Bundessozialgericht setzt Krankenkassen bei Wahltarifen enge Grenzen
Das Bundessozialgericht hat die Wahltarife der Krankenkassen gekippt. Demnach ist es der AOK Rheinland untersagt, Wahltarife für einen Auslandskrankenschutz oder Zweibettzimmer anzubieten. Damit sollen die im Wettbewerb stehenden privaten Krankenversicherer geschützt werden.
- Bundessozialgericht setzt Krankenkassen bei Wahltarifen enge Grenzen
- PKV-Verband begrüßt Urteil
Ein Urteil des Bundessozialgerichtes schränkt die Möglichkeit von Krankenkassen stark ein, Wahltarife anzubieten und damit ihren Mitgliedern vergleichbare Leistungen wie die privaten Krankenversicherer zukommen zu lassen. Demnach ist es der AOK Rheinland fortan versagt, Wahltarife etwa für Zweibettzimmer und Auslandskranken-Schutz in ihren Leistungskatalog aufzunehmen (Urteil vom 30. Juli 2019, Az.: B 1 KR 34/18 R).
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Darüber hinaus ist der AOK fortan untersagt, Rabatte für Vorteilspartner anzubieten, etwa Kochkurse oder Rummelgutscheine. Dies hat das Bundessozialgericht in Kassel mit einem weiteren Urteil entschieden (B 1 KR 16/18 R).
Wettbewerb? Ja, aber…
Im erstgenannten Rechtsstreit hatte die Continentale als privater Krankenversicherer gegen die AOK Rheinland/Hamburg geklagt. Und dabei ging es durchaus um systemische Grundsatzfragen: nämlich, inwieweit die gesetzlichen Krankenversicherer in den Wettbewerb der privaten Versicherer „eindringen“ dürfen. Oder eben gerade nicht. Zur Erinnerung: Rund 90 Prozent der Leistungen sind den Krankenkassen gesetzlich vorgeschrieben. Den Rahmen gibt der Gemeinsame Bundesausschuss (B-GA) vor, indem er verbindliche Richtlinien für die Kassen erlässt.
Die Bundesregierung aber wollte den gesetzlichen Kassen mehr Wettbewerb ermöglichen. Deshalb setzte die damalige schwarz-rote Regierung unter Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) 2007 das „Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung“ in Kraft. Es sah unter anderem vor, dass die Kassen Wahltarife anbieten dürfen, zum Beispiel für Selbstbehalt und Kostenerstattung. Bei Wahltarifen treten die Patienten wie Privatversicherte in Vorleistung und bekommen später das Geld von ihrer Kasse erstattet.
Die AOK Rheinland/Hamburg machte davon besonders offensiv Gebrauch. Als erste Ortskrankenkasse bot sie Tarife an, die unter anderem eine Kostenerstattung für Kranken-Behandlungen im Ausland, Ein- und Zweibettzimmer im Krankenhaus und Leistungen für Brille und Zahnersatz vorsahen. Durchaus erfolgreich, denn rund 500.000 Versicherte nutzen diese neuen Angebote.
Sehr zum Ärger der Continentale, die gegen die Krankenkasse klagte. Der private Versicherer sah das Wettbewerbsrecht verletzt, nicht von ungefähr: Vor allem junge und gesunde Menschen könnten sich durch die Angebote animiert fühlen, nicht zu einem privaten Krankenversicherer zu wechseln, sondern im GKV-System zu bleiben. Auch den Abschluss von Zusatzversicherungen könnte das hemmen. Nachdem die AOK eine Unterlassungsaufforderung des Privatversicherers nicht akzeptiert hat, zog die Continentale vor Gericht: mit Erfolg.
"Schutz der PKV vor nicht autorisierten Markteintritten"
Das Bundessozialgericht Kassel hat nun entschieden, dass die AOK Rheinland alle angegriffenen Wahltarife weder anbieten noch bewerben darf. Es schloss sich damit dem Urteil der Vorinstanz an und wies die Revision der AOK Rheinland als unbegründet zurück. Bereits das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hatte im Sinne des Privatversicherers entschieden.
Demnach sind den Krankenkassen sowohl bei Wahltarifen als auch Leistungserweiterungen sehr enge Grenzen gesetzt. Vereinfacht gesagt dürfen die Kassen nur anbieten, was ihnen die Satzung laut Sozialgesetzbuch gestattet: genauer gesagt § 53 Absatz 4 SGB V für Wahltarife und § 11 Absatz 6 SGB V für Leistungserweiterungen. Alles, was dort nicht aufgeführt ist, bedeutet einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht — und gegen die Interessen der PKV-Anbieter.
“Indem der Gesetzgeber selektiv und abschließend den Krankenkassen ermöglicht, zusätzliche freiwillige Leistungen in ihren Satzungen vorzusehen, schützt er zugleich die Unternehmen der Privaten Krankenversicherung vor anderen, nicht von ihm autorisierten Marktzutritten“, heißt es in der Urteilsbegründung. „Die genannten Satzungsermächtigungen setzen hierbei enge Grenzen.“ Erlaubt seien zum Beispiel Vorsorgeleistungen von Hebammen oder die Versorgung mit rezeptfreien Arzneien.
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Stark vereinfacht ist es den gesetzlichen Kassen nicht gestattet, lediglich von einzelnen Versicherten für bestimmte Leistungen einen Zusatzbeitrag zu kassieren. Stattdessen müssen die Leistungen allen Versicherten einer Krankenkasse offenstehen und über den Regelbeitrag gedeckt sein. Damit soll auch verhindert werden, dass die Krankenversicherer Rosinenpickerei betreiben und nur bestimmte Versicherte von Leistungen profitieren, die im Zweifel alle Kassenmitglieder über den Beitrag mitbezahlen müssen. Erlaubt sind Kostenerstattungswahltarife folglich nur für alle Leistungen der GKV oder für einzelne Segmente, etwa die gesamte Zahnbehandlung.
PKV-Verband begrüßt Urteil
Der PKV-Verband als Interessenvertreter der Privatversicherer begrüßt das Urteil. Und sieht damit den Wettbewerb geschützt. „Wir freuen uns, dass nach mehr als 10 Jahren Rechtsstreit nun das Bundessozialgericht die Rechtsauffassung des PKV-Verbandes bestätigt, dass derartige Wahltarife in gesetzlichen Krankenkassen rechtswidrig sind“, sagt Florian Reuther, Direktor des Verbandes der Privaten Krankenversicherung (PKV). „Sie überschreiten den gesetzlichen Rahmen für Leistungen der GKV und führen zu unzulässigen Wettbewerbsverzerrungen. Solche Wahltarife sind systemfremd in der GKV und ein Übergriff in den funktionierenden privatwirtschaftlichen Zusatzversicherungsmarkt“.
Aus Sicht des PKV-Verbandes seien Wahltarife der Krankenkassen ordnungspolitisch verfehlt, positioniert sich Reuther weiter. Und weist auf Tücken der Tarife hin, weshalb auch der Verbraucherschutz auf der Strecke bleibe: “Da Krankenkassen einen Wahltarif jederzeit schließen können, entfällt für die GKV-Versicherten der entsprechende Versicherungsschutz ersatzlos. Dies ist bei einer PKV-Zusatzversicherung aufgrund des lebenslangen Leistungsversprechens nicht möglich", so Reuther.
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Vorwurf der Rosinenpickerei zurückgegeben
Die AOK Rheinland sieht das erwartungsgemäß anders. Und gibt das Argument der Wettbewerbsverzerrung umgehend zurück. Stichwort Kontrahierungszwang: Die Krankenkassen sind verpflichtet, alle diejenigen, die die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen, aufzunehmen, unabhängig von deren Alter, Gesundheitszustand oder ihrer finanziellen Leistungskraft. Also auch Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen. Altersgrenzen gibt es jedoch, wenn jemand von der PKV in die GKV zurückkehren will.
Zwar wurden auch die Privatversicherer 2007 verpflichtet, einen Tarif anzubieten, der allen offen steht: der sogenannte Basistarif. Doch dieser ist in der Regel nicht nur sehr teuer, sondern bietet auch nur ein eingeschränktes Leistungsniveau. Auch bei Zusatztarifen können die Privatversicherer Menschen ablehnen, die chronische Krankheiten oder Vorerkrankungen haben. Ihnen bleiben die Bonbons der Privatversicherer wie Zweibettzimmer im Krankenhaus, Auslandsschutz etc. somit oft verwehrt.
"Wir bedauern, dass viele Menschen beispielsweise aufgrund von Vorerkrankungen künftig keine Möglichkeit mehr haben, sich zu vertretbaren Konditionen abzusichern, wie es bei unseren Wahltarifen der Fall war. Hier ist der Gesetzgeber gefordert", positioniert sich AOK-Chef Günter Wältermann. Vorrangiges Ziel sei es nun, "unseren Versicherten, die seit zwölf Jahren auf ihre Ansprüche aus den Wahltarifen vertrauen, die Sicherheit zu geben, dass sie auch aktuell geschützt sind".
"Unabhängig davon werden wir ihnen in Kooperation mit unserem Partner aus der Privaten Krankenversicherung, der vigo Krankenversicherung, ein Angebot unterbreiten, das sie auch künftig absichert sind", verspricht Wältermann weiter.
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Das Argument der Wettbewerbsverzerrung ist auch insofern diskutabel, weil die meisten Privatversicherer zumindest in der Vollversicherung selbst von staatlichen Zuschüssen profitieren, wenn auch indirekt. Fast die Hälfte aller Privatversicherten hat Anrecht auf Beihilfe: Hier übernimmt der Staat 50-70 Prozent der anfallenden Arzt- und Behandlungskosten. Im letzten Jahr musste allein der Bund seine Rückstellungen für Beihilfsschulden um 2,78 Prozent erhöhen: auf 191 Milliarden Euro. Die Ausgaben der Bundesländer sind hierbei noch gar nicht eingerechnet (der Versicherungsbote berichtete).
- Bundessozialgericht setzt Krankenkassen bei Wahltarifen enge Grenzen
- PKV-Verband begrüßt Urteil