Bundestagswahl 2017 - Was bedeutet Jamaika für die Versicherungswirtschaft?
Nach der gestrigen Bundestagswahl ist es wahrscheinlich, dass zukünftig in Deutschland eine Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen regieren wird. Doch was bedeutet das für die Versicherungsbranche? Der Versicherungsbote hat anhand der Parteiprogramme in die Glaskugel geschaut - und sieht Chancen wie Gefahren. Die Versicherer könnten vor allem davon profitieren, dass die FDP ihre Interessen vertritt.
Deutschland hat am Sonntag einen neuen Bundestag gewählt. Das Ergebnis lässt nun viele ratlos zurück. Vor allem die Regierungsparteien wurden bitter abgestraft. Zwar konnten sich die Unionsparteien nach vorläufigem amtlichen Endergebnis mit 33 Prozent aller Stimmen als stärkste Kraft behaupten: Angela Merkel wird weiterhin das Land regieren. Aber die Union musste herbe Verluste verkraften: 8,5 Prozentpunkte ging es bergab, das schlechteste Ergebnis seit 1953. Und auch die SPD erhielt vom Wähler einen Denkzettel: mit 20,5 Prozent fuhr sie gar das schlechteste Ergebnis seit 1945 ein.
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Die SPD reagierte und schloss eine neue große Koalition kategorisch aus. „Heute ist ein schwerer, bitterer Tag für die Sozialdemokratie“, sagte Spitzenkandidat Martin Schulz, als er um 18:30 Uhr vor die eigenen Anhänger im Willy-Brandt-Haus trat. Und sagte, dass er in die Opposition gehen wolle. Auch, um nicht der AfD die Rolle des Oppositionsführers zu überlassen: mit 12,6 Prozent wurden die Rechtspopulisten drittstärkste Kraft.
Wenn die SPD nicht in die Regierung will, ist Jamaika derzeit einzig mögliche Regierungskoalition mit einer Mehrheit. Das heißt, die Union schließt sich mit der FDP zusammen, die deutlich zulegen konnte und 10,7 Prozent der Zweitstimmen holte. Auch die Grünen müssten für eine Regierung bereit sein - sie erkämpften 8,9 Prozent der Stimmen. Die Regierungsverhandlungen könnten schwierig werden und für die Versicherungswirtschaft einige Überraschungen bereithalten. Der Versicherungsbote blickt voraus, was auf die Branche zukommen könnte.
Krankenversicherung - Bürgerversicherung abgewendet
Positiv aus Sicht der Versicherungswirtschaft: Eine Bürgerversicherung wird es in einer Jamaika-Koalition nicht geben. Das heißt, die privaten Krankenversicherer dürfen auch weiterhin Vollversicherungen im Neugeschäft anbieten. Zwar haben die Grünen eine Bürgerversicherung im Bundestagswahlkampf gefordert – sie werden sich jedoch damit gegen die stärkeren Koalitionspartner nicht durchsetzen können. Denn sowohl die Union als auch die FDP haben sich im Wahlkampf deutlich für das duale System in der Krankenversicherung ausgesprochen.
Abhängig davon, wie stark die FDP ihre Interessen in den Koalitionsgesprächen durchsetzen kann, könnten sich für die privaten Krankenversicherer gar neue Zielgruppen ergeben. Denn die FDP will die private Krankenvollversicherung für alle Bürger öffnen – ganz gleich, wie viel jemand verdient. „Künftig soll jeder unabhängig vom Einkommen entscheiden können, ob er sich gesetzlich oder privat versichert“, hatte sich die die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Marie-Agnes Strack-Zimmermann im Interview mit dem Versicherungsboten positioniert. In dieser Frage ist aber mit Widerstand von den Grünen und aus Teilen der Union zu rechnen.
Gesetzliche Rente - Alterskorridor und höheres Renteneintrittsalter?
Wie geht es weiter mit der gesetzlichen Rente? Die CDU/CSU hat es vor der Bundesregierung vermieden, sich in Sachen Alterssicherung festzulegen. Stattdessen soll eine parteiübergreifende Reformkommission ausarbeiten, wie die gesetzliche Rente reformiert werden kann. Deshalb erhofft sich auch hier die private Versicherungswirtschaft, dass die FDP ihren Einfluss einbringt – in ihrem Sinne.
Auf die Chancen einer FDP-Regierungsbeteiligung macht Klaus Morgenstern in einem Gastbeitrag für "Versicherungswirtschaft heute" aufmerksam, Chef des "Deutschen Instituts für Altersvorsorge" (DIA). Er erhofft sich "neue Ansätze" in der Rentendebatte. Die FDP sei mit dem Vorschlag eines Alterskorridors in den Wahlkampf gegangen. Ab 60 soll jeder Rentenversicherte selbst entscheiden können, wann er in Rente geht – nach der einfachen Regel: Wer früher geht, bekommt eine geringere, wer später geht, eine entsprechend höhere Rente. Wechseln Versicherte zeitiger in den Ruhestand, müssen sie dann mit deutlichen Abschlägen bei den Altersbezügen rechnen.
Dieses Modell präferiert auch Morgenstern, dessen Lobby-Institut DIA von der Deutschen Bank gegründet und von der Finanzbranche finanziert wird. Morgenstern hofft, dass die FDP ihren Vorschlag „eines Alterskorridors...in den sicher nicht einfachen Koalitionsgesprächen auf den Tisch legen“ wird – und auch die Grünen zustimmen.
Auch die FDP-Forderung, das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung zu koppeln, würde Morgenstern begrüßen. Im Klartext: Die Menschen müssen länger arbeiten, bis sie in Rente gehen dürfen. Eine Idee, die auch in der Union Sympathien findet, unter anderem bei Wolfgang Schäuble. Doch Angela Merkel hat im Kanzlermodell mit Martin Schulz explizit ausgeschlossen, dass es mit ihr eine Anhebung des Renteneintrittsalters geben werde (der Versicherungsbote berichtete). Hier wird es spannend sein zu sehen, ob sie ihr Wahlversprechen hält.
Private Altersvorsorge könnte stärker gefördert werden
Optimistisch dürften die Versicherer auch mit Blick auf die private Altersvorsorge auf Jamaika schauen. Sowohl die Union als auch die FDP gelten als Befürworter der privaten Altersvorsorge – unter anderem hatte Angela Merkel die Rentenreformen Gerhard Schröders im Wahlkampf gelobt. Auch hier dürfen die Anbieter auf neue Zielgruppen hoffen, wenn sich die FDP stark einbringen kann: Sie will Riester für alle ermöglichen. „Die Riester-Förderung soll künftig allen zur Verfügung stehen, also auch Selbstständigen oder Mitgliedern in berufsständischen Versorgungswerken. Das erleichtert beispielsweise den Wechsel zwischen Anstellung und Selbstständigkeit oder die Kombination von beidem“, hatte sich Marie-Agnes Strack-Zimmermann im Interview mit dem Versicherungsboten positioniert.
Lebensversicherer profitieren von Privatisierung und ÖPP
Die Lebensversicherer könnten davon profitieren, dass die FDP als Befürworter eines schlanken Staates gilt und damit auch Privatisierungen und Öffentlich-Privaten Partnerschaften (ÖPP) gegenüber nicht abgeneigt ist. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die großen Assekuranzen künftig doch noch in teilprivatisierte Autobahnen und andere Infrastruktur-Projekte investieren können. Das verspricht hohe Renditen über einen langen Zeitraum.
Ein Blick zurück: Der amtierende Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte 2016 Pläne vorangetrieben, wonach private Unternehmen über eine Betreibergesellschaft einen Minderheitsanteil am Straßennetz erwerben können. Das ließ auch die Versicherer frohlocken, die in Zeiten niedriger Zinsen auf renditestarke Investments hofften. Diese Pläne sind am massiven Widerstand der SPD gescheitert (der Versicherungsbote berichtete).
Der Fiskus braucht aber dringend Geld, um marode Straßen, Brücken und Schienen zu sanieren. In einer Regierung mit der FDP steigt die Wahrscheinlichkeit für Öffentlich-Private Partnerschaften. Zwar regelt derzeit Artikel 90 des Grundgesetzes, dass die Autobahnen unveräußerlich sind. In der „Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs“, verabschiedet Ende 2016, ist aber ein Hintertürchen für Privatisierungen vorgesehen: Die Zuständigkeit für Autobahnen darf an eine Gesellschaft privaten Rechts übertragen werden, was de facto bedeutet, dass Teile des Straßennetzes in private Hand gehen, so ein Gutachten des Bundesrechnungshofes.
Für den Steuerzahler droht ein Milliardenschweres Haftungsrisiko, wenn ÖPP massiv ausgebaut werden und sich das Geschäft nicht entwickelt wie geplant. Beispiel Autobahn A1 zwischen Hamburg und Bremen: Derzeit verklagt der private Autobahnbetreiber "A1 Mobil" den Bund auf Schadensersatz, der Streitwert beziffert sich auf 777 Millionen Euro. Denn die Betreibergesellschaft kalkulierte mit einer durchschnittlichen Rendite von rund 30 Prozent, wie der Spiegel berichtet. Diese Traumrendite ließ sich nicht erzielen, der private Partner kam in eine wirtschaftliche Schieflage: nun soll der Steuerzahler für die entgangenen Gewinne zahlen.
Wohnungsbau gefördert - und die Gefahr einer neuen Immobilienblase?
Die Mieten explodieren in den Großstädten seit Jahren – wie kann dies verhindert werden? Die FDP hat im Wahlkampf mehrfach schon angedeutet, dass sie die Mietpreisbremse abschaffen will. Ein Freund des sozialen Wohnungsbaus sind die Liberalen auch nicht, weil sie das in einen unrechtmäßigen Eingriff in den Markt halten. Die FDP will stattdessen allgemein das Bauen fördern, indem finanzielle Anreize geschaffen werden – so soll etwa die Grunderwerbssteuer gesenkt oder gänzlich abgeschafft werden. Hier gehen die Liberalen d'accord mit den Unionsparteien, die ebenfalls die Grunderwerbssteuer senken wollen.
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Die Idee dahinter: Man muss nur dafür sorgen, dass mehr gebaut wird, dann sorgt der Markt schon selbst für faire Mieten. Ist das tatsächlich so? Die Gefahr besteht nun darin, dass Immobilien auch als Spekulationsobjekt attraktiver werden – und mehr am Bedarf vorbei gebaut wird. Dass in den Großstädten teure Luxuswohnungen entstehen, die sich nur wenige leisten können, dass Büroräume entstehen, die keiner nutzt, sowie Supermärkte und Einkaufszentren, die einen hohen Erfolgsdruck haben, weil ein Geldgeber das investierte Geld wieder reinholen muss. Im Niedrigzinsumfeld, wo viele Anleger nicht wissen wohin mit ihrem Geld, könnte so die Politik des freien Marktes eine neue Immobilienblase begünstigen, wenn der Wohnungsbau nicht doch in kluge Bahnen gelenkt wird.