Die gesetzliche Krankenversicherung kann für das erste Halbjahr 2017 eine positive Bilanz vorlegen. Die Krankenkassen erwirtschafteten demnach bis Ende Juni einen Überschuss von 1,4 Milliarden Euro, so berichtet die Deutsche Presse-Agentur mit Bezug auf die Vorabmeldungen der Kassenanbieter. Damit steigen die Finanzreserven aller Kassen auf 17,5 Miliarden Euro.

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Gute Konjunktur – und mehr Kassen erheben Zusatzbeitrag

Ursache für die positive Entwicklung sei die Rekordbeschäftigung und die gute Konjunktur, schreibt dpa. Zudem hätte die Zahl der gesetzlich Versicherten weiter zugelegt. Doch das ist nicht der einzige Grund. Seit 2015 dürfen die Krankenkassen einen individuellen Zusatzbeitrag erheben, wenn der allgemeine Beitragssatz von 14,6 Prozent nicht ausreicht, um die Kosten zu decken.

Tatsächlich machten viele Kassen von dem Recht Gebrauch, die Versicherten zusätzlich zur Kasse zu bitten. Wie dem neu veröffentlichten Tätigkeitsbericht des Bundesversicherungsamtes zu entnehmen ist, wurden im vergangenen Jahr vom Bundesversicherungsamt bei 15 Krankenkassen Erhöhungen des Zusatzbeitrages genehmigt. Diese konnten bis zu 0,6 Prozent betragen. „Die Zahl der Krankenkassen mit überdurchschnittlichem Zusatzbeitragssatz hat damit weiter zugenommen“, heißt es hierzu im Tätigkeitsbericht.

Zusätzliche Finanzspritze von 1,5 Milliarden Euro

Die günstige Einnahmenentwicklung der Kassen könnte dazu beitragen, dass die Zusatzbeiträge für die Mitglieder im kommenden Jahr stabil bleiben. Denn die Kassen erhalten 2017 zusätzlich eine Extrazuweisung aus dem Gesundheitsfonds, um die Kosten der Flüchtlingskrise aufzufangen. 1,5 Milliarden Euro hat Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) den Kassenanbietern zugesagt.

Debatte um Morbi-RSA

Doch das Einnahmeplus kommt nicht bei allen Krankenkassen gleich gut an. So soll ein Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) dafür sorgen, dass Kassen mit vielen älteren Patienten, die statistisch höhere Krankheitskosten erzeugen, nicht benachteiligt werden. Deshalb erzeugt die Zuteilung der Gelder aus dem Gesundheitsfonds nach der Krankheitsschwere und -häufigkeit der Versicherten. Von diesem Ausgleich profitieren aber vor allem die Ortskrankenkassen (AOKen), die sich über besonders hohe Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds freuen können.

Im Juni 2017 haben 91 der derzeit 113 Krankenkassen deshalb eine Erklärung unterzeichnet, in der sie eine Reform des Strukturausgleichs fordern. Der Gesundheitsfonds erfülle "derzeit nicht sein Ziel, gleiche Chancen im Wettbewerb um eine gute Gesundheitsversorgung sicherzustellen", kritisieren die Kassen in dem Schreiben an das Bundesgesundheitsministerium und das Bundesversicherungsamt (der Versicherungsbote berichtete). So müssten einige Anbieter allein deshalb einen Zusatzbeitrag erheben, weil der Morbi-RSA zu Verzerrungen im Gesundheitssystem führe. Das Bundesgesundheitsministerium hat ein Sondergutachten angekündigt, um die Wirkung des Strukturausgleichs zu ermitteln.

In Zahlen: Nach dem letzten Jahresausgleich von 2015 betrug den Angaben zufolge die Überdeckung der AOKs mehr als eine Milliarde Euro. Dem entgegen mussten die anderen Kassen ein deutliches Minus verkraften: Die Unterdeckung der Ersatzkrankenkassen bezifferte sich auf 644 Millionen Euro, der Innungskrankenkassen auf 240 Millionen Euro und der Betriebskrankenkassen auf 166 Millionen Euro.

Fehlanreize durch den Wettbewerb der Krankenkassen?

Neue Vorwürfe erhoben vor wenigen Tagen auch der Deutschlandfunk und das ZDF-Magazin Zoom in Richtung des Krankenkassen-Systems. So schaffe der Wettbewerb zwischen den einzelnen Anbietern auch zahlreiche Fehlanreize. Während die Kassen zum Beispiel junge und gesunde Gutverdiener mit fragwürdigen Leistungen wie Homöopathie umwerben, würden sie notwendige Therapien für ältere Patienten immer häufiger abgelehnt.

Für Aufsehen sorgte bundesweit die Reportage "Operieren und kassieren?" des Westdeutschen Rundfunks. Ein Journalistenteam hatte dafür gemeinsam mit dem Heidelberger Institut für Theoretische Studien (HITS) mehr als 130 Millionen Krankenhausaufenthalte ausgewertet. Und festgestellt, dass es maßgeblich vom Wohnort abhängt, ob ein Patient in einer Klinik operiert wird oder nicht. So werden in Osthessen beispielsweise dreimal mehr Eingriffe am Rücken durchgeführt als im Bundesschnitt.

Eine mögliche Ursache: Für viele OPs können die notorisch klammen Kliniken hohe Zahlungen aus dem Gesundheitsfonds abrechnen, auch werde eine hohe Auslastung der Betten honoriert. Deshalb würden Patienten auch dann operiert, wenn der Eingriff unnötig sei oder gar schädlich, so der Vorwurf der Journalisten.

Die Reporter konnten einem Krankenhaus in Hessen mit Hilfe eines unabhängigen Gutachters und der örtlichen AOK nachweisen, dass die Klinik ihre Operationen an Patienten aufteilt, obwohl ein einziger Eingriff ausreichen würde. So gefährde sie das Patientenwohl, schließlich müssten die oft älteren Betroffenen mehrere schwere Eingriffe über sich ergehen lassen - inklusive Anästhesie. Stolze 15,3 Prozent der Einnahmen würde die Klinik durch Mehrfachoperationen generieren. So werden aus einer einmaligen Zahlung von 6036 Euro schnell 9446 Euro, da die Krankenkassen zwei kleine Operationen zu je 4723 Euro vergüten.

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Für Empörung in der Versicherungsbranche sorgte bereits, dass Ärzte Diagnosen in den Krankenakte fälschen, weil sie so über die Kassen mehr Geld abrechnen können: nicht in Einzelfällen, sondern millionenfach (Der Versicherungsbote berichtete).

dpa