Versicherungsvertrieb - Eine Branche mit Erotik und spannenden Perspektiven
Als Versicherungsvermittler/in sehen sich als Problemlöser/in und analysieren ihre Kunden erst, bevor sie tatsächlich in die Beratungsleistung einsteigen. Durch diese Herangehensweise haben sie ihren Mitstreitern einiges voraus, vergleichbar mit einem Arzt, der vor der Operation erst ein Röntgenbild anfertigt. Versicherungsbote hat mit Andreas Buhr über den Kunden 3.0 gesprochen – und welche Anforderungen Vermittler heute mitbringen müssen, um diesen für sich zu gewinnen.
Der studierte Betriebswirt Andreas Buhr ist vom Fach. Als Gründer und Vorstand der Buhr & Team Akademie für Führung und Vertrieb AG ist er ein gern geladener Gast auf Weiterbildungsforen und Kongressen – ein Speaker mit Praxiserfahrung. „Seit 1980 habe ich die Versicherungsbranche kennengelernt und war dort 25 Jahre tätig. Bereits während meines Studiums bin ich zunächst als Vermittler eingestiegen und habe dann eine eigene Vertriebsorganisation aufgebaut. Am Ende waren wir 1200 Mitarbeiter und hatten einen Bestand von drei Milliarden Euro sowie 280.000 Neukunden. „In dieser Zeit habe ich Veränderungen nach AEG, dem Alterseinkünftegesetz, den VVG-Reformen 1 und 2 sowie die Richtlinien MiFID 1 und 2 miterlebt,“ so stellt Andreas Buhr das erste Vierteljahrhundert seines Schaffens vor. 2005 habe ich mich dann entschieden, neue Wege zu gehen.
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Versicherungsbote: Welche quantitative Situation herrscht derzeit in der Branche?
Andreas Buhr: All das, was seit 2002 aus Brüssel an Veränderungen kommt hat nur zwei Oberziele. Ziel Nummer 1: Transparenz erzielen, Ziel Nummer 2: Verbraucherschutz und Kundenorientierung erreichen. Das führt dazu, dass in den letzten 10 Jahren die Zahl der Vermittler stark abgenommen hat, von ungefähr 550.000 freien Vermittlern auf nun etwa 120.000. Nebenberufliche Vermittler haben langfristig keine Chance mehr am Markt, jetzt müssen die Profis ran. Was im Prinzip gut ist.
Neben dieser quantitativen Komponente hat auch der Verbraucher sein Verhalten geändert. Es gibt kein Geheimwissen mehr, seit sich das Internet als Recherchetool etabliert hat. Da gibt es die Kollegen Google und Wikipedia sowie Social-Media-Portale. Kunden stellen heute Fragen, die sie vor 10 Jahren nicht hätten stellen können, weil sie damals schlicht die Informationen noch nicht hatten. In diesem Umfeld muss der Vermittler seine Kompetenz beweisen.
"Ein Verkäufer muss gut moderieren können"
Versicherungsbote: Welchen Wandel hat die Branche erfahren und wo besteht Aufholbedarf?
Buhr: Das Leben „draußen“ ist für Versicherungsvermittler durch das Internet deutlich schneller und transparenter geworden. Der Kunde ist schnell, und auch schnell wieder weg. Und bei weitem nicht so loyal wie früher.
In der Gegenwart angekommen bedeutet für den Versicherungsvermittler, unbedingt kompetent zu sein. Er muss seine Themen kennen, über Schwerpunkte Bescheid wissen und trotzdem „verkäuferisch“ denken. Aber der verkäuferische Ansatz wird von Versicherern gern vernachlässigt. Sie schulen ihre Verkäufer auf der fachlichen Ebene – ein weiteres Produkt, ein weiterer Flyer und noch ein technisches Thema obendrauf – aber nicht die Kompetenzen als Verkäufer.
Versicherungsbote: Was bedeutet das konkret – Kompetenzen als Verkäufer?
Buhr: Der Verkäufer muss gut moderieren können: Empathie besitzen, die richtigen Fragen stellen, den Gedankengang des Kunden erkennen. Er muss sich die Eigenschaft vorbehalten, der Fachmann zu sein und den Kunden zu führen, obwohl der Kunde heute offensichtlich mehr selber weiß. Das ist die große Herausforderung, vor der die Branche heute steht.
Ein Vermittler benötigt zudem eine klare Zielorientierung sowie Überzeugung für die Botschaft, die er vertritt. Er muss an seinen Verkaufsauftrag glauben und eine Idee davon haben, wieso er mit seiner Tätigkeit die Welt verbessert. Schließlich ist er dafür da, den Lebensabend des Kunden sicherer zu gestalten und dessen Lebensqualität sicherzustellen. Das sind die Aufgaben, die es auf der vermögensbildenden Seite zu bewältigen gibt. Auf der anderen Seite müssen Fragen quantitativer Natur beantwortet werden, etwa: Was muss der Kunde zahlen und was bekommt er dafür?
Schrittmacher für die Branche ist der Demographiefaktor
Versicherungsbote: Mit welchen Chancen und Schwierigkeiten wird der Vermittler in der Versichungsbranche konfrontiert?
Buhr: Schrittmacher der Versicherungsbranche ist der Demographiefaktor. Die Lebenserwartung ist gestiegen. Eltern erleben die Pensionierung ihrer Kinder. Wir haben einen Alterslastenquotienten, der zu Ungunsten der Rentner ausfällt und damit das Altersvorsorgeproblem - nüchtern betrachtet - in Deutschland und Europa nicht löst. Für Versicherungsvermittler bedeutet das zunächst neue Möglichkeiten der Kundengewinnung.
Auf der anderen Seite werden Vermittlern bei ihrer Arbeit zusätzliche Bürokratie, und einige Einschränkungen auferlegt. Jemand, der das Geschäft schon lange kennt, muss plötzlich ein Beratungsprotokoll anfertigen. Er erhält jetzt eine niedrigere Provision, muss noch dazu Provisionen offenlegen und und und … Das kann man sich ungefähr so vorstellen, als würde man schon jahrelang Auto fahren und müsste plötzlich wieder eine Führerscheinprüfung absolvieren. Selbst erfahrene Autofahrer würden wahrscheinlich durchfallen, weil sie Fehler machen. Über die Zeit haben sich Abläufe eingeschlichen, die sich in der Praxis bewährt haben, der Gesetzgeber heute allerdings anders haben möchte. Das erschwert die Arbeit.
"Es gilt die Fähigkeit zu schulen, wie der Verkäufer gute Fragen stellt"
Versicherungsbote: Aus der Praxis - Herr Buhr, mit welchen Fragestellungen tritt ihre Hörerschaft an Sie heran?
Buhr: Problemstellungen betreffen zum einen den Bereich Organisation/Daten. Sind potentielle Kundenlisten, ist ein funktionierendes CRM vorhanden? Wie sind die Kunden einzuordnen – sollten Vermittler mehr auf Bestands- oder zusätzlich auch auf Neukunden setzen? Daraus entstehen wiederum Fragen wie: Wie organisiere ich das Neukundengeschäft und wie können über Empfehlungen neue Kontakte generiert werden?
Außerdem spreche ich oft darüber, wie in der heutigen Zeit professionell telefoniert wird. Wie bereitet der Berater, Vermittler von heute sich auf das Kundengespräch vor, wenn es kein frisches „Customer Relationship Management System“ gibt bzw. keine Historie, aus der Informationen sichtbar werden? Anschließend gilt es die Fähigkeit zu trainieren, wie Vermittler im Kundengespräch gute Fragen stellen. Der Verkäufer sollte nicht in das Gespräch gehen, dem Kunden etwas erzählen und denken, damit sei es getan. Nein, er sollte erst einmal „mit Fragen zuhören“. Was genau will der Kunde, wo ist sein „Kittelbrennfaktor“ und wie kann ich ihm helfen diese Schmerzen zu lindern und sein Problem zu lösen?
So gut der Verkäufer auch ist, er kann nicht der Experte in allen Bereichen sein. Es gibt den Allgemeinmediziner, der eben kein Facharzt für Knie ist, er muss sich einen Orthopäden dazu holen. So ist das in der Versicherungsbranche auch. Man hat eine Ausbildung als Allgemeinmediziner und weiß, was der Kunde braucht. Aber wenn es dann um Fachthemen geht, kann es passieren, dass man ein Thema an einen anderen Experten abgeben muss.
Es wird auch immer wieder danach gefragt, wie aus Neukunden Bestandskunden werden oder wie ich Cross-Selling bzw. Spartendurchdringung erreiche, also den Kunden dazu kriege, mehr als einen oder zwei Verträge in einem Unternehmen bzw. bei einem Makler abzuschließen.
Versicherungsbote: Wie kann erreicht werden, dass der Kunde bereit ist mehrere Verträge bei einer Gesellschaft/einem Makler abzuschließen?
Buhr: Nehmen wir einmal an, wir würden in einem solchen Gespräch zusammensitzen und hätten das Thema Altersvorsorge gerade durch. Dann würde ich Sie fragen: „Wenn Sie an das Thema Berufsunfähigkeit denken, wie haben Sie hier vorgesorgt? Haben Sie sich schon einmal damit beschäftigt? Stellen Sie sich vor, Sie sind berufsunfähig, welche Konsequenzen ha das sofort?“ Der Kunde wird darauf vielleicht keine Antwort wissen bzw. antworten: „Ich nehme an, dann verliere ich meinen Job.“ Darauf können Sie, als schlagfertiger Verkäufer, antworten: „Könnten Sie dann ihre Versicherungspolice bezahlen?“ Wenn er darauf mit: „Nein“ antwortet, dann haben sie schon eine weitere Schnittstelle. Dann gehen Sie durch die Wohnung, gehen Sie mit Firmenkunden durch das Unternehmen und fragen, wie der Kunde hinsichtlich Hausrat, Unfall und Betrieb betreut ist, was mit dem Auto ist usw. ...
Fakt ist: Die sogenannten Cross-Selling-Fragen können Vermittler stellen, indem sie eine klassische Bedarfsermittlung beim Kunden machen. Wie der Arzt, der ein Röntgenbild erstellt hat, bevor er operiert, so muss der Vermittler heute zum Kunden gehen und schauen, wie der Kunde aufgestellt ist und was er braucht.
"90 Prozent der FinTech-Unternehmen gehen wieder pleite"
Versicherungsbote: Wie stehen Sie FinTech-Unternehmen gegenüber, die zunehmend auf den Markt drängen? Ist das eine Gefahr für die Branche?
Buhr: Das sollte man von zwei Seiten sehen. Die Absichten der FinTech-Unternehmen zielen auf die gesamte hybride Gesellschaft ab. Nicht nur Versicherer, sondern auch Banken sind betroffen. Hat man heute schnell entstehende, frische Unternehmen am Markt, die beispielsweise durch Crowdfunding Geld einsammeln und sich finanzieren, dann sind deren Entscheidungen nicht von Konzernstrukturen beeinflusst. Das macht sie schnell reaktionsfähig. Sie können unmittelbar entscheiden und das wird dazu beitragen, dass sich das ein- oder andere Unternehmen durchsetzt. Aber 90 Prozent der FinTech-Unternehmen gehen wieder pleite.
Was die FinTechs nicht haben, ist die Beratungskompetenz. Das bedeutet, der Versicherungsvermittler muss von seinen Stärken umso mehr Gebrauch machen. Er muss dem Kunden im Gespräch das Gefühl geben, dass er oder sie der Problemlöser ist. Schon die Direktversicherer stießen hier an ihre Grenzen. Sie erreichten Marktanteile von unter 10 Prozent, weil es zwar nüchterne Preiskäufer gibt, die sich vom Versicherungsvermittler nichts erzählen lassen wollen, aber das ist eine Minderheit. In der Finanzdienstleistung hat man es hingegen in den meisten Fällen mit beratungsintensiven Produkten zu tun. Diese funktionieren im Internet nicht. Eine KfZ-Versicherung, Hausrat, Rechtsschutz oder Unfallversicherung ja, aber dann wird es auch schon dünner.
Versicherungsbote: Sie sind also nicht der Meinung, dass sich FinTechs irgendwann flächendeckend am Markt durchsetzen könnten?
Buhr: Nein, schlussendlich wird die Beratungsleistung immer wichtig bleiben. Eine Vielzahl der Versicherungsprodukte bedarf schlicht und einfach eines vernünftigen, würdevollen und kompetenten Beratungsgesprächs und Abwicklungsprozesses. Der Mensch gibt sein Geld lieber jemanden, dem er vertraut. Dieser Jemand ist dann der Door-Keeper. Der Kunde kann ja die Versicherungsgesellschaften nicht durchscreenen. Er kann in Vergleichsportalen schauen, sich Bewertungen durchlesen und so eine Vorauswahl treffen. Wenn der Vermittler ihm letztlich eine Gesellschaft vorschlägt, dann ist er allerdings darauf angewiesen, dass er dem Verkäufer vertrauen kann. Die Entscheidungswege sind heute hybrid. Man recherchiert im Netz, surft durch Foren und schaut sich Blogs an, informiert sich in Gruppen und verfolgt Diskussionen. So bildet sich der Kunde eine Meinung. Dann geht er mit dem aufgestauten Wissen ins Gespräch mit dem Experten. Dieser muss jetzt überzeugen. Es ist der Dialog zwischen Käufer und Vermittler, der heute einfach auf einer anderen Ebene losgeht.
Versicherungsbote: Eine Frage zum Schluss. Würden Sie wieder zurück auf die Vermittlerseite gehen?
Buhr: Das ist eine interessante Frage. Ich habe ja 25 Jahre an „forderster Front mitgekämpft“ und Menschen in die Branche „hineinmotiviert“. Wir hatten den Auftrag, über das Problem der Altersvorsorge in Deutschland aufzuklären, und hier und da zu helfen. Das Spannende ist dann der Blick nach außen. Der Versicherungsverkäufer hat meiner Meinung nach einen tollen Verkaufsauftrag. Er hilft dabei das Demographieproblem, und damit auch das Altersvorsorgeproblem zu lösen. Mindestens geht es hier darum, Bewusstsein zu verändern und Menschen ins Handeln zu bringen. Das ist doch ein super Job, der jede Menge Erotik, reichlich Reize hat und spannende Perspektiven bietet. Wenn es früher 550.000 Menschen gab, die sich den Markt geteilt haben und es heute noch rund 120.000 sind, dann bedeutet das auch, das für die, die heute noch da sind, mehr Geschäft zu machen ist. Das ist eine klare Argumentation für die Branche. Ich würde auch meinen Söhnen zuraten, in die Branche einzusteigen. Für mich persönlich ist allerdings ein Kapitel zu Ende gegangen. Ich bin ausgestiegen und widme mich heute dem Training und damit indirekt auch um bessere Ergebnisse auf allen Ebenen.
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Versicherungsbote: Vielen Dank für das Interview!