Musterfeststellungsklage - Weshalb die Betroffenen nicht sofort auf Schadensersatz hoffen dürfen
Die sogenannte Musterfeststellungsklage soll es Verbrauchern ermöglichen, gemeinsam gegen einen Konzern zu klagen: Seit dem 1. November 2018 gibt es dieses Instrument des Verbraucherschutzes. Wenn das Verfahren selbst auch kostenfrei ist, müssen die Verbraucher dennoch künftig auch bei einer erfolgreichen Klage Anwaltskosten fürchten. Das liegt an der Konstruktion des neuen Rechtsinstrumentes, das hohe Hürden für Schadensersatz vorsieht.
Seit dem 1. November 2018 können sich Verbraucher einer sogenannten Musterfeststellungsklage anschließen. Sie soll es ermöglichen, dass Geschädigte auch in Deutschland kollektiv von einem Konzern Schadensersatz geltend machen. Und tatsächlich findet das neue Instrument großes Interesse, wie aktuelle Zahlen zum VW-Dieselgate-Skandal zeigen.
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370.000 Klagewillige gegen VW
Der Wolfsburger Autobauer hatte Käufer eines Diesel mit beschönigten Abgaswerten getäuscht. Doch Schadensersatz wurde deutschen Autokäufern bisher nicht zugestanden - im Gegensatz zu den USA. In den Vereinigten Staaten musste VW bis März 2018 bereits 7,4 Milliarden Dollar (6,5 Milliarden Euro) an Schadensersatz an 350.000 Autofahrer ausschütten, so geht aus dem Kontrollbericht der US-Sammelkläger hervor. In Deutschland sollen sich Autofahrer hingegen mit Nachrüstungen begnügen.
Dass viele deutsche Autokäufer mit dieser Lösung nicht einverstanden sind, zeigt der Zuspruch zur ersten Musterfeststellungsklage überhaupt, die gegen VW angestrengt wurde. Beim Klageregister für die Musterfeststellungsklage (MFK) seien seit dem 1. November bereits 372.000 Anmeldungen eingegangen, berichtet Gerd Billen, Staatssekretär im Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz.
Wer sich noch nicht beteiligt hat, ist möglicherweise zu spät. Sehr wahrscheinlich sind die Ansprüche zum 31. Dezember 2018 verjährt. Angestoßen hatte die Klage der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv). Auch der Automobilclub ADAC unterstützt den Vorstoß.
Hohe Hürden für Start der Klage
Ob die Musterfeststellungsklage tatsächlich ein wirksames Instrument der Rechtsfindung ist, muss sich noch zeigen. Das liegt auch an den beachtlichen Hürden, die der Gesetzgeber für ein solches Verfahren festgelegt hat:
Betroffene können nicht selbst gegen einen Konzern klagen, sondern sich lediglich der Klage eines Verbandes anschließen. Diese Verbände müssen bestimmte Mindestkriterien erfüllen: entweder aus mindestens 350 Mitgliedern bestehen oder zehn Mitgliedsverbände unter sich vereinen. Nur wenn sich der Verband in einer Liste des Bundesjustizministeriums registriert hat, darf er Musterfeststellungsklagen führen.
Eine weitere Hürde: Binnen zwei Monaten müssen sich mindestens 50 Betroffene in ein Klageregister eintragen, damit der Verband die Klage anschieben kann. Sonst scheitert sie bereits im Vorfeld.
Drohender Rechtsstreit im Nachgang
Doch damit nicht genug. Selbst wenn sich die Verbände im Namen der Verbraucher gegen einen Konzern durchsetzen, bedeutet dies nicht automatisch, dass die Verbraucher Schadensersatz erhalten. Im Gegenteil: danach muss jeder Verbraucher individuell einzeln klagen, wenn auch unter vereinfachten Bedingungen. Obwohl die Musterfeststellungsklage kostenfrei und verjährungshemmend ist, so drohen danach Anwaltskosten, die der Betroffene zunächst selbst vorschießen muss.
Das gilt nun auch für den VW-Skandal. Das Oberlandesgericht Braunschweig, welches über den Streit entscheidet, werde in seinem Urteil nicht die Auszahlung des jeweiligen Schadensersatzes an die Betroffenen anordnen, berichtet Fachanwalt Norman Wirth von der Anwaltskanzlei Wirth Rechtsanwälte in Berlin. “Bei der Musterfeststellungsklage steht am Ende „nur“, ob grundsätzlich ein Schadenersatzanspruch besteht, nicht die konkrete Höhe für die einzelnen Verbraucher“, so Wirth. Jeder müsse anschließend individuell seinen Schadensersatz einklagen, sofern sich VW nach einer Niederlage nicht bereit erkläre, die Diesel-Käufer sofort zu entschädigen.
Der Vorteil aus Sicht der Geschädigten: Nach einer Musterfeststellungsklage seien geringere Verfahrenskosten zu erwarten, da keine Gutachten und Zeugen mehr nötig sind, sofern sie schon erhoben wurden. „Dabei ist das dann zuständige Gericht an die grundsätzlichen Feststellungen des OLG Braunschweig oder gegebenenfalls des Bundesgerichtshofs gebunden, wodurch die Kosten deutlich geringer sein würden, als wenn – wie bisher – jeder einzeln klagen müsste“, berichtet Wirth. Der Streitwert bzw. Gegenstandswert, an dem sich die Kosten nach den jeweiligen Gebührentabellen für Gerichte und Anwälte orientieren, errechne sich auch aus der Höhe des geltend gemachten Schadenersatzes.
Und noch ein Vorteil des neuen Klageweges soll genannt werden: Nach einer erfolgreichen Musterfeststellungsklage sei "so gut wie sicher", dass auch die anschließende Klage im Sinne der Verbraucher ausgehe, berichtet Wirth. Folglich müsse später die Gegenseite Anwalts- und Gerichtskosten tragen. Ob die Konzerne nicht doch Wege finden können, dem Verbraucher den Schadensersatz noch streitig zu machen, wird die Gerichtspraxis zeigen - bekanntlich gibt es bisher keine Erfahrungen mit der Musterfeststellungsklage.
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In den USA habe VW an geschädigte Diesel-Kunden im Schnitt 10.000 US-Dollar Schadensersatz zahlen müssen, wenn sie ihr Auto zusätzlich mit einer Hardware haben nachrüsten lassen, so berichtet heute das "Handelsblatt" unter Berufung auf einen Zwischenbericht der US-Untersuchungskommission. Das entspricht aktuell ungefähr 8.730 Euro. Wer seinen Drei-Liter-Diesel sogar komplett zurückgeben wollte, habe sogar 40.000 Dollar Entschädigung erhalten (rund 34.920 Euro).