“Wir sind auf der Schnellstraße zur Vollbeschäftigung“ - mit diesem Zitat hat sich vor wenigen Jahren der frühere Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) viel Spott eingefangen. Zu abwegig schien trotz positiver Konjunkturentwicklung die Vorstellung, dass schon bald alle Menschen in der Bundesrepublik Arbeit finden könnten.

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Doch nun hat sich ernsthaft das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Frage gewidmet, ob die Vollbeschäftigung ein realistisches Ziel ist. Dabei kommt die Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit zu einem optimistischen Fazit. Demnach sei es langfristig möglich, die Arbeitslosigkeit auf einen Wert zwischen zwei und drei Prozent zu senken. Das entspräche einer Arbeitslosenzahl von rund einer Million, wie IAB-Forscher Enzo Weber erklärt (nähere Informationen: IAB Kurzbericht 15/2014).

Vollbeschäftigungspolitik muss langfristig orientiert sein

Zu einer Absenkung der Arbeitslosigkeit werde es aber keineswegs automatisch kommen, sagt Weber. „Vielmehr bedarf es weiterer Anstrengungen vor allem im Bildungssystem und in der Arbeitsmarktpolitik sowie bei der Stärkung von Wettbewerb und wirtschaftlicher Dynamik, um die Voraussetzungen für Vollbeschäftigung zu schaffen“, erklärt der IAB-Forscher. Zudem unterstreicht Weber: „Die Vollbeschäftigungspolitik muss langfristig orientiert sein, unabhängig von aktuellen Konjunkturschwankungen.“

Als wichtigste Voraussetzung nennt Weber eine hohe Qualität des Bildungssystems. Vor allem müsse es gelingen, bildungsbenachteiligte Jugendliche besser zu integrieren und zu qualifizieren. „Eine erfolgreiche Politik in diesem Feld könnte die Lage auf dem Arbeitsmarkt mit den nachrückenden Jahrgängen schrittweise verbessern“, schreibt Arbeitsmarktforscher Weber.

In der Arbeitsmarktpolitik komme der Qualifizierung Arbeitsloser eine entscheidende Bedeutung zu, so Weber. Qualifizierung ermögliche es Arbeitsuchenden, den steigenden Anforderungen des Arbeitsmarktes gerecht zu werden. Hier gelte es, insbesondere Arbeitslose mit schlechteren Marktchancen zu erreichen. Bei diesem Ziel komme es auch auf eine intensive und individuelle Betreuung an.

Vergleich heutiger Entwicklungen mit jenen in der Wirtschaftswunderzeit

Weber nutzt in seiner Studie zeitliche und räumliche Analysen. So vergleicht er beispielsweise die Neuzugänge und Abgänge in die Arbeitslosigkeit heute mit jenen in der Wirtschaftswunderzeit. Im Mittelpunkt steht hier die Frage: Wieviele Menschen werden erstmals arbeitslos und wieviele finden aus der Arbeitslosigkeit wieder heraus?

Während sich die Zugänge in Arbeitslosigkeit kaum vermeiden lassen, sieht er durchaus Chancen, die Abgangsraten aus Arbeitslosigkeit wieder an die damaligen Werte anzunähern. Gelänge dies, sei eine Arbeitslosenquote von rund 2,5 Prozent erreichbar. „Dafür kommt es allerdings darauf an, dass die Probleme der strukturellen Arbeitslosigkeit gelöst werden können“, hält Weber fest. Schon heute würden rein rechnerisch jeden Tag 20.000 Menschen die Arbeitslosigkeit wieder verlassen.

Auch eine räumliche Betrachtung lasse Vollbeschäftigung als erreichbar erscheinen: Einige Arbeitsagenturbezirke in Süddeutschland wiesen im Jahr 2013 Arbeitslosenquoten nahe oder sogar unter drei Prozent auf. Spitzenreiter waren Ingolstadt mit 2,3, Freising mit 2,4 und Donauwörth mit 2,8 Prozent. „Auch heute sind also in Deutschland, zumindest regionalspezifisch, Arbeitslosenquoten im Bereich der Vollbeschäftigung möglich“, argumentiert Weber. Gebiete nahe der Vollbeschäftigung bezeichnet der Forscher als „Superstar-Regionen“.

Keine Volkswirtschaft ohne Arbeitslosigkeit?

In seiner Analyse verweist Weber darauf, dass ein bestimmtes Maß an Arbeitslosigkeit zu einer dynamischen Volkswirtschaft dazugehöre – etwa, weil Menschen auch Zeit brauchen, nach dem Studium oder der Schule einen geeigneten Job zu finden. Dass es eine Arbeitslosigkeit von 0 Prozent gibt, sei also utopisch. Deshalb könne bereits von Vollbeschäftigung gesprochen werden, wenn eine Arbeitslosigkeit zwischen 2 und 3 Prozent erreicht wäre.

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Auf negative Entwicklungen am Arbeitsmarkt geht Enzo Weber hingegen kaum ein – etwa, dass es immer mehr prekäre Beschäftigung gibt, so dass Menschen befristet angestellt sind und schlecht bezahlt werden. Auch auf die steigende Zahl von Berufsunfähigen und Aufstockern berücksichtigt Weber nicht. Wichtig ist eben nicht nur, dass Menschen eine Arbeit finden - sondern auch, dass es eine würdevolle Arbeit ist, von der sie leben können.

IAB Kurzbericht 15/2014