Als der Versicherungsbote mit Intensivmediziner Reimer Riessen sprach, deutete sich die Coronakrise mit ihren krassen Auswirkungen erst an: Wenig später würde die ganze Republik über die Zahl der verfügbaren Intensivbetten sprechen. Aber bereits zu diesem Zeitpunkt gab es Missstände in der Intensiv- und Notversorgung der Kliniken: überfüllte Notaufnahmen, defizitäre Kinderintensivstationen, ein Mangel an Pflegekräften. Diese Themen werden weiter aktuell bleiben. Reimer Riessen ist leitender Oberarzt der Internistischen Intensivstation am Universitätsklinikum Tübingen sowie Sprecher der Sektion „Qualität und Ökonomie in der Intensivmedizin“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V. (DIVI).
Versicherungsbote: Man liest in Zeitungen teilweise sehr dramatische Beschreibungen über überfüllte Notaufnahmen in Kliniken. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation in der Notfallversorgung ein?
Reimer Riessen: Die Situation der Notaufnahmen und Intensivstationen ist schwer zu verallgemeinern. Es gibt Regionen, die besser aufgestellt sind, andere schlechter. Grundsätzlich halten wir einen Strukturwandel für notwendig, weil sich die Versorgungsrealität verändert hat: Die Menschen gehen mehr in Krankenhäuser als früher, sie suchen bei einem Notfall direkt die Klinik auf.
Die Gründe sind vielfältig. Die Patienten kennen oft das System der Notfallpraxen nicht. Speziell jüngere Leute und ausländische Mitbürger wissen nicht, dass es weitere Anlaufstellen als die Notaufnahmen in den Krankenhäusern gibt. Vielleicht bekommen Sie auch keinen Termin beim Haus- oder Facharzt. Dort sind die Praxen ja ebenfalls voll. Auch sind die Notfallpraxen der KV oft nicht rund um die Uhr besetzt – dann geht man automatisch in die Kliniken.
Es ist mir aber wichtig zu betonen: Viele Patienten sind in der Notaufnahme eines Krankenhauses richtig aufgehoben, weil sie Notfälle sind, die einer stationären Versorgung bedürfen. Wenn Sie zum Beispiel einen Thoraxschmerz haben und der Verdacht auf Herzinfarkt besteht, dann kann der KV-Notdienst mit seinen Mitteln – ohne EKG, ohne Labor – den Patienten nicht richtig betreuen. Auch im unfallchirurgischen Bereich kann der kassenärztliche Notdienst meist nicht viel helfen.
Fakt ist: Sie können mit einer Krankenhaus-Notaufnahme viel schneller und treffsicherer bedrohliche Erkrankungen ausschließen und die entsprechende Therapie einleiten, als es ein kassenärztlicher Notdienst in einer minimal ausgestatteten Notfallpraxis tun könnte. Insofern muss man die Vergütungsstrukturen und die Organisation der Notversorgung an diese Realität anpassen, sodass die Krankenhäuser personell, technisch und räumlich besser ausgestattet werden.
Sie kritisieren die Finanzierung über Fallpauschalen, die zu einer Unterversorgung der Intensiv- und Notfallmedizin in den Kliniken beitragen kann. Können Sie kurz erklären, warum gerade die Fallpauschalen die Notfallmedizin benachteiligen?
Zum einen, weil die Pauschalen, die für die ambulante Versorgung im Krankenhaus gezahlt werden, sich an den ambulanten Pauschalen des kassenärztlichen Notdienstes orientieren. Das sind zum Teil nur 32 Euro pro Notfall. Im internationalen Vergleich ist das lächerlich gering und deckt den Aufwand nicht im geringsten. Deswegen galten die Notaufnahmen in den Krankenhäusern bislang als defizitär – mit der Folge, dass in diesen Bereich zu wenig investiert wurde. In vielen Kliniken wird versucht, diese Aufgabe mit dem geringsten Aufwand hinzukriegen, um nicht noch mehr finanzielle Defizite entstehen zu lassen. Das hat auch die Belastung der dort Tätigen zusätzlich erhöht.
Ein weiterer Grund: Grundsätzlich gilt für die Notfallversorgung, dass viele Vorhaltekosten anfallen. Sie haben fast durchgehend hohe Kosten, etwa für das erforderliche Personal – egal, ob es in Anspruch genommen wird oder nicht. Es gibt Tage, an denen eine Notaufnahme mal leer ist, weil schlicht wenige Patienten eingeliefert werden. Und es gibt Tage, da platzt sie aus allen Nähten. Das unterliegt den Gesetzen des Zufalls. Trotzdem haben Sie an einem ereignisarmen Tag die gleichen Personalaufwendungen. Und Sie haben einen festen Dienstplan, den Sie füllen müssen. Das ist mit den Fallpauschalen nicht ausreichend berücksichtigt.
Die Fallpauschalen haben zu Fehlsteuerungen im Gesundheitssystem geführt, die ebenfalls dazu beitragen, dass viele Kliniken inzwischen zu voll sind. Um Umsatz und Einnahmen zu generieren, werden möglichst viele Patienten für Operationen einbestellt, die sogenannten elektiven Patienten. Ziel ist es hierbei das Fallpauschalensystem auszureizen, also Eingriffe vorzunehmen, die sich finanziell auszahlen. Ständig müssen die Kliniken ihre Fallzahlen steigern. Darunter leidet eine effiziente Notfallversorgung, und das führt zu einer Verschlechterung der Qualität und zu einer Überlastung der Mitarbeiter.
Hohe Vorhaltekosten schwer mit Fallpauschalen vereinbar
Versicherungsbote: Sie kritisieren die Fallpauschalen. Halten Sie das Fallpauschalen-System für gescheitert?
Reimer Riessen: Das würde ich so nicht verallgemeinern. In Bereichen außerhalb der Notfallversorgung, etwa Spezialkliniken für geplante Hüftgelenksoperationen und mit Niedrig-Risiko-Patienten, wo Eingriffe geplant nach einem festem Termin vorgenommen werden können, da könnte man Fallpauschalen aufrechterhalten, da sind sie auch angemessen.
Schwierig sind Fallpauschalen aber, wie gesagt, bei Kliniken mit hohen Vorhaltekosten. Wir haben soeben ein Diskussionspapier für eine Reform der Krankenhausversorgung vorgelegt. Darin schlagen wir vor, dass die Krankenhäuser, die an der Notfall- und Intensivversorgung teilnehmen, ihre Vorhaltekosten über ein Budget finanziert bekommen, das Personal, Infrastruktur und Investitionen abdeckt. Die Fallpauschalen sollten dann nur die Sachkosten eines Falls abdecken und nicht die gesamte Infrastruktur.
Solche Akut- und Allgemeinkrankenhäuser behandeln mit ihren vielen Fachabteilungen jegliche Art von Notfällen wie Polytraumata, Reanimationen oder Multiorganversagen. Sie sind aber auch verantwortlich für die Versorgung von komplexen Patienten wie etwa Tumorpatienten, in die eine Reihe von unterschiedlichen Spezialisten eingebunden ist. Auch hier sind die Vorhaltekosten höher, weswegen die Finanzierung ein Stück weit von den Fallpauschalen entkoppelt werden sollte.
Die Bundesregierung sieht Handlungsbedarf und hat ein Gesetz zur Reform der Notfallversorgung angestoßen, bei dem auch Vorschläge des DIVI eingeflossen sind. Der Entwurf sieht drei Maßnahmen vor: ein gemeinsames Notfallleitsystem (GNL), integrierte Notfallzentren (INZ) und die Etablierung des Rettungsdienstes als eigenständiger GKV-Leistungsbereich. Die integrierten Notfallzentren sollen vorab entscheiden, ob ein Patient ein Notfall ist und in eine Klinik muss. Für mich klingt das zunächst nach mehr Bürokratie und zusätzlichen Kosten.
Mit Blick auf die geplanten Notfallzentren gibt es sehr gute Ansätze, die sich international etabliert haben. Die Zentren sollen eine sogenannte Ersteinschätzung oder Triage vornehmen, bevor ein Patient direkt die Klinik ansteuert.
Idealerweise verläuft das so: Der Patient hat ein Problem und kann dann die Nummer 116117 anrufen und sich dort Rat holen. Dort erfolgt eine telefonische Ersteinschätzung. Dem Patienten wird eventuell geraten, das nächste integrierte Notfallzentrum aufzusuchen. So funktioniert das zum Beispiel in Dänemark. Dann erhält man eine Nummer, mit der man sich im Notfallzentrum vorstellen kann und wo man bereits erwartet wird. Vor Ort erfolgt eine zweite Ersteinschätzung, bei der zum Beispiel Blutdruck, Herzfrequenz und Fieber usw. gemessen werden. Dann wird der Patient entweder bei dringlichen Erkrankungen im Notaufnahmebereich des Krankenhauses weiterversorgt oder er wird bei einem weniger dringlichen Krankheitsbild im ambulanten Bereich der kassenärztlichen Vereinigung von einem Arzt gesehen.
Idealerweise ist solch ein INZ eine räumliche Einheit, in der man eng zusammenarbeitet, sich austauschen kann und auch im ambulanten Bereich die Ressourcen des Krankenhauses genutzt werden können, wenn es sinnvoll ist - zum Beispiel Labor, EKG, Röntgen oder Sonographie.
Insgesamt sollte man in einem INZ auf möglichst wissenschaftlich fundierte Art rasch eine korrekte Diagnose stellen, das Risiko des Patienten einschätzen und auf dieser Basis eine angemessene ambulante oder stationäre Versorgung einleiten.
Prallen hier verschiedene Interessen aufeinander? Zunächst geht es ja darum, Kosten einzusparen.
Aus Sicht der Krankenhäuser ist das vorrangige Ziel zunächst einmal, die Patienten zu identifizieren, die vital bedroht sind oder ernsthaft krank und deshalb schnell versorgt werden müssen, um einen möglichst guten Behandlungserfolg zu erzielen. Aus Sicht der kassenärztlichen Vereinigung ist das Ziel eher, zu verhindern, dass zu viele Patienten in den aufwändigeren Versorgungsweg eingeschleust werden und dass man Patienten mit banalen Erkrankungen ambulant versorgt. Die Herausforderung wird darin bestehen, beide Ziele in Einklang zu bringen. Da wünschen wir uns, dass wir konstruktiv mit der kassenärztlichen Vereinigung zusammenarbeiten. Das sollte aber auch, denke ich, bei gegenseitigem guten Willen möglich sein.
Grundsätzlich haben wir einen Mangel an Intensivpflegekräften.
Versicherungsbote: Ein Problem, auf das wir dank einer DIVI-Pressemeldung gestoßen sind, ist die Notfallversorgung von Kindern. Dort scheint die Situation dramatisch zu sein - bis dahin, dass Kliniken eine solche nicht mehr gewährleisten können.
Reimer Riessen: Die sehr personalintensive Kinder-Intensivmedizin leidet zum einen unter dem ausgeprägten Mangel an Intensivpflegekräften in Deutschland. Besonders im Bereich der Versorgung von Neugeborenen gelten sehr hohe und auch abrechnungsrelevante Anforderungen an den Personalschlüssel der Pflege, die zum Teil zur Verlagerung von Pflegepersonal aus anderen Bereichen der Kinder- Intensivmedizin auf die Neugeborenen-Intensivstation führen.
Insgesamt ist es aber aufwendig, schwerstkranke Kinder zu versorgen. Es handelt sich um Kinder mit Leukämien, mit angeborenen Herzfehlern, mit Stoffwechsel-Erkrankungen, genetischen Erkrankungen, die intensiv und lang behandelt werden müssen und bei denen auch eine Therapiebegrenzung im Vergleich zur Erwachsenen-Medizin schwer durchzusetzen ist: auch, weil die Eltern hohe Erwartungen an die Behandlung haben.
Eine individualisierte Hochleistungsmedizin dieser Art ist aufwendig und teuer – und ist irgendwann nicht mehr abbildbar durch die Fallpauschalen, die ja eher an häufigen Durchschnittsfällen ausgerichtet sind. Entsprechende Hochkosten- und Ausreißer-Fälle können eine Klinik finanziell ins Defizit bringen.
Der Mangel an Pflegekräften wird aktuell breit in den Medien debattiert. Wie ist die Situation bei Ihnen in Tübingen? Finden Sie ausreichend Pflegepersonal?
In Tübingen haben wir auch Betten sperren müssen, um das medizinisch notwendige Verhältnis von Pflegekraft zu Patient, den sog. Pflegeschlüssel, aufrecht zu halten und so die entsprechende Qualität zu garantieren. Leider konnte man in unserem Fallpauschalensystem bis vor Kurzem die medizinisch notwendigen Pflegeschlüssel ohne Sanktionen unterschreiten. Es ist erst seit letztem Jahr so, dass hier gesetzliche Vorgaben eingeführt wurden und Sanktionen drohen. Allerdings stehen nun nicht mehr genügend Pflegekräfte zur Verfügung, um die benötigten Stellen zu besetzten. Bei Personalmangel kann sich auch die arbeitsintensive Entwöhnung von einer Beatmungsmaschine verzögern und damit auch das Risiko von Komplikationen ansteigen. Paradoxerweise führen diese verlängerten Beatmungszeiten in unserem Abrechnungsystem jedoch zu einer höheren Vergütung.
Dann haben Sie eine Situation, in der Intensivstationen, die mit wenig Personaleinsatz schlechte Ergebnisse liefern und lange Beatmungsdauern aufweisen, finanziell besser dastehen als Stationen, die mit gutem Personaleinsatz gute Qualität leisten und Patienten wieder schnell entwöhnen von der Beatmungsmaschine. Im schlimmsten Fall landen schlecht versorgte Patienten dann auch in der Heimbeatmung und binden dort Pflegekräfte, die eigentlich in den Krankenhäusern dringend benötigt werden.
Wir haben in unserem Positionspapier als Alternative ein System vorgestellt, das im Universitätsklinikum Heidelberg schon seit den neunziger Jahren praktiziert und fortentwickelt wurde, das „INPULS“-System. Mit diesem kann man stations- und patientenspezifisch den intensivmedizinischen Pflegeaufwand sehr gut dokumentieren – um im Jahresmittel eine für die Station angemessene Personalbesetzung zu definieren. Denn im Betreuungsaufwand unterscheiden sich Intensivstationen doch zum Teil ganz erheblich.
Würde das bedeuten, dass auf der Basis solcher Erfassungsinstrumente sich für jede Klinik ein Pflegepersonal-Budget errechnen ließe?
Ja, zumindest ließe sich so die Zahl der für eine qualitativ hochwertige Versorgung notwendigen Pflegekräfte berechnen. Dies müsste dann ins Verhältnis gesetzt werden mit der Zahl der tatsächlich vorhandenen Pflegekräfte, um so eine objektive Grundlage für gg f. eine Au fstockung des Pflegepersonals zu bieten. Die Kosten für diese Pflegekräfte sollen in Zukunft nach einem Beschluss des Gesetzgebers ja separat von den Fallpauschalen über ein eigenes Pflegebudget finanziert werden. Wir würden hier gerne noch einen Schritt weiter gehen und die Notfall- und Allgemeinkrankenhäuser über ein Budget finanzieren, das alle Personal-, Infrastruktur- und Investitionskosten abdeckt. Über DRG-Fallpauschalen sollten die Sachkosten der Behandlungen abgedeckt werden.
Grundvoraussetzung dafür wäre eine versorgungsorientierte Krankenhaus-Strukturplanung auf regionaler und überregionaler Basis, bei der die Notfall- und Intensivversorgung und die Versorgung komplexer Patienten berücksichtigt wird. Auf Basis von Bevölkerungszahlen und epidemiologischen Zahlen sollten kompetent zusammengesetzte Gremien durchplanen und überlegen: Wo brauchen wir überall Notfallkrankenhäuser? Wie können diese auf den verschiedenen Versorgungsstufen optimal zusammenarbeiten? Wie müssen sie ausgestattet sein, damit sie ihre Rolle gut erfüllen können? Wie viele Intensiv-Betten brauchen sie? Wie groß muss die Notaufnahme ausgelegt sein, um die zu erwartende Zahl an Notfallpatienten auch versorgen zu können – mit kurzen Reaktionszeiten, also ohne ewig lange Wartezeiten? Und wie muss dieses Netzwerk praktisch ergänzt werden – zum Beispiel durch andere Krankenhäuser, die ältere Patienten nach der Notfallversorgung übernehmen und wieder zur Genesung bringen?
Aktuell haben wir die Situation, dass gerade Allgemeinkrankenhäuser, die systemrelevant sind, unter den größten wirtschaftlichen Druck geraten. Oft profitieren am meisten kleine Krankenhäuser, die Spezialleistungen anbieten, die in dem Ausmaß vielleicht gar nicht gebraucht werden. Rein nach marktwirtschaftlichen Aspekten ist dieses Problem nicht zu lösen.
Das Gespräch mit Prof. Reimer Riessen führte Mirko Wenig