Bundesregierung verschläft Maßnahmen gegen Demografie
Demografie: "Vergreisung kostet uns 497.000.000.000 Euro" verkündet Die Welt aufgeregt. Und es könne noch schlimmer kommen: Die Prognose für das Wirtschaftswachstum bis 2060 sei nur schwer erreichbar und das Verhalten der Bundesregierung wirklichkeitsfern und träge.
Dabei macht es den Anschein, als habe die große Koalition die demografische Entwicklung durchaus im Blick. So veranstaltet sie alle paar Jahre Demografiegipfel, zudem verfolgt sie eine "Demografiestrategie", welche sie erst im Januar verabschiedete. Die Öffentlichkeit hat davon wenig mitbekommen. Das Strategiepapier heißt "Jedes Alter zählt". Das klingt ziemlich entspannt.
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Der mehr als 400 Seiten starke Alterungsbericht, den die Europäische Kommission gestern veröffentlichte, macht allerdings deutlich, dass das Thema Vergreisung Deutschland sehr hart treffen könnte. Während Politiker anderer EU-Staaten den Rentnern weniger umfangreiche Wohltaten zukommen lassen, lasten deutsche Politiker den Steuer- und Beitragszahlern in der Republik mit ihrem Wohlwollen gegenüber den Greisen einiges an Kosten auf, so die Welt. Der Alterungsbericht für Deutschland zeigt, dass die jährlichen öffentlichen Ausgaben für Renten, Gesundheit und Pflege von 19,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2013 auf fast 24 Prozent im Jahr 2060 anwachsen werden. Der scheinbar moderate Anstieg von "nur" 4,8 Prozentpunkten bedeutet dabei eine beachtliche dreistellige Milliardensumme. Die EU-Projektionen gehen dabei davon aus, dass die deutsche Wirtschaft weiter wächst, bescheiden zwar, aber im langfristigen Durchschnitt um rund ein Prozent im Jahr.
Mehrbelastungen im dreistelligen Milliardenbereich
Unter diesen Voraussetzungen entspricht die Mehrbelastung gegenüber dem Vergleichsjahr 2013 bereits im Jahr 2025 einem dreistelligen Milliardenbetrag. Im Jahr 2060, so lässt sich anhand des Berichts ausrechnen, müssten deutsche Steuer- und Beitragszahlern circa 497 Milliarden Euro zusätzlich leisten, das ist fast eine halbe Billion Euro. Alles in allem ist auf Grundlage der vorliegenden Zahlen zu erwarten, dass sich die jährlichen Ausgaben für Renten, Gesundheit und Pflege annähernd verdoppeln – von 520 Milliarden Euro 2013 auf 1017 Milliarden Euro im Jahr 2060 (in Zahlen: 1.017.000.000.000 Euro). Dies gilt aber nur im best case, wenn alles gut geht. Denn die Annahmen, von denen die EU-Kommission ausgeht, können als durchaus optimistisch eingestuft werden.
In Brüssel nimmt man an, dass es an der aktuellen Rentengesetzgebung keine Änderungen geben wird, dass "Risiken existieren" räumen sie allerdings ein. Denn die Senioren stellen zwangsläufig einen immer größeren Teil der Wählerschaft. Maßnahmen wie die deutsche "Rente mit 63" und oder die "Mütterrente", so unterstellt die Zeit, würden da wahrscheinlich keine Ausnahmen bleiben, da "die Politik" teuren Geschenken an die ältere Generation nicht widerstehen könne.
Außerdem erwartet die EU-Kommission offenbar an gleich mehreren Stellen Trendwenden zum Besseren. Für Deutschland etwa wird angenommen, dass Frauen wieder mehr Kinder bekommen. Die Fertilitätsrate wird, so die Annahme, von 1,40 (2013) auf 1,63 (2060) steigen. Dies würde das Wirtschaftswachstum tendenziell erhöhen und damit die Finanzierung der Zusatzlasten leichtgradig erleichtern. Darüber hinaus unterstellen die Experten in ihren Basisszenarien, dass die öffentlichen Gesundheitsausgaben vor allem von der demografischen Entwicklung getrieben werden. Anders als in der Vergangenheit sollen sich Innovationen aus Pharmazie oder Medizintechnologie nicht länger als Kostentreiber herausstellen.
Erweist sich diese optimistische Annahme als falsch, könnte der Anstieg der Gesundheitsausgaben laut Bericht in Relation zur Wirtschaftsleistung um 1,3 statt um 0,6 Prozentpunkte betragen, also mehr als doppelt so hoch ausfallen als ohnehin schon. Bis 2060 würde die jährliche Mehrbelastung in Deutschland dann um zusätzliche 30 Milliarden Euro steigen, wie sich aus einem Risikoszenario der EU-Kommission ergibt. Andere Länder haben im Vergleich zu Deutschland deutlich bessere Perspektiven. Mit Ausgaben für Renten, Gesundheit und Pflege von 19 Prozent lag Deutschland 2013 noch im mittleren Drittel der 28 EU-Staaten – und sogar deutlich unter dem Durchschnitt der Euro-Zone (21,0 Prozent).
Deutschland im internationalen Vergleich besonders Demografie-gefährdet
Die alterungsbedingten Mehrbelastungen von 4,8 Prozent des BIP aber gehören zu den höchsten in der EU, nur Luxemburg, Malta und Slowenien kommen auf deutlich stärkere Zuwächse. Eine große Rolle spielt hierbei die demografische Entwicklung. In Frankreich, Großbritannien und Schweden zum Beispiel dürfte die Bevölkerung weiter wachsen – während zugleich das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Senioren und Erwerbsfähigen deutlich günstiger bleibt als in Deutschland. Außerdem wird nach aktueller Beschlusslage das Rentenniveau in den meisten EU-Ländern deutlich stärker beschnitten werden als in Deutschland. Die Folge dieser beiden Effekte: In 15 der 28 EU-Staaten wird der Teil der Wirtschaftsleistung, der für Renten ausgegeben wird, bis zum Jahr 2060 sogar sinken.
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Selbst das französische Rentensystem, gegenwärtig eines der kostspieligsten in Europa, wird 2060 schlanker sein als das deutsche. In vielen Ländern Europas zahlen sich hier auch die Reformbemühungen der Jahre seit Ausbruch der europäischen Staatsschuldenkrise aus. Gegenüber dem vorigen Alterungsbericht, den die EU 2012 veröffentlichte, hat sich die drohende Mehrbelastung in manchen Ländern drastisch reduziert. Ebenfalls erst in dem neuen Alterungsbericht in vollem Umfang eingepreist wurde eine Maßnahme aus dem Jahr 2007: die Rente mit 67 – jene Maßnahme, mit der die Ära der Rentenreformen in Deutschland endete. Und die der "Demografiegipfel" begann.