Berufsunfähigkeitsversicherung - Leistungsquoten sind kein Kaufkriterium
Vor kurzem hat „Spiegel Online“ in einem Artikel zu Leistungsquoten von Berufsunfähigkeits-Versicherungen (BU) polarisiert; auch der Versicherungsbote berichtete. „Spiegel Online“ pickte sich mit der Leistungsquote eine Kennzahl heraus und schließt ausgehend von diesem Kriterium auf die Zahlungsbereitschaft des Versicherers: „Das ist viel zu kurz gesprungen“, sagt und begründet BU-Profi und Diplom-Mathematiker Stephan Kaiser, Schweinfurt, in einem Gastbeitrag.
In der Praxis gibt es keine Kennzahl, die alleine betrachtet auf die Leistungsbereitschaft eines Versicherers schließen lässt. Jede Kennzahl muss genau betrachtet, hinterfragt und dann geeignet interpretiert werden. Der Teufel steckt im Detail. Im Artikel wird eine Tabelle abgedruckt, in der Leistungsquoten von 92,3 % bis herunter zu 27,7 % mit Nennung der jeweiligen Versicherer aufgeführt sind. Es wird der Eindruck erweckt, die Fairness und Leistungsbereitschaft eines Versicherers steige direkt proportional mit dieser Quote. Das kann im Einzelfall so sein, muss es aber nicht.
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Definitionsproblem „beantragte Leistungsfälle“
Die Quoten wurden von Analysehaus Morgen & Morgen aus Hofheim am Taunus übernommen. Um diese Quoten zu verstehen, muss man sich die Definition dieser Quote betrachten. Morgen & Morgen schreibt dazu:
„Bei der M&M BU-Leistungsquote werden die anerkannten Leistungsfälle ins Verhältnis zu den beantragten Leistungsfällen gesetzt.[…]“
Was genau muss ein Versicherer in obiger Definition unter „beantragte Leistungsfälle“ eigentlich verstehen? Alle, die gemeldet wurden? Wann genau kann man von einer Meldung sprechen? Bereits dann, wenn der Kunde anruft und vorsorglich eine kleine Schnittverletzung durchgibt? Oder doch nur die, die dann auch den Antrag eingereicht haben? Wie wurde sichergestellt, dass alle darunter das gleiche verstehen und auch eine entsprechende Statistik erstellt haben?
Niedrige Quote bedeutet nicht schlechter Versicherer
Ein Vergleich von Quoten ist nur dann sinnvoll, wenn sie alle auf derselben Basis berechnet wurden und dies auch nachvollzogen werden kann. Morgen & Morgen hat erst vor kurzem die Berechnungsmodalitäten dieser Quote geändert. Schaut man sich nun die Zeitreihe dieser Quoten der letzten Jahre an, stellt man fest, dass diese neue Definition bei einigen Häusern teils dramatische Veränderungen dieser Quote bewirkt hat, bei anderen so gut wie keine. Die Frage nach dem Warum könnte damit beantwortet werden, dass nicht jeder Versicherer unter den Begrifflichkeiten das gleiche verstanden haben könnte und daher Zahlen auf unterschiedlicher Basis erstellt worden sind.
Eine sehr niedrige Quote muss nicht zwingend einen schlechten Versicherer bedeuten. Ist dieser Versicherer erst sehr kurz auf dem Markt, hat er also einen sehr jungen Bestand, dann wird er zwangsläufig eine Leistungsquote unterhalb des Durchschnitts haben. Das liegt daran, dass der Versicherer in jungen Vertragsjahren viel mehr Möglichkeiten hat, gegen eine vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung vorzugehen: Während in den ersten fünf Vertragsjahre bereits eine fahrlässige Verletzung der Anzeigepflicht zur Leistungsfreiheit des Versicherers führen kann, kann er nach Ablauf der fünf Jahre nur noch gegen vorsätzliches oder arglistiges Verhalten vorgehen. Nach zehn Vertragsjahren gar kann der Versicherer in der Regel gar kein vorvertragliches Fehlverhalten mehr ahnden.
Hohe Quote heißt nicht zahlungsfreudiger Versicherer
Eine sehr hohe Quote lässt nicht ohne Weiteres den Schluss zu, hier hätte man es mit einem besonders zahlungsfreudigen Versicherer zu tun. Diese Quote kann deutlich nach oben abweichen, weil der Versicherer in seinen Bedingungen einen zusätzlichen Baustein für Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit anbietet. Es ist des Öfteren der Fall, dass auch eine längere Arbeitsunfähigkeit nicht zur Berufsunfähigkeit führt.
Eine Quote ist immer nur eine Momentaufnahme. Zur besseren Beurteilung müsste man die historischen Entwicklungen über lange Zeiträume betrachten. Allerdings kann man dann auch nur von der Vergangenheit hoffnungsvoll auf die Zukunft schließen, ohne sich sicher sein zu können. Ob der ausgewählte Versicherer dann, wenn der Kunde berufsunfähig geworden ist, die erhoffte Kontinuität gezeigt hat, wird sich erst dann herausstellen.
Auch spielt die Anzahl der Leistungsfälle pro Jahr eine wichtige Rolle. Je geringer diese Anzahl ist, desto weniger Aussagekraft hat die Quote. Und umso weniger sinnvoll ist dann der Vergleich mit anderen Versicherern.
Zusammenfassend kann man also feststellen, dass eine Leistungsquote keinen geeigneten Gradmesser für die Wahl eines BU-Versicherers darstellen kann.
Im Übrigen gilt dies auch für die genauso oft strapazierte Prozessquote: Versicherer definieren bereits die Anzahl der Prozesse, die in die Quote einfließen, höchst unterschiedlich: so sind nicht immer auch die Vergleiche oder noch laufende Verfahren oder Verfahren, die in die nächste Instanz gehen, berücksichtigt. Auf so uneinheitlicher Basis macht der Quotenvergleich schon per se keinen Sinn.
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Reine Quote ist nichtssagend
Aber selbst wenn man sicherstellen könnte, dass alle Versicherer denselben Berechnungs-schlüssel verwenden würden, ist die reine Quote nichtssagend: stellen Sie sich zwei Versicherer mit in etwa dem gleichen Bestand und der gleichen Anzahl an Leistungsfällen pro Jahr vor. Beide führen zehn Prozesse. Der eine Versicherer verliert neun seiner zehn Prozesse, der zweite aber gewinnt neun von zehn. Beide haben zwar die gleiche Prozessquote, aber der zweite Versicherer scheint, im Gegensatz zum ersten, zu wissen, was er vor Gericht tut und so der kompetentere zu sein.