Der CDU-Politiker Friedrich Merz hat sich für eine verpflichtende private Altersvorsorge ausgesprochen. Es müsse eine „neue Kultur des Aktiensparens“ geben, positioniert sich der stellvertretende Präsident des CDU-Wirtschaftsrates in einem Gastkommentar für „Die Zeit“. Dabei hat der Politiker vor allem die niedrige Zahl privater Aktionäre im Blick.

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“Erfolg deutscher Unternehmen von ausländischen Aktionären vereinnahmt“

Die Zahl der Aktionäre sei im Jahr 2018 zwar um 200.000 gestiegen, rechnet Merz vor, so dass es nun mehr als zehn Millionen Aktionäre in Deutschland gebe. “Damit sind aber immer noch 70 Millionen Menschen in Deutschland ohne Zugang zu den Kapitalerträgen der Unternehmen. Immer noch arbeiten Millionen deutscher Beschäftigter in börsennotierten Aktiengesellschaften, deren Erfolg von Millionen ausländischer Aktionäre vereinnahmt wird”, schreibt der 63jährige.

Anders als früher sei er nun der Auffassung, „dass der Gesetzgeber eine Verpflichtung zur privaten, kapitalmarktorientierten Vorsorge für das Alter ernsthaft prüfen sollte, in welcher Form auch immer”, ergänzt Merz. In beinahe allen anderen europäischen Staaten sei der Anteil der Aktionäre höher als in Deutschland, in den USA, „dem Mutterland des Kapitalismus“, sowieso.

Der als wirtschaftsliberal und arbeitgebernah bekannte Merz greift in seinem Kommentar sogar ein wenig auf Klassenkampf-Rhetorik zurück, um seine Argumente zu stützen. So würden Aktien und eine entsprechende Vorsorgepflicht "Kapital in Arbeitnehmerhand" bedeuten.

Unter anderem hatte der frühere IG Metall-Chef Berthold Huber während der Finanzkrise 2009 gefordert, mehr "Kapital in Arbeitnehmerhand" zu geben - durchaus auch mit Blick auf Aktien. So sollten die Arbeitnehmer bis zu 20 Prozent der Aktienanteile eines Betriebes erhalten, um mehr Mitsprache bei strategischen Entscheidungen zu haben: Freilich sollten sie diese nicht kaufen, sondern als Ausgleich für Lohneinbußen bekommen. Damals waren infolge der weltweit einsetzenden Rezession auch in deutschen Firmen viele Stellen abgebaut worden, teils verzichteten die Beschäftigten freiwillig auf Teile ihres Gehaltes.

Kritik an aktueller Sozialpolitik - und Verteidigung der Agenda 2010

Mit der aktuellen Sozialpolitik geht Merz hart ins Gericht — und verteidigt Gerhard Schröders Agenda 2010. Die damalige rot-grüne Regierung hat unter anderem die Hartz IV-Gesetze, eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes, die Anhebung des Renteneintrittsalters sowie die Absenkung des Rentenniveaus (Verhältnis der Rente zu den aktuell gezahlten Löhnen) beschlossen.

Die Agenda-Politik sei der Versuch gewesen, „die deutsche Volkswirtschaft in einem schärfer werdenden globalen Wettbewerb zukunftsfähig und zugleich die Sozialversicherungen demografiefest zu machen“, schreibt nun Merz. Von diesem Anspruch sei in den letzten Jahren wenig übrig geblieben. „Stattdessen befinden sich Union und SPD in einem sozialen Überbietungswettbewerb, der durch Populisten am linken und rechten Rand noch zusätzlich befeuert wird“, so der Rechtsanwalt.

Es gebe ein Ungleichgewicht zwischen sozialer Umverteilung und Zukunftsinvestitionen, argumentiert Merz: Während der Staat schon heute fast 100 Milliarden Euro Bundeszuschuss in die gesetzliche Rentenkasse zahlen müsse, gebe er bis 2025 nur 2,5 Milliarden Euro für die Forschung zur künstlichen Intelligenz aus. "Nach wie vor hat Deutschland eine starke Volkswirtschaft, aber wir konsumieren zu viel, und wir investieren zu wenig. Dies gilt für die privaten wie für die öffentlichen Haushalte gleichermaßen", schreibt Merz.

"Warum nicht bei den Jüngeren viel mehr Kritik daran?"

Aus Sicht des Finanzpolitikers sind die Zustände unhaltbar. "Warum gibt es nicht wenigstens bei den Jüngeren viel mehr Kritik daran, wie mit ihrer Zukunft umgegangen wird? Womöglich richten wir uns zu sehr in der Gegenwart ein. Fehlt uns gar das notwendige Grundverständnis für die Zusammenhänge zwischen den Investitionen von heute und dem Wohlstand von morgen?", fragt Merz.

Damit spielt der CDU-Politiker indirekt auf die „Fridays for Future“-Bewegung an und die damit verbundenen Forderungen nach einer besseren Klimapolitik. „Wir sind uns in unserer Gesellschaft weitgehend einig, dass die Umweltpolitik vom Vorsorgeprinzip und vom Grundsatz der Nachhaltigkeit geleitet sein muss. Diese Leitplanken müssen aber genauso für die Wirtschafts- und Sozialpolitik gelten“, schreibt der Politiker. Unbezahlbare soziale Leistungsversprechen und eine Übertragung der Lasten auf jüngere Generationen würden gleich mehrfach gegen Vorsorgeprinzip und Nachhaltigkeit verstoßen. Vor ein paar Tagen hatte Merz „Fridays for Future“ noch scharf kritisiert. Diese würden sagen: „Wir schalten alles ab und verbieten soziale Mobilität“, schrieb er bei Twitter nicht ganz zutreffend. Und erntete einen Shitstorm.

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Friedrich Merz wird als potentieller Bundeswirtschaftsminister gehandelt, sollte Annegret Kamp-Karrenbauer Kanzlerin werden. Die Frage hingegen, ob er sich in einer Urabstimmung selbst als Kanzlerkandidat aufstellen lassen wolle, nachdem die Parteichefin durch das schwache Ergebnis bei der Europawahl geschwächt ist, bezeichnete er bei einer Buchvorstellung in Köln als "völlig irrsinnige Diskussion". Er wolle nicht über den Kanzlerkandidaten der Bundesrepublik Deutschland reden "zu einem Zeitpunkt, wo wir keine Wahlen haben", zitieren ihn die "Westfälischen Nachrichten".

Aktien bedeuten "Kapital in Arbeitnehmerhand"

Aus Sicht von Friedrich Merz stärkt es auch die Demokratie, wenn der Anteil der Aktionäre in Deutschland steige. Denn die Zustimmung zu Demokratie und Marktwirtschaft sind aus seiner Sicht untrennbar miteinander verbunden. "Ohne Kapitaleinsatz und ohne Kapitalrentabilität gibt es keinen Sozialstaat und ohne Sozialstaat gibt es keine soziale Gerechtigkeit", schreibt der CDU-Politiker. Kapitaleinsatz umfasse viele Bereiche: "kapitalstarke Unternehmen, Kapitalbildung in Arbeitnehmerhand, Kapitalfundierung von Teilen der Sozialversicherungen, Kapitalerträge etwa für die Bildungseinrichtungen". All dies mache den Kapitalismus im bestverstandenen Sinn des Wortes zusammen mit der sozialen Verantwortung aller Akteure zum "Wesenskern der sozialen Marktwirtschaft".

Hier verweist der Christdemokrat auf die bröckelnde Zustimmung zur Demokratie: In Westdeutschland würden sie 70 Prozent als Gesellschaftsform noch befürworten, im Osten nur 50 Prozent. Wenn die Zustimmung zu Demokratie und Marktwirtschaft wieder steigen sollen, müssten nicht nur die Zusammenhänge zwischen beiden besser erklärt werden. "Dann müssen auch konkrete Entscheidungen getroffen werden, die mehr Menschen das berechtigte Gefühl verleihen, sie hätten Anteil am Erfolg unserer Wirtschaftsordnung".

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Ein wichtiger Baustein für dieses Gefühl würde darin bestehen, "Arbeitnehmer mehr am wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen zu beteiligen, in denen sie arbeiten, aber auch Beteiligungen an anderen Unternehmen zu ermöglichen". Was Merz damit meint: Die Deutschen sollen gesetzlich verpflichtet werden, Aktien zu kaufen. Hinter dem Begriff "ermöglichen" steckt der Zwang, Aktionär zu werden.

Lobbyist für Black Rock

Friedrich Merz ist bekannt als Vertreter wirtschaftsliberaler Positionen und Verfechter eines schlanken Staates. "Mehr Kapitalismus wagen!", hieß ein Buch von ihm, welches er 2008 ausgerechnet zum Höhepunkt der Finanzkrise veröffentlichte.

Dass sein aktueller Kommentar auch einen Interessenkonflikt zeigt, ist kein Geheimnis. Merz ist Aufsichtsrats-Chef der Deutschland-Tochter von BlackRock, größter Vermögensverwalter der Welt mit 6,29 Billionen Dollar verwaltetem Vermögen. Blackrock ist ein Unternehmen, das das Geld seiner Kundinnen und Kunden weltweit in Fonds sammelt und vor allem in Aktien investiert. Auch am Dax ist der Konzern bei allen 30 gelisteten Gesellschaften beteiligt: von der Allianz hält er zum Beispiel Anteile von mehr als sieben Prozent.

Explizit wurde Merz von BlackRock als Lobbyist angeworben. Als er vor rund dreieinhalb Jahren den Job antrat, sollte er nach Bekunden des Finanzkonzerns eine "weiter gefasste Beraterrolle einnehmen, in der er die Beziehungen mit wesentlichen Kunden, Regulierern und Regulierungsbehörden in Deutschland für Blackrock fördern wird". Nach Recherchen des "Spiegel" soll Merz in dieser Funktion viermal Bundesminister getroffen haben, bevor er auf die politische Bühne als Kandidat für den CDU-Vorsitz zurückkehrte.

Kritische Punkte weitestgehend ausgespart

In seinem Essay werden aktiennotierte Unternehmen dann auch ausschließlich positiv und als Wohlstandsgaranten dargestellt, auch wenn er zugleich die Notwendigkeit zivilgesellschaftlichen Engagements und sozialer Absicherung hervorhebt. Aktuelle Fehlentwicklungen der Wirtschaft spricht Merz nicht an: etwa die Auswirkungen der Finanzkrise, die weltweit wachsende Ungleichheit, den Steuerbetrug mit Cum-Ex-Geschäften und die Steuerflucht von Großkonzernen wie Amazon, Google und Starbucks. Oder dass die Reformen von Gerhard Schröder zu einer Explosion prekärer Arbeit und des Niedriglohnsektors beigetragen haben, so dass viele Erwerbstätige kein auskömmliches Einkommen erzielen. Fast jeder vierte Arbeitnehmer in Vollzeit (24 Prozent) verdient aktuell weniger als 10,80 Euro Bruttolohn pro Stunde und ist armutsgefährdet, so rechnet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin in einer Studie vor. Viele dieser Beschäftigten verbleiben dauerhaft in niedrigen Löhnen und haben wenig Aufstiegschancen (der Versicherungsbote berichtete).

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Was Friedrich Merz ebenfalls nicht erwähnt: Große Teile des aktuellen Milliarden-Zuschusses zur gesetzlichen Rentenversicherung fließen für sogenannte versicherungsfremde Leistungen: gesellschaftliche Aufgaben, die der Rentenkasse aufgebürdet worden, obwohl sie nicht in ihre Zuständigkeit fallen. Hierzu zählen etwa Witwen- und Vertriebenenrenten sowie Entschädigungen für politisch Verfolgte. Mehr als ein Drittel des Bundeszuschusses wird dafür verwendet, der tatsächliche Bedarf aber in einer Studie des Forschungszentrums Generationenverträge Freiburg auf bis zu 93 Milliarden Euro im Jahr geschätzt. Die Versorgungswerke freier Berufe: Anwälte, Ärzte, Architekten etc., werden durch diese Zahlungen nicht belastet bzw. nur indirekt über Steuern. Auch Friedrich Merz ist Anwalt (der Versicherungsbote berichtete).

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