Versicherer rechnen Mega-GAU durch
Naturkatastrophen, Stromausfall, Börsenabsturz: Was passiert, wenn mehrere Großschäden in kurzer Zeit aufeinandertreffen? Dieses Szenario haben neun Londoner Versicherer in einem freiwilligen Stresstest durchgespielt. Die erwartete Schadenssumme würde die Kosten nach den Terroranschlägen des 11. September um das Zehnfache übersteigen. Dennoch zeigen sich die Versicherer optimistisch, dass sie die Krise stemmen können.
Es ist ein Schadenszenario, so gewaltig, wie es noch keines gegeben hat. Erst legt eine Cyber-Attacke die Stromversorgung in großen Teilen der Vereinigten Staaten lahm, 93 Millionen Menschen sind betroffen. Dann stürzen die weltweiten Aktienmärkte um 16 Prozent ab. Fast zeitgleich trifft ein Hurrikan der Kategorie 5 auf die Ostküste der USA, zerstört in Miami 1,8 Millionen Häuser und mehrere Ölplattformen, verwüstet Städte, tötet Menschen. Das alles vollzieht sich innerhalb von zwei Wochen. Der geschätzte Schaden: 200 Milliarden Dollar. Dann geht auch noch ein großer Rückversicherer pleite, so wie 2008 Lehman Brothers.
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Freiwilliger Stresstest
Ein solches Horrorszenario haben neun britische Versicherer und Rückversicherer durchgespielt und die Ergebnisse in einem Bericht zusammengefasst. Nicht etwa, weil sie die Finanzaufsicht dazu gezwungen hätte. Sie wollten selbst wissen, ob sie eine Aufeinanderfolge mehrerer Großschäden finanziell stemmen können. Denn so unwahrscheinlich ein solches Szenario auch scheint: die Versicherer rechnen damit, dass es in naher Zukunft eintreffen könnte. Auf den Stresstest macht heute die Nachrichtenagentur Reuters aufmerksam.
„Der Londoner Versicherungsmarkt muss sich auf das nächste große Ereignis einstellen, das die Finanzmärkte auf den Kopf stellen könnte“, schreibt Robert Childs, Chairman der Hiscox Group, in der Einleitung zu dem Bericht. Er ist Initiator des Stresstests, hatte im vergangenen Juli ein solches Experiment eingefordert. Die letzte Großkatastrophe für die Branche seien die Terroranschläge des 11. September 2001 gewesen – doch vieles habe sich seitdem geändert. Viele Entscheidungsträger von damals näherten sich jetzt dem Ende ihrer Karriere und ihre Nachfolger „hätten nichts dergleichen erlebt“.
Versicherer auf Schreckensszenario vorbereitet
Glaubt man dem Stresstest, so können die Versicherer ein solches Szenario finanziell stemmen. Und damit auch überleben – was eben keine Selbstverständlichkeit ist. Sicher, die Schäden seien immens. Jedes der beteiligten Unternehmen müsste rund 10 Milliarden Dollar zahlen, heißt es in dem Bericht, das entspräche rund fünf Prozent aller versicherten Schäden. Der Gesamtschaden würde selbst die Schadensumme nach den Terroranschlägen des 11. September übersteigen – um das Zehnfache. In der Konsequenz müssten sich alle Anbieter auf Forderungen einstellen, die zwischen 30 und 120 Prozent ihres zur Verfügung stehenden Nettokapitals ausmachen.
Doch ganz ohne Probleme lässt sich eine solche Ballung von Katastrophen nicht händeln. Einige Unternehmen würden wohl mit ihren Solvency II-Quoten unter Druck geraten und bräuchten frisches Geld, sehr viel frisches Geld sogar. Die Finanzierungslücke wird mit mehr als 50 Prozent des Nettokapitals angegeben. Die Versicherer zeigten sich aber zuversichtlich, dass sie die notwendige Hilfe über ihre Muttergesellschaften bekommen. Auch die Ausgabe frischer Aktien und Anleihen wird erwogen. Welche Versicherer am stärksten unter einem solchen Szenario zu leiden hätten, kommuniziert der Test nicht. Einzelne Unternehmensdaten bleiben anonym, nur eine Gesamtschau wurde veröffentlicht.
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Der Stresstest wurde auch von der britischen Aufsichtsbehörde Prudential Regulation Authority (PRA) beratend begleitet. Er ist ein positives Beispiel dafür, dass Versicherer selbst aktiv werden, um Risiken für ihr Geschäft oder gar ihre eigene Existenz einzuschätzen. Dennoch warnt Chris Moulder, bei der Versicherungsaufsicht für die Schaden- und Unfallversicherung zuständig, die Folgen einer solchen Katastrophe herunterzuspielen. Speziell die Rekapitalisierung sei nach Großschäden ein Problem. „Ein solches Ereignis hätte in der Realität auch die Muttergesellschaften getroffen“, zitiert ihn Reuters. „Unternehmen, die nach Drittparteien als Geldgeber suchen, müssten wahrscheinlich gegeneinander um frisches Kapital konkurrieren“.