Das „Risiko“ ist der Kampfbegriff der Versicherungsvermittlung. Stets werden dem potentiellen Kunden die vielen riskanten Unwägbarkeiten des Lebens vor Augen geführt, um ihn dann zu einem Versicherungsvertrag zu bewegen. Zum Beispiel die Gefahr, jemanden mit dem KfZ anzufahren. Oder die Gefahr, jemanden anderweitig unabsichtlich zu schädigen. Oder die Gefahr, dass man sel­ber von jemandem geschädigt wird, der sich seinerseits nicht gegen die Gefahr des „Einen-anderen-schädigen“ versichert hat. Oder die Gefahr zu jung zu versterben – oder zu alt zu werden. Oder die Gefahr, das nächste FCB-Spiel wegen einer verspäteten Bahn zu verpassen … die angsterfüllenden Gefahren sind vielfältig.

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Der Deal der deutschen Lebensversicherer

Gegen diese Risiken bieten die Versicherungsunternehmen Versicherungen an. Je nach Art des versicherten Risikos fallen die Beiträge, die der Kunde zu zahlen hat, mal höher oder niedriger aus. Diese Beiträge werden in den Unternehmen nicht ausgewürfelt. Stattdessen werden hochbezahlte Mathematiker – sogenannte Aktuare – damit betraut, die „richtigen“ Beiträge zu berechnen.

Ein Beitrag ist nicht dann richtig, wenn er gerade ausreicht, um das entsprechende Risiko absichern zu können. Denn der Beitrag sollte möglichst immer etwas höher sein, damit ein „Sicherheitspuffer“ besteht. Konkret heißt das zum Beispiel, dass bei einer Risikolebensversicherung der Aktuar von einer besonders hohen Sterblichkeit ausgeht. Oder bei einer kapitalbildenden Versicherung wird ein besonders niedriger Zins angesetzt, der so niedrig ist, dass sich das Versicherungsunternehmen immer zutraut, diesen Zins auch erwirtschaften zu können.

In der Lebensversicherung gibt es besonders strenge Vorgaben, wie sicher die Kalkulation sein muss. Deswegen zahlt der Kunde von vornherein deutlich überhöhte Beiträge. Da wird dann von besonders niedrigen Zinsen, einer unrealistischen Sterblichkeit und auch von überhöhten Kosten ausgegangen. Das ist auch in Ordnung, wenn über das System der Überschussbeteiligung ein fairer Ausgleich besteht. Das ist der Deal der deutschen Lebensversicherung: Der Kunde zahlt überhöhte Beiträge und bekommt im Gegenzug eine faire Überschussbeteiligung.

Damit sich ein Versicherungsunternehmen in der Kalkulation nicht übernimmt, gibt es aufsichtsrechtliche Vorgaben. Die führen dann eben zu den überhöhten Beiträgen. Zum Beispiel darf der Aktuar immer nur einen „Höchstrechnungszins“ ansetzen. Einen niedrigeren Zins heranzuziehen, das ist in Ordnung, denn dann steigt ja sogar die Sicherheit. Zum Beispiel darf derzeit höchstens mit 1,25 Prozent kalkuliert werden, niedriger ist aufsichtsrechtlich aber auch in Ordnung.

Entwicklung des Garantiezinses in der deutschen Lebensversicherung Datenquelle: Deutsche Aktuarvereinigung (DAV)

Vier Prozent ...

Früher, in den 90ern, war es den Lebensversicherern zeitweise sogar erlaubt bis zu vier Prozent als Kalkulationszins anzusetzen! Die Unternehmen hätten auch mit einem niedrigeren Zinssatz kalkulieren dürfen, aber meistens (nicht immer) haben sie sich dann doch für die vier Prozent entschieden. Ohne Not und vollkommen freiwillig haben sie sich darauf verpflichtet, stets diese vier Prozent zu erwirtschaften.

Heute jammern diese Unternehmen, wie schwer es doch sei, diese vier Prozent zu erzielen. Das Jammern kann ich verstehen. In der Tat ist das derzeit auch schwierig, keine Frage. Da haben sich die damaligen Aktuare also übernommen. Vor zwanzig Jahren haben sie noch mit stolzgeschwellter Brust erklärt, dass sie die vier Prozent immer schaffen werden, kein Problem. Und jetzt? Jetzt werden sie offenbar die Kalkulation nicht halten können. Die Versicherer haben sich verkalkuliert.

Das ist Marktwirtschaft

Normalerweise muss ein Kaufmann der sich verkalkuliert, zähneknirschend die Verluste in Kauf nehmen. Das nennt man Marktwirtschaft, so wie auch in unserer sozialen Marktwirtschaft. Das ist Wettbewerb. Das ist eine der ehernen Grundlagen unseres Wirtschaftssystems: Wer sich verkalkuliert, der hat gefälligst dafür die Verantwortung zu übernehmen.

Aber die Deutsche Versicherungswirtschaft tickt da anders. Für die Deutschen Lebensversicherer gelten diese kaufmännischen Grundlagen der Marktwirtschaft nicht. Nicht die Unternehmen, die sich verkalkuliert haben, müssen leiden. Nein! Stattdessen sollen die Kunden herhalten! Deswegen müssen auch viele Kunden derzeit auf Überschüsse verzichten, damit die „Vier-Prozent-Verträge“ von ihnen subventioniert werden.

Man stelle sich vor, in einem anderen Wirtschaftszweig würde so vorgegangen werden! Was würden Sie denn sagen, wenn Sie als Kunde eines Stuttgarter Autoherstellers ein Rechnung bekommen, in der dann steht: „Lieber Kunde, leider hat sich herausgestellt, dass eines unserer Fahrzeugmodelle technische Schwierigkeiten hat und wir eine Rückrufaktion machen mussten. Das kostet uns viel Geld. Da Sie ja ein anderes Modell von uns fahren, müssen wir Sie auffordern, X.000 € an uns zu überweisen. MfG“ Das ist unvorstellbar. Aber in der Lebensversicherung funktioniert das. Da wird den Kunden dann mitgeteilt, dass sie weniger Geld bekommen, weil wegen der Niedrigzinsen das mit den Garantien der anderen Kunden nicht mehr so richtig klappt.

Die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft gelten halt nicht für alle. Und ganz besonders die Lebensversicherer halten sich nicht an die Regeln der sozialen Marktwirtschaft. Schade!

Nachtrag: Geplatzter Deal

Jetzt höre ich schon das Rufen, dass die Kunden ja nur weniger Überschussbeteiligung bekämen. Sie bekämen also nur etwas weniger von dem Sahnehäubchen. Stimmt aber nicht. Denn die Überschussbeteiligung ist kein Sahnehäubchen, sondern der Ausgleich dafür, dass die Versicherungsnehmer von vornherein überhöhte Beiträge zahlen.

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Wenn nun die Überschussbeteiligung zusammenschrumpft, dann entfällt der Ausgleich für die überhöhten Zahlungen. Der Deal der Deutschen Lebensversicherung ist dann aufgekündigt.