Gibt man bei Google den Begriff „§89VAG“ ein, scheint sich geradewegs das Tor des Hades aufzutun: Von „Kernschmelze der Lebensversicherung“ ist da die Rede, von einer „Geplanten Enteignung der Verbraucher“, einem „staatlichen Raubzug“ – oder auch dem „Todesstoß für die Lebensversicherung“. Schaut man sich die Quellen dieser Blogbeiträge an, so fällt auf, dass einige einschlägig bekannte Plattformen für Verschwörungstheorien darunter sind, viele Finanzmakler mit ausgeprägtem Sachwert-Portfolio – aber kein einziges unabhängiges Medium. Ist der §89VAG also ein Mythos, der von der Presse totgeschwiegen wird?

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Solvency II: Versicherungsaufsichtsgesetz wird weiter verschärft

In Zukunft werden diese Blogeinträge weniger werden, aber nicht, weil die Verfasser plötzlich zur Einsicht gekommen wären, dass das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) dem Schutz der Versicherten dient, sondern weil sich im Zuge einer Gesetzesreform dieser Paragraph ab 1. Januar 2016 wortgleich unter der Bezeichnung §314VAG finden lassen wird. Am 5. Februar dieses Jahres hat der Bundestag eine Neufassung des VAG in deutlich umfangreicherer Form angenommen. Die alten Paragraphen, die für die Beaufsichtigung der Versicherer dienen (§81 bis §103a) findet man nun, neben weiteren Vorschriften zur Versicherungsaufsicht unter §294 bis §330.

Das neue VAG wurde notwendig, um die europäische Solvency-II-Richtlinie in deutsches Recht zu überführen. Diese Richtlinie führt weiterentwickelte Solvabilitätsanforderungen für Versicherungsunternehmen ein, denen eine ganzheitliche Risikobetrachtung zugrunde liegt. Sie stellt dabei neue Bewertungsvorschriften hinsichtlich Vermögenswerten und Verbindlichkeiten auf, die mit Marktwerten anzusetzen sind. Dieses neue Aufsichtsregime soll neben der Harmonisierung des Aufsichtsrechts vor allem der Verringerung des Risikos der Insolvenz eines Versicherungsunternehmens dienen. Kurioserweise wird dennoch ausgerechnet das VAG von Verschwörungstheoretikern und Blogautoren verwendet, um das genaue Gegenteil zu postulieren. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf den aktuellen §89 verwendet, der ab 2016 Paragraph 314 heißen wird.

Welches Ziel hat der §89 des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG)?

In dem betreffenden Paragraphen ist davon die Rede, dass alle Zahlungen bei Lebensversicherungen zeitweilig verboten werden können. Aus diesem Zahlungsverbot leiten einige Blogverfasser das Ende der Lebensversicherung ab. Diese sei somit nicht mehr sicher. Der Anleger solle sich besser auf andere Anlageformen fokussieren.

Wer diesen Schluss zieht, verkennt allerdings den institutionellen Hintergrund und Zweck dieses Paragraphen, der übrigens nur einer von vielen des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) ist, die alle dasselbe Ziel verfolgen: Den Versicherungsnehmer im Insolvenzfalle bestmöglich zu schützen. Auch gelegentliche Verweise darauf, dass dieser Paragraph später heimlich hinzugefügt worden sei, ist eine freie Erfindung des Verfassers. Tatsächlich war dieser Paragraph schon von Anfang an Teil des Gesetzes.

Die Entscheidungsgewalt liegt bei der BaFin

Kritiker des §89 VAG verkennen weiterhin die Rechtslage zur Entscheidungsgewalt, die sich hinter dem VAG verbirgt. Keinesfalls verhält es sich so, dass jeder Versicherer von heute auf morgen unter Bezugnahme dieses Paragraphen willkürlich Zahlungen einstellen kann.

Vielmehr obliegt die Initiative für den Gebrauch dieses Paragraphen ausschließlich der zuständigen Aufsichtsbehörde, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Und diese wird diese Maßnahme voraussichtlich zusätzlich noch mit dem Bundesminister für Finanzen abstimmen müssen. Die BaFin wird diesen Schritt auch nur dann gehen, wenn andere mögliche Alternativen wie eine Insolvenz des Unternehmens für die betroffenen Kunden eine schlechtere Wahl wären. Sie kann also eine Herabsetzung der Zahlung anordnen, um eine komplette Zahlungsfähigkeit des Unternehmens zu verhindern, damit die Kunden dann nicht ihren kompletten Versicherungsschutz verlieren.

Deshalb gehört der §89VAG auch gemeinsam mit weiteren Paragraphen zu einer Gruppe, die „Insolvenzschutzparagraphen“ genannt werden. Hierbei wird das besondere Interesse des Gesetzgebers am Versicherungswesen offenbar: Versicherungsschutz ist ein hohes und wichtiges Rechtsgut, das nicht einfach aufgegeben werden kann, wie etwa der Anspruch auf Rendite bei einer Geldanlage.

Den §89VAG müssen auch Versicherungsvorstände fürchten

Hinzu kommt, dass der §89VAG für Versicherte der letzte Rettungsanker in einem Worst-Case-Szenario darstellt. Die BaFin muss sich auch hier nach dem Wohl des Kunden richten. Sie wird daher, bevor sie den §89 anwenden wird, sämtliche anderen ihr zur Verfügung stehenden Gesetze und Verordnungen anwenden.

Wenn ein Versicherer in eine solche Lage geraten ist, dass die Anwendung des §89VAG in Betracht gezogen werden muss, wird sich zudem nicht vermeiden lassen können, dass die Eigentümer des Versicherers stärker in die Pflicht genommen werden. Mögliche Maßnahmen, die in solchen Fällen ergriffen werden können, können letzten Endes auch zur Abberufung von Vorstandsmitgliedern führen. Die Frage, wer als Vorstandsmitglied geeignet ist und wer nicht, ist nun ebenfalls im neuen VAG geregelt wurden. Dort heißt es beispielsweise im neu geschaffenen §24VAG, dass Vorstände und andere mit Schlüsselaufgaben betraute Personen über bestimmte berufliche Qualifikationen, Kenntnisse und Erfahrungen verfügen müssen – Eigenschaften, die man in der Praxis unter Beweis zu stellen hat.

Der Paragraph kam noch nie zur Anwendung

Seit Bestehen des Gesetzes ist der §89VAG noch nie zur Anwendung gekommen und es spricht aktuell wenig dafür, dass dies beim neuen §314 der Fall sein wird. Aber für Versicherte ist es ein gutes Gefühl zu wissen, dass im Falle von Schwierigkeiten auf Seiten der Versicherungsgesellschaft eine Menge Gegenmaßnahmen greifen, die dazu führen, dass der Versicherungsschutz vertragsgemäß aufrechterhalten werden kann. Denn das ist auch der Grundgedanke einer Versicherung: Sicherheit.

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Der Autor: Henning Kühl studierte an der Universität Trier Wirtschaftsmathematik und ist Mitglied in der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV). Als leitender Aktuar verantwortet Henning Kühl bei Policen Direkt die Verwaltung des Policenbestandes