Versicherungsbote: Ein Problem, auf das wir dank einer DIVI-Pressemeldung gestoßen sind, ist die Notfallversorgung von Kindern. Dort scheint die Situation dramatisch zu sein - bis dahin, dass Kliniken eine solche nicht mehr gewährleisten können.
Reimer Riessen: Die sehr personalintensive Kinder-Intensivmedizin leidet zum einen unter dem ausgeprägten Mangel an Intensivpflegekräften in Deutschland. Besonders im Bereich der Versorgung von Neugeborenen gelten sehr hohe und auch abrechnungsrelevante Anforderungen an den Personalschlüssel der Pflege, die zum Teil zur Verlagerung von Pflegepersonal aus anderen Bereichen der Kinder- Intensivmedizin auf die Neugeborenen-Intensivstation führen.
Insgesamt ist es aber aufwendig, schwerstkranke Kinder zu versorgen. Es handelt sich um Kinder mit Leukämien, mit angeborenen Herzfehlern, mit Stoffwechsel-Erkrankungen, genetischen Erkrankungen, die intensiv und lang behandelt werden müssen und bei denen auch eine Therapiebegrenzung im Vergleich zur Erwachsenen-Medizin schwer durchzusetzen ist: auch, weil die Eltern hohe Erwartungen an die Behandlung haben.
Eine individualisierte Hochleistungsmedizin dieser Art ist aufwendig und teuer – und ist irgendwann nicht mehr abbildbar durch die Fallpauschalen, die ja eher an häufigen Durchschnittsfällen ausgerichtet sind. Entsprechende Hochkosten- und Ausreißer-Fälle können eine Klinik finanziell ins Defizit bringen.
Der Mangel an Pflegekräften wird aktuell breit in den Medien debattiert. Wie ist die Situation bei Ihnen in Tübingen? Finden Sie ausreichend Pflegepersonal?
In Tübingen haben wir auch Betten sperren müssen, um das medizinisch notwendige Verhältnis von Pflegekraft zu Patient, den sog. Pflegeschlüssel, aufrecht zu halten und so die entsprechende Qualität zu garantieren. Leider konnte man in unserem Fallpauschalensystem bis vor Kurzem die medizinisch notwendigen Pflegeschlüssel ohne Sanktionen unterschreiten. Es ist erst seit letztem Jahr so, dass hier gesetzliche Vorgaben eingeführt wurden und Sanktionen drohen. Allerdings stehen nun nicht mehr genügend Pflegekräfte zur Verfügung, um die benötigten Stellen zu besetzten. Bei Personalmangel kann sich auch die arbeitsintensive Entwöhnung von einer Beatmungsmaschine verzögern und damit auch das Risiko von Komplikationen ansteigen. Paradoxerweise führen diese verlängerten Beatmungszeiten in unserem Abrechnungsystem jedoch zu einer höheren Vergütung.
Dann haben Sie eine Situation, in der Intensivstationen, die mit wenig Personaleinsatz schlechte Ergebnisse liefern und lange Beatmungsdauern aufweisen, finanziell besser dastehen als Stationen, die mit gutem Personaleinsatz gute Qualität leisten und Patienten wieder schnell entwöhnen von der Beatmungsmaschine. Im schlimmsten Fall landen schlecht versorgte Patienten dann auch in der Heimbeatmung und binden dort Pflegekräfte, die eigentlich in den Krankenhäusern dringend benötigt werden.
Wir haben in unserem Positionspapier als Alternative ein System vorgestellt, das im Universitätsklinikum Heidelberg schon seit den neunziger Jahren praktiziert und fortentwickelt wurde, das „INPULS“-System. Mit diesem kann man stations- und patientenspezifisch den intensivmedizinischen Pflegeaufwand sehr gut dokumentieren – um im Jahresmittel eine für die Station angemessene Personalbesetzung zu definieren. Denn im Betreuungsaufwand unterscheiden sich Intensivstationen doch zum Teil ganz erheblich.
Würde das bedeuten, dass auf der Basis solcher Erfassungsinstrumente sich für jede Klinik ein Pflegepersonal-Budget errechnen ließe?
Ja, zumindest ließe sich so die Zahl der für eine qualitativ hochwertige Versorgung notwendigen Pflegekräfte berechnen. Dies müsste dann ins Verhältnis gesetzt werden mit der Zahl der tatsächlich vorhandenen Pflegekräfte, um so eine objektive Grundlage für gg f. eine Au fstockung des Pflegepersonals zu bieten. Die Kosten für diese Pflegekräfte sollen in Zukunft nach einem Beschluss des Gesetzgebers ja separat von den Fallpauschalen über ein eigenes Pflegebudget finanziert werden. Wir würden hier gerne noch einen Schritt weiter gehen und die Notfall- und Allgemeinkrankenhäuser über ein Budget finanzieren, das alle Personal-, Infrastruktur- und Investitionskosten abdeckt. Über DRG-Fallpauschalen sollten die Sachkosten der Behandlungen abgedeckt werden.
Grundvoraussetzung dafür wäre eine versorgungsorientierte Krankenhaus-Strukturplanung auf regionaler und überregionaler Basis, bei der die Notfall- und Intensivversorgung und die Versorgung komplexer Patienten berücksichtigt wird. Auf Basis von Bevölkerungszahlen und epidemiologischen Zahlen sollten kompetent zusammengesetzte Gremien durchplanen und überlegen: Wo brauchen wir überall Notfallkrankenhäuser? Wie können diese auf den verschiedenen Versorgungsstufen optimal zusammenarbeiten? Wie müssen sie ausgestattet sein, damit sie ihre Rolle gut erfüllen können? Wie viele Intensiv-Betten brauchen sie? Wie groß muss die Notaufnahme ausgelegt sein, um die zu erwartende Zahl an Notfallpatienten auch versorgen zu können – mit kurzen Reaktionszeiten, also ohne ewig lange Wartezeiten? Und wie muss dieses Netzwerk praktisch ergänzt werden – zum Beispiel durch andere Krankenhäuser, die ältere Patienten nach der Notfallversorgung übernehmen und wieder zur Genesung bringen?
Aktuell haben wir die Situation, dass gerade Allgemeinkrankenhäuser, die systemrelevant sind, unter den größten wirtschaftlichen Druck geraten. Oft profitieren am meisten kleine Krankenhäuser, die Spezialleistungen anbieten, die in dem Ausmaß vielleicht gar nicht gebraucht werden. Rein nach marktwirtschaftlichen Aspekten ist dieses Problem nicht zu lösen.
Das Gespräch mit Prof. Reimer Riessen führte Mirko Wenig