Wenn sich Axel Kleinlein, Aktuar und ehemaliger Vorstandssprecher des Bundes der Versicherten (BdV), zum Thema Lebensversicherung äußert, dann meist kritisch. So auch in einem aktuellen Beitrag auf der Website seines Aktuarbüros math concepts. Darin warnt der 54-Jährige davor, dass den deutschen Lebensversicherern eine Kundenflucht mit der Rückabwicklung von Millionen Verträgen drohe. Denn es könnte sich zeigen, dass die Produkte nicht mit den Vorgaben der europäischen Versicherungsaufsicht (EIOPA) zum Kundennutzen der Verträge vereinbar sind.

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Grund sind Qualitätsstandards, die unter dem Begriff „Product Oversight and Governance“ zusammengefasst sind. Sie beziehen sich auf Prozesse und Strukturen, die von Versicherern und Finanzinstituten implementiert werden müssen, um die Entwicklung, Überwachung und Verwaltung von Finanzprodukten zu steuern. Und dabei schreibt die europäische Versicherungsaufsicht den Lebensversicherern vor, dass sie bereits bei der Einführung neuer Produkte den Kundennutzen berücksichtigen müssen. In der englischen Sprache wird dies mit dem Begriff „Value for money“ (Kosten-Nutzen-Verhältnis) umschrieben.

Hat die deutsche Finanzaufsicht europäische Regeln ignoriert?

Konkret wird Kleinlein den deutschen Lebensversicherern vor, dass ihre Produkte keinen ausreichenden Kundennutzen haben. Er beruft sich hierbei auf eine Studie zu Riester- und Basis-Renten, die er gemeinsam mit einem Recherche-Team der Bürgerbewegung Finanzwende Anfang des Jahres vorgestellt hat. Denn der Kundennutzen wird auch daran gemessen, welche Renditen die Verträge langfristig erzielen. Und das bedeutet, die Rendite nach Kosten muss oberhalb der begründeten Inflationserwartung liegen.

“Die deutsche Aufsicht hat diese europäische Regelung lange Zeit ignoriert“, kritisiert Kleinlein. Bereits seit etwa fünf Jahren müssten sich die Versicherer EU-weit an den „Value for money“ orientieren. Doch erst im letzten Jahr habe die BaFin mit einem Merkblatt die Wohlverhaltensregeln auch in Deutschland - zumindest teilweise - umgesetzt. Wie hoch die Rendite der Produkte sein muss, dazu fehlen genaue Vorgaben. Allerdings hat die BaFin als Orientierungswert für den realen Anlageerfolg das „mittelfristige Inflationsziel der Europäischen Zentralbank“ ausgewiesen, folglich pro Jahr etwa zwei Prozent Rendite nach Kosten.

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Laut der Untersuchung von Finanzwende und Kleinlein können die Produkte aber keinen derartigen Kundennutzen vorweisen, weil die Rendite bei fast allen Produkten niedriger ist. „Für aktuelle Produkte zeigt sich: Fast nie liegt ein hinreichender Kundennutzen vor! Nach der europäischen Regelung darf aber eben genau das gar nicht der Fall sein“, schreibt Kleinlein in seinem Blog. Die Produkte hätten nach seiner Ansicht folglich nicht eingeführt werden dürfen. So heiße es in der delegierten Verordnung der EU explizit, die Lebensversicherer „bringen Versicherungsprodukte nicht auf den Markt, wenn sich aus der Produktprüfung ergibt, dass diese den ermittelten Bedürfnissen, Zielen und Merkmalen des Zielmarktes nicht entsprechen“, so zitiert Kleinlein aus den Vorgaben.

Droht ein neuer Widerrufsjoker?

Wenn sich aber herausstellen sollte, dass die deutschen Versicherer gegen EU-Vorgaben verstoßen haben, könnte eine ähnliche Situation wie bei Versicherungen nach dem sogenannten Policenmodell drohen. Zur Erinnerung: Sowohl der Europäische Gerichtshof (EuGH) als auch der Bundesgerichtshof (BGH) hatten festgestellt, dass Lebensversicherungen, die zwischen 1994 und 2007 nach dem Policenmodell abgeschlossen wurden, rückabgewickelt werden können - vorausgesetzt, der Kunde bzw. die Kundin weist nach, fehlerhaft über den Widerruf belehrt worden zu sein. Denn die Verbraucher bekamen die Vertragsinformationen bei diesen Verträgen erst zugeschickt, nachdem sie ihn bereits unterzeichnet hatten - ein Verstoß gegen EU-Verbraucherrecht.

Der Vorteil der Rückabwicklung gegenüber einer Kündigung: Die Kundinnen und Kunden erhalten deutlich mehr Geld. Denn bei einer Rückabwicklung bekommen die Verbraucher ihre eingezahlten Beiträge verzinst wieder zurück, was bei einer vorzeitigen Kündigung der Lebensversicherung nicht der Fall ist. Auch Kosten für Vertrieb und Verwaltung dürfen die Versicherer in diesem Fall nicht abziehen.

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Studie des Bürgervereins ist umstritten

Allerdings ist die Studie des Bürgervereins Finanzwende selbst umstritten. Kleinlein hatte unter anderem argumentiert, dass die Versicherten sehr alt werden müssten, damit sich die untersuchten Rürup- und Riester-Renten für sie lohnen. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 85 Jahren sei eine Rendite von zwei Prozent nicht zu erreichen. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Verträge auch das Langlebigkeitsrisiko absichern: Die Rente wird bis zum Lebensende gezahlt, unabhängig davon, wie alt der Vertragsinhaber wird. Das kann ein Nachteil sein, wenn die Person früh stirbt - aber auch ein Vorteil, wenn sie tatsächlich ein hohes Alter erreicht. Denn dann sind die Renditen höher, weil die Rente auch länger gezahlt wird.

Max Happacher, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV), hat demnach auf die steigende Lebenserwartung der Deutschen hingewiesen. „Fakt ist, dass die Lebenserwartung und damit die Dauer des Rentenbezugs der Bevölkerung steigen. Das besagen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes eindeutig. Die Wahrscheinlichkeit für Jahrgänge, die in das Erwerbsleben einsteigen, teilweise deutlich älter als 85 zu werden, ist äußerst hoch. Daher gilt es, bei staatlich geförderter privater Altersvorsorge mehr als nur das Renditepotenzial anzusetzen, wenn man vom Kundennutzen spricht. Eine lebenslange Altersrente stellt sicher, dass nicht plötzlich das Geld ausgeht, wenn noch für einen großen Teil der Bevölkerung mehrere Jahre Leben mit allen damit einhergehenden Kosten bevorstehen. Sie ist wichtig zur Lebensstandardsicherung und zur Bekämpfung von Altersarmut“, positionierte sich der Aktuar.

Doch die BaFin werte die Absicherung des Langlebigkeitsrisikos als Kundennutzen, berichtet Happacher - ein Umstand, der auch den Studienmachern der Finanzwende bekannt ist. Diese Sicherheit werde „zu teuer erkauft“, sagte Britta Langenberg von der Bürgerbewegung bei der Vorstellung der Studie Anfang des Jahres. Weitere Kritikpunkte an der Studie: Finanzwende habe bei den Renditeberechnungen offenbar nicht berücksichtigt, dass staatliche Förderungen (Zulagen und/oder Steuervorteile) die Rendite der Kunden erhöhen - und diese deshalb nicht einberechnet. Außerdem habe man bei Fondspolicen mit den Effektivkosten gerechnet, die im Produktinformationsblatt (PIB) ausgewiesen werden. Hier seien die Versicherer aber gesetzlich verpflichtet, die maximal möglichen Kosten für den teuersten Fonds auszuweisen, während die tatsächlichen Kosten oft darunter lägen.

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Es war aber nicht zuletzt die BaFin selbst, die nach einem Marktvergleich Zweifel angemeldet hat, ob alle getesteten Produkte wirklich hätten zugelassen werden dürfen. Wurde auch eine große Spannbreite bei den Kosten der Verträge festgestellt, so lagen diese bei einigen oft verkauften Verträgen bei vier Prozent und mehr. „Die im Mittel zu beobachtenden Effektivkosten erscheinen bei den längeren Laufzeiten angesichts dieser Zielsetzung vertretbar. Die höheren Effektivkosten in der Spitze lassen aber ernsthaft daran zweifeln, dass die Produktfreigabeverfahren den Interessen, Bedürfnissen und Merkmalen des Zielmarktes ausreichend Rechnung getragen haben – so, wie es die Wohlverhaltensregeln vorgeben“, schrieb die Behörde im März 2022. Folgt man den Ausführungen Kleinleins, wird das Problem schnell deutlich: Diese Verträge dürften auch gegen EU-Vorgaben verstoßen.

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