Keine Frage: Die Grundfähigkeitsversicherung ist noch immer ein Nischenprodukt. Das liegt auch an Schwächen der Verträge, wie weiter unten noch zu erörtern sein wird. Dennoch ist der Absatz im letzten Jahr um stolze 28 Prozent gestiegen, so berichtet der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Zum Stichtag 31.Dezember hatten die Versicherer nach vorläufigen Zahlen genau 52.479 Hauptversicherungen in ihrem Bestand.

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Die Grundidee

Sehen, Hören, Gehen, Sprechen, Denken ("klar" und "strukturiert", „logisch“): viele angeborene Fähigkeiten sind für menschliches Handeln grundlegend. Auch ist die Ausübung vieler Berufe bei Verlust einer Grundfähigkeit unvorstellbar. Lokführer*innen, die nicht mehr sehen? Lehrer*innen, die die Fähigkeit zum Sprechen verlieren? Handwerker*innen, die nicht mehr greifen können? Die Grundfähigkeitsversicherung soll Berufstätige vor dem Verlust dieser Fähigkeiten absichern.

Die Art des ausgeübten Berufs spielt dabei keine Rolle. Stattdessen muss durch ärztliche Beurteilung nachgewiesen werden, dass mindestens für einen bestimmten Zeitraum (zumeist 12 Monate) eine der in den Policen aufgeführten Fähigkeiten verloren geht. Manche Versicherer definieren auch Grundfähigkeiten, die erst durch Verlust weiterer Fähigkeiten leistungsauslösend wirken. Sind die Voraussetzungen zur Zahlung erfüllt, erhalten die Versicherten eine monatliche Rente, so lange die Einbuße der Grundfähigkeit anhält.

Welche Grundfähigkeiten werden versichert?

Die Policen unterscheiden sich in ihren Angeboten sehr, weswegen ein einheitlicher Katalog an Grundfähigkeiten kaum angegeben werden kann. Auch bieten Versicherer Policen in verschiedenen Varianten an: Die Dortmunder Lebensversicherung zum Beispiel nennt drei Varianten, die neun, zwölf oder 15 Fähigkeiten absichern.

Zudem werden Produkte immer häufiger für spezielle Tätigkeitsbereiche entworfen wie z.B. die „Handwerkerschutz-Police“ der Nürnberger oder eine Police der Gothaer, die Tippen und Bildschirmtätigkeiten als Grundfähigkeiten aufnimmt.

Die wichtigsten versicherbaren Grundfähigkeiten lassen sich jedoch unter folgenden Begriffen zusammenfassen: Sehen, Hören, Sprechen, Denken bzw. Intellekt oder geistige Leistungsfähigkeit, Gleichgewicht bzw. Gleichgewichtssinn, Gebrauch der Hände sowie „Greifen“ und „Halten“, Gebrauch der Arme, Gebrauch der Beine sowie „Gehen“ oder das Treppen-Steigen, Sitzen, Herzfunktion, Lungenfunktion, Orientierung bzw. Orientierungssinn, Autofahren, Schreiben, Knien und Bücken. Bei manchen Angeboten kann außerdem ein hoher Pflegegrad leistungsauslösend wirken.

Die Policen sollten aber nach individuellen Bedürfnissen auf verschiedene Grundfähigkeiten geprüft werden, zumal der Leistungsfall bei einigen Produkten erst dann eintritt, wenn bestimmte Grundfähigkeiten zusammen mit anderen Grundfähigkeiten verloren gehen.

Wichtig: Ein Vergleich der Bedingungen, die zum Leistungsfall führen

Wie leistungsfähig eine Grundfähigkeitsversicherung ist, ergibt sich erst durch Definitionen der Leistungsauslöser: Diese entscheiden, ob eine Versicherung bei Verlust einer Grundfähigkeit auch tatsächlich zahlt oder nicht. Der Versicherungsfachwirt Philip Wenzel machte sich die Mühe und verglich verschiedene Angebote bekannter Versicherer auf seiner Webseite. Deutlich wird: kleine Details der Policen können für den Leistungsfall ausschlaggebend sein.

So bieten einige Versicherer Policen an mit verkürztem Prognosezeitraum, was für die Kunden von Vorteil ist: Die monatliche Rente wird in diesen Fällen schon gezahlt, wenn durch den Arzt ein Wegfall der Grundfähigkeit für 6 Monate statt für mindestens 12 Monate prognostiziert wird. Andere Bedingungen hingegen erschweren den Leistungszugang. Wenn schon nach 200 Metern selbständigem Gehen die Grundfähigkeit als erhalten gilt statt erst nach 400 Metern, wird eine Rentenzahlung im Schadensfall unwahrscheinlicher.

Auch ist zum Beispiel relevant, ob medizinische Testverfahren Hilfsmittel ausschließen oder nicht: wer Hilfsmittel wie Unterarmstützen während des Tests nehmen muss, erhält ebenfalls mit geringerer Wahrscheinlichkeit die Rente.

Wegfall der Grundfähigkeit: Der Schaden muss sehr groß sein

Wann gilt eine Grundfähigkeit als verloren? Allen Anbietern gemein ist: Definitionen der Leistungsauslöser sind zwar teils sehr konkret, häufig aber auch relativ streng. Ersichtlich wird das an jenen Bedingungen, die sich anhand medizinischer Kriterien gut abbilden lassen.

Fast alle Anbieter definieren für den Sehverlust zum Beispiel ein Restsehvermögen von 5 Prozent oder einen Gesamt-Gesichtsfeldwinkel von höchstens 30 Grad: Bei diesen oder schlechteren Werten gilt die Grundfähigkeit „Sehen“ als verloren, sofern sich die Sehkraft nicht durch medizinische Maßnahmen oder durch Sehhilfen verbessern lässt.

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Philip Wenzel pointiert: „Unterm Strich muss man (...) bei allen Anbietern ziemlich blind sein, um Leistung zu erhalten“. Ähnliches beim Hörverlust: Testverfahren müssen hier zum Beispiel im Frequenzbereich des gesprochenen Worts einen Hörverlust von mindestens 80 Prozent nachweisen. Wenzel pointiert: „... unterm Strich muss ich so gut wie taub sein“.

...für psychische Krankheiten wird nicht gezahlt

Ein weiterer Pferdefuß der Verträge: psychische Krankheiten als Ursache sind bei Grundfähigkeitsversicherungen in der Regel nicht versichert. Der Verlust der Grundfähigkeit muss organisch bedingt sein, also zum Beispiel durch Multiple Sklerose, Schädelhirntrauma, Schlaganfall, Hirntumor oder ähnliches. Gerade beim Verlust der wichtigsten Grundfähigkeiten (Sehen, Hören, Sprechen) schließen die Policen psychisch bedingte Erkrankungen explizit vom Versicherungsschutz aus. Lediglich die Swiss Life, die Nürnberger und die Dortmunder bieten einen Baustein für psychische Erkrankungen an, so berichtet Versicherungsfachwirt Wenzel.

Grundfähigkeitsversicherungen bei Maklern und Kunden: Ein schwerer (Zwischen-) Stand

Grundfähigkeitsversicherungen sind noch relativ neu, die Produkte wurden ab dem Jahr 2000 in Deutschland eingeführt. Die anfänglichen Hoffnungen aber haben sich bisher nicht erfüllt. Zwar ergab eine Umfrage von Swiss Life Deutschland und Focus Online, dass immerhin zwei Drittel der Menschen (65 Prozent) dieses Produkt oder ähnliche Alternativprodukte zur klassischen Berufsunfähigkeits-Versicherung (wie die Dread-Disease-Versicherung) kennen.

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Aber gerade Versicherungsmakler sehen die Policen sehr kritisch - auch aufgrund der vorgenannten Schwächen. Das veranschaulicht die AssCompact-BU-Studie 2018, eine Befragung von rund 400 Versicherungsmaklern. Das Ergebnis: Nur knapp vier von zehn Maklern (37 Prozent) vermitteln nach eigener Aussage regelmäßig Grundfähigkeitsversicherungen. Die vermeintlichen Alternativprodukte zur BU werden von vielen Maklern als unsinnig abgelehnt, wie der Versicherungsbote selbst anhand kritischer Rückmeldungen von ungebundenen Vermittlern bestätigen kann. Versicherungsmakler und BU-Experte Matthias Helberg schreibt, diese Verträge seien nur gemacht, "damit man auch der Krankenschwester noch irgendetwas verkaufen kann".

Potential bei Produkten für spezielle Tätigkeitsbereiche

Und doch werden einige Grundfähigkeitsversicherungen immer mehr nachgefragt. Die Grundfähigkeitsversicherung der Nürnberger zum Beispiel ist nach Philip Wenzel „derzeit an der Spitze im Markt anzusiedeln“, was nicht zuletzt an der Klausel liegen würde, „die den Verlust der Fahrlizenz der Klasse C und D versichert“: Ein ideales Angebot also für Berufskraftfahrer*innen. Und wenn die Gothaer Tippen und Bildschirmtätigkeiten in den Grundfähigkeiten-Katalog aufnimmt, zeigt das: In der Spezialisierung der Angebote für bestimmte Berufsgruppen könnte ein Potenzial liegen, das noch nicht ausgeschöpft ist.

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