Die neue DIN 77230: Ein mutiger Schritt mit Schönheitsfehlern
Die DIN-Norm 77230 soll eine Basis-Finanzanalyse für Privathaushalte ermöglichen, basierend auf einem ganzheitlichen Beratungsansatz: sowohl als Leitfaden für die Vorsorge als auch für die Absicherung von Lebensrisiken. Einerseits ist das ein guter und wichtiger Schritt, schreibt Dirk Pappelbaum, Geschäftsführer der Inveda.net GmbH, in seinem Gastkommentar. Doch es gibt offene Fragen, die sich auch für Vermittler als Haftungsfalle entpuppen können.
Deutschland einig Normenland. Wenn’s ums Regeln geht, macht uns so schnell keiner etwas vor. Rund 34.000 Normen bestimmen, so das Deutsche Institut für Normung e.V. (DIN), Alltag, Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Verwaltung.
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Seit Kurzem nun ist mit der DIN 77230 „Basis-Finanzanalyse für Privathaushalte“ die erste deutsche Norm für die Finanzdienstleistung am Markt. Ihr Ziel ist es, Abläufe in der Versicherungsbranche zu standardisieren, im konkreten Fall die Analyse des Versicherungs- und Finanzierungsbedarfs eines privaten Haushalts.
Ein wichtiger und mutiger Schritt – mit kleinen Schönheitsfehlern. Wichtig, weil in der Branche eine recht große Verunsicherung darüber herrscht, wie man bei der ganzheitlichen Beratung eines Privathaushaltes vorgehen soll. Mutig, weil eine finale wissenschaftlich Betrachtung bei Versicherungs- und Finanzthemen eigentlich nicht möglich ist, weil sich politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen immer wieder ändern.
Der Bedarf des Verbrauchers wandelt sich mit den Rahmenbedingungen
Nehmen wir das Beispiel Zinsrisiko, das gegenüber der vorherigen Fassung mit aufgenommen wurde. In einer Hochzinsphase müssten wir darüber nicht reden. Aktuell aber verschulden sich viele private Haushalte durch Immobilienfinanzierungen, ohne dabei eventuelle spätere Zinssteigerungen einzukalkulieren.
Altersvorsorge und Absicherung einer Berufsunfähigkeit wären vor einigen Jahren bzw. Jahrzehnten ebenfalls keine Themen gewesen. Hier hat sich erst mit dem massiven Abbau von Sozialleistungen des Staates und den entsprechenden Gesetzesänderungen eine Versorgungslücke aufgetan. Zukünftig könnte auch die Reduktion der Leistungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung eine detailliertere Analyse des Absicherungsbedarfs erfordern. Hier stellt sich die Frage, ob eine solche DIN-Norm nicht von Zeit zu Zeit überprüft und aktualisiert werden müsste.
Ein ganzheitlicher Ansatz
Umso wichtiger ist der Ansatz, klar zu definieren, dass bei einer Finanzanlage immer der ganze Haushalt zu betrachten ist, also Ehe-, Lebenspartner sowie wirtschaftliche anhängige Kinder. Auch die Themenbereiche werden durch die Norm festgelegt.
Übergreifendes Ziel ist ein ganzheitlicher Ansatz, der unumstritten ist. Denn, man kann sich nicht nur auf die Themen der Vorsorge beschränken und dabei Anliegen wie Absicherung von grundlegenden Risiken wie Haftungsrisiken oder das Risiko des Verlustes von Hausrat oder anderem Eigentum vernachlässigen.
Ebenfalls unumstritten ist, dass zu einer Analyse immer die Erfassung des Ist-Standes gehört. Das heißt, dass zu jedem Themenbereich, z. B. Altersvorsorge oder Arbeitskraftverlust, die aktuelle Versorgungslücke bestimmt werden muss.
Norm definiert strenge Sollwerte
Neben der Feststellung der gesetzlichen und eventueller privater Absicherung braucht es dazu einen Sollwert. Hier geht die Norm sehr weit, und definiert für alle Themen eine Grundlage zur Berechnung der Sollwerte.
In diesem Punkt begibt sich die Norm auf dünnes Eis, denn diese Sollwerte sind nur schwer objektiv belegbar. So werden zum Beispiel für zahlreiche Haftungsrisiken 10 Millionen Euro als Mindestabsicherung definiert. Begründen lässt sich dieser Wert kaum, übersteigt er doch oft bei weitem die tatsächlichen Schadenssummen. Daran zeigt sich auch ein allgemeines Dilemma in der Branche, denn nur weil bestimmte Summen üblich sind, ist das kein Beleg dafür, dass diese Summen auch notwendig (oder ausreichend) sind.
Geschickt jedoch ist der Ansatz, bei der Definition der Lückenberechnung immer zwischen 3 Bedarfsstufen zu unterscheiden. Bedarfsstufe 1 sichert lediglich einen Grundbedarf, Stufe 2 den Erhalt des Lebensstandards und Stufe 3 erhöht ihn sogar. So kann der Berater grundsätzlich seinen Kunden sinnvolle und transparente Lösungen anbieten.
Allerdings, in Bezug auf die Bedarfsstufe 1 wird es in einigen Fällen problematisch werden, akzeptable Lösungen zu finden. Basis für die Ermittlung sind alle diejenigen, bei denen sich das Haushalteinkommen unter oder knapp über dem Mindeststundensatz bewegt. Und hier ist ernsthafte Kritik an der Norm angebracht. Denn bei der Berechnung des Mindeststundensatzes werden nur Ehe- bzw. Lebenspartner berücksichtigt. Stillschweigend geht die Norm davon aus, dass das Kindergeld deren Kosten deckelt. Mit rund 200 Euro pro Kind lassen sich aber wohl kaum eine größere Wohnung, Kleidung, Essen sowie Kindergarten, Schul- und Studienkosten bezahlen. Noch größer wird die Lücke bei Bedarfsstufe 2, denn Erhalt des Lebensstandards bedeutet in diesen Fällen auch Urlaub mit Kindern und Finanzierung von Hobbys.
Wer die DIN-Norm nur abarbeitet, sitzt schnell in der Haftungsfalle
Mein Fazit: Sicher kann man über einzelne Punkte streiten. Doch alles in Allem war die DIN 77230 längst überfällig und kann Bestand haben, trotz einiger Unzulänglichkeiten. Sie ist eine solide Grundlage, um sich mit dem Thema Finanzanlage privater Haushalte auseinanderzusetzen und gibt dem Berater eine gute Systematik an die Hand.
Alle Beteiligten müssen sich aber darüber im Klaren sein, dass eine einseitige Beschränkung auf die Abarbeitung der Norm keineswegs davor schützt, Haftungsrisiken bei der Beratung gänzlich zu vermeiden. Jeder private Haushalt ist letztlich ein Individualfall, es wird außerhalb der Norm immer Punkte geben, über die man mit dem Kunden gesondert reden muss. Wer als Berater die Norm nur listenhaft „abarbeitet“, riskiert trotz DIN-Norm eine Falschberatung.
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Auch die Berechnung der Lücken ist in einigen Bereichen streitbar. So könnte es mit der Norm passieren, die tatsächlichen Kosten für Kinder zu unterschätzen. Ebenso stellt sich die Frage, warum nicht die Eltern als Kostenrisiko in die Beratung mit aufgenommen kommen werden. Unabhängig davon, dass das Pflegerisiko nicht zu unterschätzen ist, könnte sich der Kunde auch so wirtschaftlich für die Eltern verantwortlich fühlen, wenn zum Beispiel die Altersvorsorge der Eltern nicht ausreichend ist.