oder nicht.

Drei Szenarien: Wie geht es mit der ZZR weiter?

Auch wenn die Zinszusatzreserve 2024 erstmals Rückflüsse ermöglicht, bleibt ihre weitere Entwicklung unsicher – denn sie hängt maßgeblich vom Kapitalmarktzins ab. Um die Auswirkungen möglicher Zinsverläufe besser einschätzen zu können, hat Assekurata im Rahmen ihrer Marktstudie drei Szenarien modelliert. Alle Szenarien gehen vom aktuellen Referenzzins von 1,57 Prozent aus und berücksichtigen jeweils unterschiedliche Entwicklungen des Null-Kupon-Euro-Zinsswapsatzes, der dem Referenzzins zugrunde liegt.

Basisszenario: Rückflüsse auf Raten

Im sogenannten Basisszenario bleibt das aktuelle Zinsniveau auf absehbare Zeit stabil. Der Referenzzins verharrt bis einschließlich 2026 bei 1,57 Prozent, ehe er sich langsam zu erholen beginnt. Die Folge: Die Unternehmen können 2025 und 2026 weiterhin rund 5 Milliarden Euro pro Jahr aus der ZZR entnehmen – etwa in der Größenordnung des Rückflusses von 2024. Der Gesamtbestand der ZZR würde damit bis Ende 2026 auf 74 Milliarden Euro sinken.

Erst ab 2027 wird mit einem allmählichen Anstieg des Referenzzinses gerechnet, wodurch sich auch die jährlichen Rückflüsse deutlich erhöhen könnten – auf mehr als zehn Milliarden Euro. Die Rückführung verläuft also schrittweise, aber konstant – ein Szenario der „langsamen Entspannung“.

Negativszenario: Rückflüsse mit Ablaufdatum

Im Negativszenario geht Assekurata davon aus, dass die Kapitalmarktzinsen in den kommenden Jahren wieder sinken – und der Referenzzins langfristig unter Druck gerät. Hier würde der Swapsatz bis 2029 auf 0,00 Prozent fallen, mit entsprechend verzögerter Wirkung auf den geglätteten Referenzzins.

Zwar wären auch in diesem Szenario noch Rückflüsse bis 2026 möglich, doch ab 2027 kehrt sich der Trend um: Die ersten Tarifgenerationen müssten wieder mit neuen Zuführungen zur ZZR bedacht werden. Ab 2032 wären selbst Verträge mit einem Rechnungszins von 1,25 Prozent nachreservierungspflichtig – eine Tarifgeneration, die bisher verschont blieb. In den Folgejahren würden dann auch Verträge mit 1,00 Prozent (ab 2034) oder sogar darunter in die Pflicht fallen. Das wäre nicht nur bilanziell belastend, sondern würde auch neue Reserven in einem Marktumfeld erfordern, das ohnehin wenig Ertragspotenzial bietet.

Positivszenario: Wegfall der ZZR

Im optimistischen Szenario unterstellt Assekurata eine fortgesetzte Zinswende – mit einem Anstieg des Referenzzinses bis auf 4,00 Prozent im Jahr 2035. In diesem Fall beschleunigt sich die Rückführung der ZZR erheblich: Bereits ab 2026 würden die Rückflüsse deutlich zunehmen, sodass der Bestand bis 2032 weitgehend aufgebraucht wäre.

Das würde bedeuten: Keine neue Nachreservierung mehr nötig, vollständige Rückführung der gebundenen Mittel – und neue Spielräume für die Kapitalanlagestrategie. Die ZZR hätte dann endgültig ihren Charakter als Kriseninstrument verloren – und wäre bilanziell kaum noch spürbar.

Die ZZR verliert an Dynamik – aber nicht an Bedeutung

Die Zinszusatzreserve bleibt ein zentrales Element der Sicherung von Altgarantien – auch wenn sie 2024 erstmals wieder Kapital freisetzt. Die Rückflüsse schaffen Freiräume, doch ihre Verwendung bleibt abhängig von stillen Lasten, Kapitalmarktbedingungen und Bilanzpolitik. Entscheidend wird sein, wie lange sich das aktuelle Zinsumfeld hält – und welche Vertragsgenerationen künftig noch nachreservierungspflichtig werden.

Hintergrund: Die hier genannten Ergebnisse stammen aus der Assekurata-Marktstudie 2025: Überschussbeteiligungen und Garantien in der Lebensversicherung. Die 23. Auflage der jährlich erscheinenden Untersuchung enthält umfassende Analysen zu Zinssätzen, Reserven und Überschussentwicklungen der deutschen Lebensversicherer – und kann kostenpflichtig über die Website von Assekurata bezogen werden.