Mehr als 11 Millionen Beschäftigten droht Mini-Rente unter Grundsicherungsniveau
Mehr als elf Millionen Arbeitnehmer werden im Alter nur eine Mini-Rente erhalten, die ihren Lebensunterhalt kaum wird sichern können. Das geht aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion hervor, über die das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) berichtet. Demnach verdienten im Jahr 2017 rund 11,32 Millionen Menschen so wenig, dass ihre Rente auch nach 45 Beitragsjahren nicht über der Höhe des aktuellen staatlichen Grundeinkommens liegen wird.
24.289 Euro Jahreseinkommen erforderlich
Nach Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums ist aktuell ein versicherungspflichtiges Jahresentgelt von 24.289 Euro (bzw. rund 2.024 Euro Bruttoeinkommen) erforderlich, um nach 45 Beitragsjahren zur Rentenkasse eine Nettorente über dem durchschnittlichen Brutto-Grundsicherungsbedarf zu erreichen.
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Ein Sprecher der Deutschen Rentenversicherung bemühte sich gegenüber dem RND zugleich, die Zahlen zu relativieren. Es handle sich lediglich um „Berechnungen von fiktiven Rentenanwartschaften“, die keine empirische Grundlage habe. Zum einen sei unklar, ob die Betroffenen dauerhaft so wenig verdienen würden. Zum anderen hätten viele weitere Einnahme-Quellen, um Armut im Alter zu verhindern: etwa private und Betriebsrenten, Kapitaleinkünfte, Einnahmen aus Vermietung oder Einkünfte eines Partners.
Trotz der Relativierungen lenken die Zahlen den Blick auf zwei Probleme: zum einen werden langfristig auch mittlere Einkommen kaum ausreichen, um eine auskömmliche gesetzliche Rente zu erhalten. Und zum anderen ist der Niedriglohnsektor in Deutschland nach wie vor groß, trotz Mindestlohn.
Jeder vierte Beschäftigte erhält Niedriglohn von weniger als 10,80 pro Stunde
Aufhorchen lässt hier eine neue Studie des Deutschen Wirtschaftsinstitutes (DIW Berlin). Demnach zeigt sich der Niedriglohnsektor sehr stabil. Noch in den 90er Jahren habe er bei rund 16 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gelegen. In den folgenden Jahren stieg er stark an: auch aufgrund der Arbeitsmarktreformen unter Gerhard Schröder, aber auch dank vieler Privatisierungen und abnehmender Tarifbindung.
Seit der Finanzkrise 2008 stagniert der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglöhnen bei 24 Prozent: fast jeder Vierte in abhängiger Beschäftigung ist folglich davon betroffen. Sie verdienen aktuell weniger als 10,80 Euro Bruttolohn pro Stunde.
Laut DIW-Studie arbeiteten im Jahr 2017 rund neun Millionen Menschen zu Niedriglöhnen — inklusive Nebentätigkeiten. Besonders Frauen und junge Erwachsene seien demnach betroffen. Und Ostdeutschland: hier beträgt der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in der Haupttätigkeit 34 Prozent, im Westen „nur“ 22 Prozent. Für die Untersuchung wurden Daten des Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) ausgewertet, einer regelmäßigen Studie mit etwa 15.000 teilnehmenden Haushalten.
Für die Betroffenen gibt es, anders als es der Sprecher der Rentenkasse suggeriert, oft keinen Ausweg aus niedrigen Löhnen, denn die Lohnmobilität sei gering. 60 Prozent würden dauerhaft bei gering entlohnten Jobs verharren, nur ein Drittel hätte mittelfristig den Aufstieg in ein höheres Lohn-Segment geschafft: oft durch einen zusätzlichen Berufs- oder Studienabschluss. „Dass der Niedriglohnsektor lediglich als Übergang oder gar als Sprungbrett gilt, erweist sich für die meisten als Illusion,“ kommentiert Studienautor Markus Grabka vom DIW Berlin. „Vielmehr gibt es eine Niedriglohnfalle. Der Niedriglohnsektor, zu dem viele Minijobs gehören, sollte eingedämmt werden.“
Drei Prozent Altersarmut?
Doch wie groß ist das Problem der Altersarmut derzeit? Das Bundesarbeitsministerium verweist in seiner Antwort auf die AfD-Anfrage darauf, dass aktuell "nur" drei Prozent der Altersrentner davon betroffen seien, also Grundsicherung im Alter nach SGB XII erhalten. Was das bedeutet, zeigt sich an den konkreten Zahlen: im Bundesschnitt lag die Grundsicherung 2017 bei 814 Euro monatlich. Weil aber die Lebenshaltungskosten regional sehr unterschiedlich sind, können speziell ostdeutsche Rentner mit deutlich weniger Vorlieb nehmen müssen. In Sachsen war der Satz mit 736 Euro im Monat am niedrigsten, in Hamburg mit 884 Euro am höchsten. Aktuell sind rund 500.000 Personen betroffen.
Experten vermuten aber zugleich eine hohe Dunkelziffer bei der Altersarmut. Die Seniorinnen und Senioren scheuen demnach den Gang zum Sozialamt: etwa, weil sie ihre Rechte nicht kennen, aus Scham oder aus Sorge, dass auch ihre Kinder zur Kasse gebeten werden. Laut einer Berechnung der Verteilungsforscherin Irene Becker für die Tageszeitung "Welt" leben in Deutschland zwischen 184.000 und 494.000 Rentner in sogenannter verdeckter Armut.
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In Deutschland soll ein Drei-Säulen-Modell aus gesetzlicher, privater und betrieblicher Vorsorge das Einkommen der Rentner im Alter sichern. Vor allem die letzten beiden Säulen wurden seit den Sozialreformen der Regierung Gerhard Schröders 2003 bis 2005 gestärkt: anders als zum Beispiel in Österreich, wo ein Durchschnittsrentner rund 800 Euro mehr im Monat als ein deutscher Ruheständler erhält. Auch die Bundesregierung hat immer wieder betont, dass viele Senioren ohne zusätzlicher Vorsorge kein auskömmliches Alterseinkommen haben werden.