Pillen statt Beschäftigung? Dass zu viele Senioren in deutschen Altenheimen mit Medikamenten ruhig gestellt werden, statt Zuwendung zu erhalten, daran lassen Untersuchungen keinen Zweifel. Speziell Demenzkranke sind davon betroffen. Laut einer Studie des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen leben in Deutschland 1,1 Millionen Demenzpatienten, von denen 240.000 zu Unrecht mit Psychopharmaka behandelt werden. Sie schlucken nicht nur eine Pille, sondern fünf bis zehn oder mehr Medikamente gleichzeitig – ohne Rücksicht auf die Nebenwirkungen.

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Das Amtsgericht München will die Vergabe von Pillencocktails nun deutlich erschweren. Für die „Initiative München, Psychopharmaka in Alten- und Pflegeheimen“ haben sich die Juristen mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen Bayern und dem Bayerischen Hausärzteverband zusammengetan, um Maßnahmen zur Eindämmung des Psychopharmaka-Missbrauchs auszuarbeiten. Hat die Initiative Erfolg, könnte sie auch über die bayerischen Landesgrenzen hinaus Wirkung entfalten – und dazu beitragen, dass Selbstbestimmung und Menschenwürde in deutschen Altersheimen noch mehr Beachtung finden.

Psychopharmaka-Vergabe wird rechtlich wie Fixierung durch Fesseln bewertet

Dass ruhigstellende Medikamente nicht einfach gedankenlos verschrieben und verabreicht werden dürfen, zeigt bereits die rechtliche Einordnung. Der Betreuer muss für Psychopharmaka beim Amtsgericht eine betreuungsrechtliche Genehmigung einholen, sofern nicht die Heilung des Patienten Hauptzweck der Verschreibung ist. Dabei wird die Notwendigkeit der Medikamentenvergabe geprüft – und im Zweifel auch dagegen entschieden.

Bewertet wird die medikamentöse Ruhigstellung laut § 1906 Absatz 4 BGB ähnlich der mechanischen Fixierung einer Person. Also so, als würde der Patient mit Händen und Füßen an das Bett gefesselt, weil von ihm eine Gefahr ausgehen könnte. Nicht ohne Grund sind die juristischen Hürden so hoch: Die Vergabe von Psychopharmaka kann die Persönlichkeit des Betroffenen beeinflussen, seinen Willen brechen und die Selbstbestimmung gefährden. Folglich stellt auch das Amtsgericht München solche Anträge nur in verschwindend geringer Zahl aus.

Wie verträgt sich die strenge rechtliche Bewertung mit der Feststellung, dass in Pflegeeinrichtungen zu viel Psychopharmaka verabreicht wird? Allein in München erhalten 51 Prozent aller Patienten in Alten- und Pflegeheimen ruhigstellende Mittel, wie eine Erhebung der Fachstelle für Qualitätssicherung in der Altenpflege ergab. Der Verdacht liegt nahe, dass in manchen Fällen die Patienten gegen geltendes Recht mit Pillencocktails vollgepumpt werden.

Verfahrenspfleger soll Interessen des Heimbewohners vertreten

Zur Eindämmung des Psychopharmaka-Missbrauchs in Heimen präsentiert das Amtsgericht München nun einen Maßnahmenkatalog. Wichtiger Teil der Initiative ist die bereits genannte Zusammenarbeit mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen und dem Bayrischen Hausarztverband. Die Verbände sollen Ärzte, Pfleger und Einrichtungen für die Genehmigungsbedürftigkeit der Verschreibungen sensibilisieren. Zudem müssen Gutachter sowie Betreuer zukünftig ausführlicher über die Wirkung des Medikaments Bericht erstatten.

Doch damit nicht genug: Bei Eingang eines Antrages auf Genehmigung einer Medikation bestellt das Gericht zukünftig einen sogenannten „Verfahrenspfleger“, der bereits über praktische Berufserfahrung in der Pflege verfügen muss. Aufgabe des Verfahrenspflegers ist es, die Interessen des Patienten zu vertreten.

„Diese Verfahrenspfleger verfügen sowohl über pflegefachliches als auch juristisches Wissen“, heiß es hierzu in der Pressemeldung des Amtsgerichtes München. „Sie können daher mit den Pflegeverantwortlichen, Angehörigen, rechtlichen Betreuern sowie den Ärzten in der Einrichtung auf Augenhöhe diskutieren und nach alternativen Lösungen suchen.“ Am Ende soll eine gemeinsam ausgearbeitete Lösung stehen, mit der alle beteiligten Parteien leben können.

Positive Erfahrungen mit ähnlicher Initiative

Die Initiative orientiert sich am sogenannten „Werdenfelser Weg“, den das Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen ins Leben gerufen hat. Und das durchaus mit Erfolg, konnte doch in München die Zahl der Fixierungen mit dieser Methode reduziert werden: von 12 Prozent im Jahr 2011 auf unter 5 Prozent in 2013.

Doch ein wichtiges Problem in der Pflege bleibt bestehen. Der Psychopharmaka-Missbrauch greift auch deshalb um sich, weil viele Pfleger schlicht überfordert sind. „Die Zeit am Patienten ist viel zu knapp. Auf manchen Stationen laufen die Kranken- und Altenpfleger zwölf Kilometer am Tag, kümmern sich in Nachtschichten alleine um 30 Patienten“, berichtete Bettina Mandhaus, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende des Südharz-Klinikums, auf einem Pflegekongress der SPD. In Schweden und Norwegen hingegen betreue ein Pfleger nur acht bis zehn Pflegebedürftige.

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Auch fördert das Gesundheitssystem indirekt den Missbrauch: je schlechter es einer Person geht, desto mehr Geld erhält die Pflegeeinrichtung für die Betreuung des Patienten. Zumindest finanziell besteht also kein Anreiz, sich mehr um die älteren Menschen zu kümmern.