Berufsunfähigkeitsversicherung - Das Dilemma der Berufsgruppendifferenzierung
Berufsunfähigkeitsversicherung: Risikoberufe wie Dachdecker oder Handwerker haben es immer schwerer, einen bezahlbaren BU-Schutz zu finden. Ursache hierfür ist die zunehmend differenzierte Scheidung von Berufs- und Risikogruppen durch die Versicherer. Doch ließe sich auf diese vermeintliche Rosinenpickerei nicht sogar gänzlich verzichten? Ein Gastkommentar von Versicherungsmakler Gerd Kemnitz aus Stollberg.
Die private Absicherung der Arbeitskraft ist für jeden wichtig, der finanziell auf sein Arbeitseinkommen angewiesen ist. Und die Berufsunfähigkeitsversicherung ist die einzige Versicherungsform, bei der das Krankheitsbild auf den ausgeübten Beruf bezogen wird. Deshalb betonen Verbraucherschützer und Vertreter der Versicherungsbranche auch in seltener Einmütigkeit die Notwendigkeit einer BU-Police.
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Allerdings werden die Hürden für den Abschluss einer solchen Versicherung immer höher. Dabei sind es nicht nur gesundheitliche Beschwerden der zu versichernden Person, die einen Vertragsabschluss erschweren oder gar unmöglich machen. Viele handwerklich bzw. körperlich Tätige können sich den Versicherungsschutz schon aus finanziellen Gründen nicht leisten.
Eigentlich gibt es keine Notwendigkeit für Berufsgruppen!
Als 2001 das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eingeführt wurde, gab es bei den privaten Berufsunfähigkeitsversicherungen noch keine Berufsgruppen. Es gab eine große Solidargemeinschaft und sowohl der Bürokaufmann als auch der Baufacharbeiter zahlten für den gleichen Schutz den gleichen Beitrag. Dadurch war der BU-Schutz auch für die meisten körperlich Tätigen bezahlbar.
Inzwischen haben die BU-Versicherer immer mehr Berufsgruppen eingeführt. Erst waren es drei bis vier Berufsgruppen – heute sind es teilweise zehn bis zwanzig. Einzelne Versicherer werben sogar damit, dass sie die Berufsgruppen gänzlich abgeschafft haben und jeden Beitrag berufsindividuell kalkulieren. Versicherungsmathematisch macht das natürlich keinen Sinn, denn gerade in der Versicherungswirtschaft gilt das "Gesetz der großen Zahlen". Insofern ist es auch nicht verwunderlich, wenn Versicherer jährlich ihren Berufsgruppenkatalog korrigieren müssen. Warum organisieren sich die Versicherer diesen Aufwand?
Risikogerechte Beitragskalkulation oder Rosinenpickerei?
Die Befürworter der Berufsgruppendifferenzierung nennen es risikogerechte Beitragskalkulation, denn ein Bürokaufmann hätte nun mal eine geringeres Berufsunfähigkeitsrisiko als ein Baumaschinenführer. Andere sehen darin eine verantwortungslose Rosinenpickerei. Denn durch die Einführung der Berufsgruppen wurde der Beitrag für die meisten Akademiker und Bürofachkräfte deutlich preiswerter, für Handwerker und andere körperlich Tätige aber umso teurer. So haben sich die Versicherer, die zuerst Berufsgruppen einführten, einen Wettbewerbsvorteil bei ihrer Zielgruppe verschafft und risikoreicheren Berufe bewusst vernachlässigt.
Es ist einleuchtend, dass andere BU-Versicherer danach auch Berufsgruppen einführen mussten. Anderenfalls wären Antiselektionseffekte aufgetreten und diese Versicherer hätten nur noch die risikoreicheren Berufsgruppen versichern können. Auch derzeit setzt sich diese Entwicklung fort. Einige Versicherer preschen vor, andere ziehen nach – wie zuletzt auch die Volkswohl Bund Lebensversicherung, die ihre Berufsgruppen noch stärker ausdifferenziert hat.
Für körperlich Tätige ist diese Entwicklung tragisch.
Ein 30-jähriger Bürokaufmann zahlt für eine versicherte BU-Rente in Höhe von 1.500 € bis zum 65. Lebensjahr bei guten Versicherungsbedingungen zwischen 47 € und 65 € monatlich. Ein 30-jähriger Baumaschinenführer muss dagegen für den gleichen Versicherungsschutz inzwischen mindestens 153 € monatlich bezahlen (Quelle: http://www.berufsunfaehigkeitsversicherung-sofort-vergleich.de). Ist das gerecht? Unsere Gesellschaft braucht die Baumaschinenführer und Berufskraftfahrer genauso wie die Ärzte oder Bürokaufleute – und alle benötigen einen bezahlbaren BU-Schutz. Deshalb empfinde ich die Berufsgruppendifferenzierung bei einer solch wichtigen Versicherung sozial ungerecht!
Aber es gibt inzwischen einzelne verantwortungsbewusste Führungskräfte aus der Versicherungsbranche, die mit der Entwicklung der Berufsgruppen unglücklich sind. Das Problem hierbei beschrieb Jürgen Hansemann, Vorstand der Nürnberger Beamten Lebensversicherung AG, bereits im vergangenen Jahr gegenüber Cash Online:
"Als einzelner Wettbewerber kann man solch einen Trend nicht umkehren. Wenn ein einzelnes Unternehmen jetzt die Berufsgruppen reduziert, wäre es bei den Berufen mit niedrigerem BU-Risiko deutlich zu teuer im Vergleich zum Wettbewerb und man würde hier Marktanteile verlieren. Damit wird man zusätzlich aus dieser im Durchschnitt sehr finanzkräftigen Zielgruppe für weitere Versicherungsabschlüsse herausgedrängt.“
Die BU-Versicherer benötigen Hilfe!
Doch wenn ein einzelner Versicherer diesen verhängnisvollen Trend nicht umkehren kann, wer kann es? Wer hilft den BU-Versicherern aus diesem Irrweg heraus?
Die Versicherer selbst versuchen mit so genannten Alternativprodukten auch den körperlich Tätigen bezahlbaren Versicherungsschutz anzubieten. Eine Erwerbsunfähigkeitsversicherung beispielsweise ist zwar deutlich preiswerter, bietet aber bekanntermaßen auch nur sehr eingeschränkten Versicherungsschutz. Und wovon soll beispielsweise der Baumaschinenführer die monatlichen Beiträge in Höhe von ca. 70 € für die EU-Versicherung weiterbezahlen, wenn er „nur“ berufsunfähig geworden ist und aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustands keine oder nur eine deutlich schlechter bezahlte Tätigkeit findet? Ohne eine Beitragsbefreiung bei Berufsunfähigkeit können Erwerbsunfähigkeits-, Multi-Risk- oder Dread-Disease-Versicherungen keine wirklichen Alternativen zur Berufsunfähigkeitsversicherung sein – allenfalls minderwertige Notlösungen.
Vom Gesamtverband der Versicherungswirtschaft (GDV) gab es bisher auch keine Anzeichen, Maßnahmen zur Abschaffung oder zumindest zur Reduzierung der Berufsgruppen zu ergreifen.
Lediglich von der Verbraucherzentrale NRW und vom Bund der Versicherten gibt es ein gemeinsames Positionspapier, das sich an Politik und Versicherungswirtschaft wendet und Zugangserleichterungen zur privaten Berufsunfähigkeitsversicherung fordert. Aber will die Versicherungswirtschaft wirklich abwarten, bis die Politik eingreift und erforderliche Maßnahmen per Gesetz einfordert? Immerhin hatte die Politik bei Einführung der Erwerbsminderungsrente mehr Eigenvorsorge gefordert. Doch der beste Wille zur Eigenvorsorge erlischt, wenn die Versicherungswirtschaft keinen fairen und bezahlbaren BU-Schutz für alle anbietet.
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Steckbrief Gerd Kemnitz: Der Autor Gerd Kemnitz ist Diplomingenieur und Versicherungsmakler mit Spezialisierung auf BU-Versicherungen. Er analysiert die Bedingungen der verschiedenen Tarife kritisch und fordert auch seine Mandanten auf, sich aktiv bei der Auswahl des optimalen Versicherungsschutzes zu beteiligen. Nur wer mögliche Bedingungsverbesserungen und Leistungserweiterungen kennt, kann diese einfordern – oder bewusst darauf verzichten.