Das Ansehen der privaten Versicherungswirtschaft hat während der Coronakrise gelitten: Hatten zuvor 22 Prozent der Deutschen eine eher negative Meinung über die Branche, so kletterte der Wert auf 43 Prozent. Das zeigt eine repräsentative Studie im Auftrag des Software-Anbieters Guidewire. Über die Gründe und Schlussfolgerungen sprach der Versicherungsbote mit René Schoenauer, Director Product Marketing EMEA bei Guidewire Software.
Versicherungsbote: Herr Schoenauer, laut einer Umfrage im Auftrag von Guidewire hat die Versicherungsbranche in Deutschland während der Coronakrise enorm an Vertrauen verloren. Können Sie kurz sagen, wie sehr das Vertrauen litt?
René Schoenauer: Wenn man sich den Medienspiegel vor allem während der Lock-Down-Phase der Covid-19-Pandemie genauer ansieht, fällt auf, dass die gesamte Branche bis auf wenige Ausnahmen mit negativen Meldungen in Verbindung gebracht wurde. Das hat natürlich seine Spuren in der öffentlichen Meinung hinterlassen, was wir auch in unserer Studie feststellen konnten. Beispielsweise sagt knapp jeder Fünfte der Befragten, dass die Versicherungsindustrie nicht genug für die Menschen in Not getan hat. Und fast jeder Dritte gibt an, künftig die Versicherungspolicen noch genauer lesen und verstehen zu wollen. Dieses Ergebnis deutet schon auch in gewisser Weise auf einen Vertrauensverlust hin. Ganz grundsätzlich lässt sich aber immer noch festhalten, dass Versicherer in der deutschen Bevölkerung ein hohes Vertrauen genießen.
Auch wenn es in der Umfrage meines Wissens nicht explizit abgefragt wurde: Was sind aus Ihrer Sicht Gründe für den Vertrauensverlust? Oder anders gefragt: Was haben die Versicherer in der Coronakrise falsch gemacht, so dass ihr Ansehen litt?
Lassen Sie es mich so formulieren: das durchaus positive Vertrauensverhältnis, das primär auch auf Erfahrungen rund um unbürokratischen und reibungslosen Schadenregulierungen beruht, hat durch Covid-19 und den Umgang der meisten Versicherungen mit den Versicherungsnehmern im Bereich der Betriebsschließungsvericherung und der Reiserücktrittsversicherungen deutlich gelitten. Meldungen in Tageszeitungen und landesweiten Nachrichtensendungen, dass namhafte Versicherungsunternehmen sich aus bestehenden Vertragsverpflichtungen quasi herauswinden, haben für viel Unmut gesorgt.
Es ist auch deutlich geworden, dass bei den Verbrauchern viel Unklarheit darüber herrscht, was genau in den Policen beispielsweise bei der Berufsunfähigkeitsversicherung enthalten ist. Ebenfalls ein Aspekt, der sich negativ auf das Vertrauen gegenüber Versicherern auswirkt. Daraus resultierend gibt knapp jeder Fünfte der Befragten in unserer Umfrage an, dass die Versicherungsindustrie nicht genug für die Menschen in Not getan hat. Und fast jeder Dritte nimmt sich vor, künftig die Versicherungspolicen noch genauer lesen und verstehen zu wollen.
…und haben Sie auch Momente beobachtet, von denen Sie sagen: Hut ab, hier hat die Versicherungsbranche in der Coronakrise schnell im Sinne der Kundinnen und Kunden reagiert und helfen können?
Leider wurden positive Momente, die es auch gab in dieser Zeit, durch das oben genannte Verhalten fast komplett überlagert. Zwar wurden HDI oder Signal Iduna als löbliche Ausnahmen in der Phalanx der Versicherer in den Medien genannt, doch Meldung dieser Art fanden in der Breite leider kaum Gehör.
Können Versicherer auch von der Coronakrise profitieren? Wie - und was müssen sie aus Ihrer Sicht hierfür tun?
Zum einen können Versicherer eine Lehre daraus ziehen, wie sensibel die Öffentlichkeit auf tatsächliche oder vermeintliche Ungerechtigkeiten reagiert. Allein der Verdacht, sich in der Not aus der Verantwortung zu stehlen, ist in der Lage, einen Reputationsschaden zu verursachen. Dadurch wird mühsam aufgebautes Vertrauen zerstört. Und Vertrauen ist gerade in der Versicherungsbranche das höchste Gut. Sich also noch einmal genau anzusehen, welche Fehler in der Kommunikation gemacht wurden, ist die eine Aufgabe, die nun alle betroffenen Anbieter auf ihrer To-Do-Liste stehen haben sollten.
Der andere Punkt ist, künftig Versicherungsbedingungen eindeutig zu formulieren und transparent aufzuzeigen, welche Schadenfälle abgedeckt sind und welche nicht. Dadurch ergeben sich im Umkehrschluss aber auch wieder Geschäftspotentiale, weil die Verbraucher durch Corona ein stärkeres Bewusstsein entwickelt haben für Risiken, wie beispielsweise Reiseausfall, Arbeitsplatzverlust oder Zahlungsausfall, die sie jetzt absichern wollen.
...die Verbraucherinnen und Verbraucher werden genauer hinschauen
Versicherungsbote: Hat die Coronakrise die Art und Weise verändert, wie Verbraucherinnen und Verbraucher auf Versicherungen schauen?
René Schoenauer: Ja, ich denke hier ist tatsächlich ein Umdenken zu spüren. Die Verbraucherinnen und Verbraucher werden, das hat unsere Umfrage deutlich gezeigt, nun viel genauer hinschauen, wenn es um das Kleingedruckte und die jeweiligen Deckungen bei ihren Versicherungen geht. Knapp ein Drittel der Befragten hat angegeben, dass sie künftig auch verstärkt Versicherungsdetails verschiedener Anbieter stärker vergleichen und sich nicht mehr so sehr darauf verlassen werden, dass es „schon passt“. Somit wird ein deutlich größerer Wert auf Transparenz und auf das genaue Verständnis der einzelnen Policen gelegt werden.
Laut Ihrer Umfrage ist für die Mehrheit der Verbraucher (84,1 Prozent) eine Computerversicherung sehr oder ziemlich wichtig, gefolgt vom Berufsunfähigkeits-Schutz (78,7 Prozent), der Kranken- (74 Prozent) und der Autoversicherung (73,8 Prozent). Versicherungs-Experten werden aufhorchen: Ein Computer ist leichter zu ersetzen als der Verlust der Arbeitskraft oder der Gesundheit. Werden hier nicht die Prioritäten falsch gesetzt? Was sind aus Ihrer Sicht Gründe, dass existenzbedrohende Risiken weniger wichtig erscheinen als der eigene Rechner?
Ich denke man befindet sich hier im Spannungsfeld zweier zentraler Faktoren: Kosten und Unmittelbarkeit. Die Masse der Versicherungsnehmer sind vermutlich finanziell viel eher in der Lage und bereit, einmal im Jahr einen überschaubaren Betrag für ihren Computer – den sie täglich in Gebrauch haben und der damit auch eine hohe immanente Relevanz für sie hat, aufzuwenden. Eine Berufsunfähigkeitsversicherung ruft ein deutlich höheres Kostenengagement auf. Hier geht es um monatliche Summen, die bei kleinen und mittleren Einkommen erst einmal verfügbar gemacht werden müssen.
Zudem spielt auch hier ein Vertrauensmoment in die Überlegungen ein: „Warum so viel Geld ausgeben, wenn es im Schadenfall eh nicht gezahlt wird“. Eine Studie der Versicherungsforen Leipzig aus dem Jahr 2019 zeigte auf, dass neben dem Preis und einem mangelndem Risikobewusstsein unter anderem auch das fehlende Vertrauen eines der Grundprobleme für die Berufsunfähigkeits- oder die Erwerbsunfähigkeitsversicherung ist.
Sie haben in der Studie auch erfragt, wie der Einsatz von künstlicher Intelligenz im Kundenservice der Versicherer aufgenommen und akzeptiert wird. Wie hoch ist die Akzeptanz? Und welche Möglichkeiten gibt es, KI im Kundenservice zu nutzen?
Mittlerweile wird in fast allen Sektoren KI eingesetzt – und so eben auch in der Versicherungsbranche. Die generelle Ablehnung von KI im Verkaufsprozess ist zwar bei Versicherungskunden mit 43,33 Prozent immer noch hoch, aber wir sehen hier auch relativ deutlich eine Kluft zwischen den Generationen. Denn fast jeder zweite der 16-24-Jährigen (43,24 Prozent) ist durchaus der Ansicht, dass die Kundenerfahrung verbessert wird, wenn verstärkt KI in den Verkaufsprozess von Versicherungen integriert ist.
Der persönliche Kontakt kann nicht komplett ersetzt werden
Versicherungsbote: Wir wissen aus anderen Umfragen, dass gerade im Kundenservice vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern der persönliche Kontakt mit einem Ansprechpartner aus Fleisch und Blut noch sehr wichtig ist. Glauben Sie, KI kann den persönlichen Kontakt dauerhaft ersetzen?
René Schoenauer: Die Antwort ist hier sehr eindeutig: Nein, der persönliche Kontakt kann nicht komplett ersetzt werden. Es geht mehr und mehr hin zum hybriden Ansatz – also Mensch plus KI. Dabei geht es darum, die jeweiligen Stärken der Kanäle, Technologien und Touchpoints so zu kombinieren und anzubieten, dass dem Versicherungsnehmer letztendlich ein optimales Produkt zur Verfügung gestellt werden kann. Zudem muss der Weg bis zur Unterzeichnung des Vertrags und darüber hinaus für den Kunden ein möglichst angenehmer, unkomplizierter und nahtloser sein. Auf den Punkt gebracht: Wenn der Versicherungsmakler dank KI ein passgenaues Angebot unterbreiten kann, dann ist das sicherlich ein Gewinn für alle Beteiligten.
Wo sehen Sie die Gefahren beim Einsatz künstlerischer Intelligenz in der Versicherungswirtschaft? Wo kann sie vielleicht eher schaden als nützen?
Grundsätzlich sind wir bei Guidewire davon überzeugt, dass die Vorteile von KI überwiegen werden. Dabei muss allerdings eine optimale Integration in operationale Prozesse stattfinden. Zudem ist notwendig, dass von KI getroffene Entscheidungen immer nachvollziehbar und dokumentierbar sind, weil sich sonst ein Transparenzproblem ergeben kann. Und es muss darauf geachtet werden, dass KI in den richtigen Momenten eingesetzt wird. Fehlende Emotion und Empathie im Schadenfall können sich zum Beispiel negativ auswirken. Auf der anderen Seite kann KI bei der Anwendung in der Kommunikation bei einfachen Schäden dem Versicherungsnehmer viel Arbeit abnehmen, wenn ein Schaden schnell automatisiert oder über einen Chatbot gemeldet wird. Entscheidend ist hierbei immer, dass der Kunde den von ihm bevorzugten Weg gehen kann.
..ein Blick in die Zukunft: Wie stark wird Corona die Versicherungsbranche ändern? Und wie?
Wir erwarten durch die aktuelle Pandemieereignisse eine deutliche Beschleunigung von Digitalisierungsmaßnahmen auf allen Ebenen und in allen Bereichen die nicht nur die Versicherungsnehmer erreichen, sondern für jeden Teilnehmer im Versicherungszyklus erlebbar werden. Das Omnikanal-Konzept wird zudem deutlich an Fahrt aufnehmen. Es muss jederzeit möglich sein, nahtlos über verschiedene Kanäle hinweg kommunizieren und sich austauschen zu können, ohne das Informationen verloren gehen. Voraussetzung dafür ist eine größere Transparenz von Prozessen, Systemen und letztendlich auch Daten.
Bei den Versicherern selbst wird sich der Arbeitsalltag, wie in so vielen Branchen, hin zu flexibleren und hybrideren Modellen bewegen. Auf verstärktes Remote Working oder Home-Office werden Versicherer sowohl mit einer Erhöhung der IT-Resilienz durch spezifische Sicherheitskonzepte als auch mit der Ausweitung der Cloud-Infrastruktur reagieren müssen. Nur so sind sie in der Lage, Arbeitsabläufe auch über die Distanz hinweg optimal zu gestalten.
Die Fragen stellte Mirko Wenig