Entgegen zahlreicher Warnungen von Verbraucherschützen und aus der Wissenschaft hätte sich Deutschland die „vermurkste Regelung von der Branche in die Feder diktieren lassen“, bewertet die Verbraucherzentrale Hamburg (VZHH) die aktuelle Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes zum Rücktrittsrecht bei Lebensversicherungen. Die Organisation empfiehlt betroffenen Verbrauchern, jedoch zunächst die Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) abzuwarten, der in den nächsten Wochen den Richterspruch auf nationaler Ebene umzusetzen muss. Definitiv könne der BGH bestehende Regelungen nicht mit dem neuen Europarecht in Einklang bringen. Daher könnten Verbraucher auch Ansprüche gegen die Bundesrepublik geltend machen, heißt es in der VZHH-Stellungnahme.

Erst seit 2008 gilt, dass Kunden Vertragsbestimmungen vor dem Vertragsabschluss ausgehändigt werden müssen. Davor gab es das sogenannte „Policenmodell“, bei dem der Versicherungsnehmer den Vertrag unterschrieben hatte und weitere Informationen erst erhielt, wenn ihm auch die Police zugestellt wurde. Er konnte lediglich in den ersten 14 bis maximal 30 Tagen vom Vertrag zurücktreten, auch wenn die Unterlagen noch nicht eingegangen waren. Der Versicherer konnte aber spätestens nach einem Jahr davon ausgehen, dass der Vetrag gültig ist.

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Schallende Ohrfeige für die Branche

„Dies ist eine schallende Ohrfeige für die Versicherungsbranche“ so Axel Kleinlein. Der Vorstandssprecher des Bundes der Versicherten (BdV) warnt davor, den Versicherungsunternehmen nun zuviel Gehör zu schenken: „Die Versicherer beginnen, sich als Opfer darzustellen, die Milliarden zu zahlen hätten.“ Nach Auffassung des BdV sollte sich die Branche nüchtern der Diskussion über die Folgen des Urteils stellen.

„Ich hoffe, dass endlich einmal die Versicherungsunternehmen selbst die Verantwortung übernehmen“, erklärt Kleinlein. Bei ähnlichen Sachverhalten haben die betroffenen Unternehmen in der Vergangenheit hauptsächlich die Überschüsse der Kunden gesenkt, um Managementfehler zu heilen. Somit haben bislang meist die Versicherungsnehmer selbst für die Fehler der Versicherungsvorstände bezahlt.

Lebensversicherung nicht vorzeitig kündigen

„Auf keinen Fall sollten Verbraucher vorschnell handeln und ihren Lebensversicherungsverträgen widersprechen“ mahnt Kleinlein. Manche Altverträge hätten noch eine passable Garantieverzinsung von bis zu 4 Prozent, sodass sich nicht immer ein Widerspruch rentiert.

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Die Folgen sind nach Ansicht der Verbraucherschützerin der VZHH Edda Castelló allerdings noch gar nicht abschätzbar. Auch Kleinlein warnt, den tatsächliche Umfang der betroffenen Verträge zu beziffern. Ob die Regelung auch bereits gekündigte Lebensversicherungen betrifft, bleibt ebenfalls abzuwarten.

VZHH, BdV