Zukunft der Lebensversicherung - Warum Design Thinking allein nicht ausreicht
Seit dem diesjährigen Weltwirtschaftsgipfel in Davos findet der Begriff Design Thinking in den Fachgazetten und auf Vorstandsebene deutlich mehr Beachtung. Da dürfen selbstverständlich die renommierten Beratungsgesellschaften mit einem passgenauen Service-Angebot nicht fehlen. So funktioniert die Branche der Consultants. Seit Jahrzehnten. Und auch diskret – gerne im Hintergrund agierend. Ein Gastkommentar von Christian Müller, geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung RWM Group.
Der Kommentar ist eine Antwort auf die These des Beratungsunternehmens McKinsey, es bedürfe des "Design Thinkings" in Unternehmen, um die Lebensversicherung zukunftsfähig zu machen. Versicherungsbote hatte sich bereits in einem früheren Beitrag mit der McKinsey-These auseinandergesetzt.
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Nunmehr ändert auch die Beraterbranche ihre Tonalität. Von diskret auf schrill und markant. Das lässt selbst mich nach 25 Jahren Berufserfahrung in der Branche aufhorchen. Doch Schritt für Schritt, warum mich das aufhorchen lässt:
Gehen wir einmal 25 Jahre zurück und sehen uns die Blockbuster an, die mit Hilfe von Beratern in den Großunternehmen etabliert wurden. Von Begriffen wie Business Reengineering, Total Quality Management über Outtasking, Outsourcing, SaaS, Client Centric jetzt hin zu Design Thinking als neuestem "Buzzwort". Es gibt kaum ein Großunternehmen, bei dem diese Methoden nicht auf der Tagesagenda stehen.
Doch kurz ein Blick auf die Kernaussagen der aktuellen McKinsey-Studie zur Situation der Assekuranz geworfen:
Kernaussage der aktuell veröffentlichten Studie von McKinsey ist:
- der Dialog zum Kunden muss gesucht werden
- jedes einzelne Element der Wertkette muss darauf hin analysiert und ausgerichtet werden
- nur eine konsequente Ausrichtung der Produkte & Services ist geeignet, um das aktuelle Dilemma der Wirtschaft zu lösen
- größter Hemmschuh sind erodierte IT-Systeme
In gewohnter hoher Analysequalität ist kognitiv gegen diese Kernaussagen nichts einzuwenden. Die Schlussfolgerungen sind korrekt. Dafür sind Strategieberater ja bekannt. Doch genau da setzt mein erstes Fragezeichen an. Sind es nicht gerade Berater gewesen, die in den vergangenen Jahren immer neue Konzepte und Strategien entworfen haben und zum Teil implementiert haben? Wo sind die Ergebnisse? Haben die Strategien gegriffen? Was ist aus Client Centric geworden?
Es ist doch nicht neu, dass fehlende Standards im IT-Bereich eine Ursache sind für einen Hard- und Softwarezoo. Auch die zaghaften BIPRO-Bemühungen ändern nichts an dieser Situation. Was passierte eigentlich auf dieser Ebene die letzten Jahre und Jahrzehnte?
Design Thinking ist nicht neu!
Kommen wir zu einem weiteren Aspekt. Design Thinking ist nicht neu. In Branchen, die physische Produkte herstellen, ist dieses Verfahren etablierter Standard, im Service-Segment seit 2006 bekannt. Es stellt sich die Frage nach der Umsetzung und den Erfolgen. Wer meint, dass Design Thinking eine isolierte Methodik des Innovationsmanagements ist, hat sich mit der Thematik nur theoretisch beschäftigt und kennt die Praxis nicht.
An dieser Stelle möchte ich Frau Katharina Berger, Leiterin Design Thinking der Deutschen Bank, aus einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 6.1.2014 (!) wörtlich zitieren: „Beim Design Thinking steht der Mensch im Mittelpunkt", sagt Berger. Man müsse zuhören, was Kunden sagen und dürfe Gehörtes nicht in Konkurrenz zum eigenen Wissen stellen, sondern darauf aufbauen. "Innovation gelingt, wenn man den inneren Richter abschaltet"
Dieses würde ich gerne fachlich ergänzen. Die springende Punkt ist doch, was nach der Anwendung von Design-Thinking-Methoden passiert. Der Lackmustest, ob der Prototyp auch in die Praxis springen darf.
Der Einwand der Consulting-Industrie wird wie ein Pawlowscher Reflex kommen. Das ist sicher. Dazu ist mir die Branche zu bekannt. Es wird in etwa so klingen: Das ist doch ein Umsetzungsthema! Das machen wir dann Agil!
Ja, Design Thinking und Agil gehen als Methoden Hand in Hand. Richtig erkannt. Doch warum wird das in der McKinsey-Studie verschwiegen? Das dürfte einen handfesten praktischen Hintergrund haben. Denn nach Business Re-engineering und Outsourcing ist das Wissen zur Umsetzung vielfach nicht mehr vorhanden. Es liegt jetzt bei den Lieferanten und Beratern.
Um das wieder in die Unternehmen zu holen, bedarf es dann Dokumentation, Trainings usw. – Ein neues Eldorado für die Consulting-Industrie? Ein Schelm, wer Böses denkt. Besonders bemerkenswert: Die komplette Kehrwende in der Vorgehensweise. Von atomistisch penibelst geregelt und outgesourct und optimiert nunmehr in die völligen Freiheitsgrade. Ob das gut gehen kann?
Beispiel gefällig?
Die gerne zitierte Automobilindustrie. Die Wertschöpfungstiefe hat sich nach Anwendung dieser Konzepte (Business Reengineering, Lopez Effekt) auf gefährliche 10-15 % der Wertkette reduziert. Bleibt nur noch Markenführung und Organisation als Kernbestandteil über. Das Know-how und die Innovation liegt schon längst bei den Zulieferern. Das sollte zu denken geben bei der strategischen Ausrichtung des Unternehmens.
Es bedarf zentraler Voraussetzungen, um Design Thinking überhaupt umzusetzen
Zurück zu Design Thinking: Es bedarf es einiger zentraler Voraussetzungen im Unternehmen, um dieses überhaupt umzusetzen. Diese liegen im Kern in der Kultur und DNA eines Unternehmens verborgen: Burning Plattform - Führungskultur. Und hier drängt sich eine ganz wichtige Leitfrage auf:
Ist es überhaupt erlaubt und gewollt, das Ideen von interkulturellen Teams den Weg in die Praxis finden dürfen? Da sind die inneren Widerstände nicht zu unterschätzen. Worte wie "...das haben wir noch nie so gemacht, das passt nicht in die Strategie, das hat keine Priorität"...die Kette lässt sich beliebig fortsetzen. Die Führungsebene muss den Raum bieten und den Wandel aktiv begleiten und kommunizieren. Ohne das endet es bei der Weisheit: „A Fool with a Tool is still a Fool“ – und Design Thinking verpufft im Nichts. Ein weiteres Beispiel gefällig?
Es ist ein Anachronismus, auf der Arbeits-Ebene „die Innovation“ einzufordern. Jedoch gilt es zu bedenken, dass diese Teams im Arbeitsalltag mehrere Genehmigungsprozesse durchlaufen müssen, um für eine DT Session eine Runde Pizza einzukaufen zu dürfen. Am besten Workflow gesteuert und zum Teil outgesourct. Mit mindestens fünf Unterschriften! – Zustand nach Consulting! Das passt einfach nicht zueinander. Das ist disruptiv. Im negativen Sinne! Und führt bei mehrfacher Anwendung zur inneren Kündigung der Mitarbeiter. Und das ist sicherlich kein gewünschter Effekt.
Dialog mit Kunden ist keine Marktforschung, sondern eigenes Kommunikationsprojekt
Doch es geht tiefer. Den Dialog mit den Kunden zu suchen ist eben keine reine Marktforschung. Sondern ein eigenes Kommunikationsprojekt. In der Assekuranz und der Financial Service Industrie gehört nicht nur das Versicherungsunternehmen und seine Mitarbeiter dazu, sondern auch die verschiedenen Vertriebskanäle (AO, Makler, Mehrfachagenten, Portalbetreiber, Fin- und Insuretechs) und auch Dienstleistungspartner (die IBM, Oracle, Berater, Regulatoren).
Aktueller Status Quo: Fehlanzeige. Statt dessen Ehrenkodexe, überbordende Regulierungen und Verlagerungen vom Backoffice auf das Front Office. Da fehlt die ganze Diskussionsplattform! Und der Umgang miteinander. Statt kompetativ eben kooperativ. Statt Komplexität eben Simplifizierung.
Zurück zum Thema: Innovation – Design Thinking ist ein Instrument dazu - ist keine „fancy“ Sache, wie man zunächst meint oder wie es sich liest. Es ist knallharte Überzeugungsarbeit. Es ist Veränderungsmanagement. Es ist ein Führungsthema. Und ein Kulturthema. Unternehmensgrenzen überschreitend. Und es kann im Alltag frustrierend sein. Ja – Veränderung bedeutet sich auch selbst auf den Prüfstand zu stellen. Das bedeutet die Komfortzone zu verlassen. Wer will das schon?
Design Thinking als das neue „Snake Oil“ und selig machende Instrument – anzupreisen springt deutlich zu kurz. Auch wenn es sich griffig liest und bunt visualisiert wird. Selbstverständlich lässt es sich gut verkaufen – ohne eigene unternehmerische Verantwortung. Auch das lässt aufhorchen: die Verantwortung der Berater.
Beschäftigt sich Analyse mit den richtigen Fragen?
Hier komme ich zum Schluss: Beschäftigt sich die Analyse eigentlich mit den richtigen Fragen? Nämlich wie in einer hoch zersplitterten Produktlandschaft in einem immer mehr überbordenden Regulierungswahn in der Niedrigzinsphase die Vertrauenskrise zwischen Kunde und Financial Service überwunden werden kann? Findet unter diesen Umständen überhaupt der Euro seinen Weg? Heerschaaren von Fin- und Insuretechs versuchen genau daran anzusetzen. Ich warte immer noch auf die erste Bilanz mit einer schwarzen Null.
Objektiv kann man es einer Beratungsgesellschaft, die eine Up or Out-Kultur lebt, nicht übel nehmen, wenn der praxisrelevante Aspekt (Führungskultur) von Design Thinking übersehen wird – das ist ja auch ureigenste Kundenverantwortung. Doch genau da braucht der Kunde Begleitung. Vielleicht auch nur Berater mit einem anderen Skill Set und Erfahrungen? Mit Führungs- und unternehmerischer Erfahrung.
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Fraglich ist es schon, ob die historischen Konzepte nicht Teil der aktuell desolaten Situation sind. Diese Fragen wird man sich beim nächsten „Beauty Contest“ wohl stellen müssen. Kurz gesprochen: Die Medizin, die man gerne verabreicht auch mal bei sich selbst anzuwenden? Wir werden es erleben...Stay tuned.