Rückabwicklung von Renten- und Lebensversicherungen: ein Praxisblick
Bisher werden weit weniger Lebens- und Rentenversicherungen nach dem Policenmodell widerrufen, als es vielen Kundinnen und Kunden möglich wäre. Auf Gründe hierfür geht Jan Hartlieb in einem Gastkommentar ein. Hartlieb ist Geschäftsführer des Beratungshauses SAM Sachsen Asset Management GmbH.
Trotz der richtungsweisenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) und Bundesgerichtshofes (BGH) seit 2013 zum Rücktritt, Widerruf bzw. Widerspruch von Lebens- und Rentenversicherungen, kommt es bisher nicht zu einer ähnlich rasanten Entwicklung wie beim Darlehenswiderruf. Obwohl Versicherungsverträge umfasst sind, die schon vor vielen Jahren abgeschlossen wurden, und dies sogar dann, wenn sie zwischenzeitlich endeten, handelt es sich bislang um kein Massenthema.
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Dies erstaunt vor dem Hintergrund der enttäuschenden Entwicklung vieler Lebens- und Rentenversicherungen. Eine Stichprobe aus 1.100 bei SAM beauftragten Lebens- und Rentenversicherungsgutachten weist im Durchschnitt (Median) eine Verzinsung von -0,1 Prozent per annum der eingezahlten Beiträge aus. Der Rückkaufwert entspricht im Durchschnitt dieser Verträge also noch nicht einmal den eingezahlten Beiträgen, trotz teilweise langjähriger Vertragslaufzeiten. Die Kostenquote belief sich dabei auf durchschnittlich (Median) 22 Prozent der eingezahlten Beiträge und stellt einen der Hauptgründe dieser negativen Entwicklung dar. Dass die Rückabwicklung dennoch bisher nicht häufiger genutzt wird, liegt wohl an einer ganzen Reihe von Gründen, die nachfolgend kurz diskutiert werden sollen.
Gründe für Zurückhaltung der Versicherungsnehmer
Aus juristischer Sicht bestehen häufig Probleme angeblicher oder tatsächlicher Verwirkung des Widerspruchsrechts, insbesondere durch Abtretungen des Versicherungsvertrags. In den rechtlichen Auseinandersetzungen werden aber auch eine Vielzahl sonstiger Handlungen der Versicherungsnehmer, wie erfolgte Fondswechsel oder Aussetzungen der Beitragsdynamisierung, als Verwirkungsgründe durch die Versicherungsunternehmen vorgebracht. Die Rechtsprechung hierzu ist instanzgerichtlich leider sehr uneinheitlich. Erschwerend kommt dazu, dass viele Urteile nicht veröffentlicht werden.
Rein praktisch erschweren häufig unvollständige Versicherungsunterlagen eine erfolgreiche Anspruchsdurchsetzung, da somit der tatsächliche Beitragsverlauf nicht korrekt nachvollzogen werden kann, um mit ihm die Erstattungsansprüche des Versicherungsnehmers zu berechnen. Immerhin laufen Versicherungsverträge oft mehrere Jahrzehnte, so dass die für eine korrekte und vollständige Beschreibung des Versicherungsverlaufs notwendigen Unterlagen umfangreichen und möglichst lückenlosen Schriftwechsel erfordert. Denn die Darlegungs- und Beweislast liegt laut BGH beim Versicherungsnehmer.
Zudem sind etliche Detailfragen, die für die Ermittlung des bereicherungsrechtlichen Rückabwicklungsanspruches notwendig sind, bisher unbeantwortet. Mit welcher Rendite sind zum Beispiel die seitens der Versicherungsgesellschaft aus den Verwaltungskosten gezogenen Nutzungen zu verzinsen: mit der Eigenkapitalrendite, der Nettoverzinsung, der Bilanzrendite oder mit anderen Zinssätzen? Sind die kalkulierten oder die tatsächlich angefallenen Abschluss-, Verwaltungs- und Risikokosten bei der Ermittlung des Rückabwicklungsanspruches zu berücksichtigen und wie ist mit der teilweise nicht unerheblichen Differenz umzugehen?
Darüber hinaus: Sind Verträge britischer Versicherungsgesellschaften wie klassische oder wie fondsgebundene Verträge zu behandeln, obwohl sie Merkmale beider Varianten aufweisen? Leider ist auch bei diesen Fragen die Rechtsprechung der unteren Instanzen sehr uneinheitlich, so dass klare juristische Leitplanken fehlen und unterschiedliche Gutachter verschiedene Herangehensweisen nutzen.
Abschluss- und Verwaltungskosten lassen Ansprüche der Kunden deutlich wachsen
Zudem stellt sich in jedem Einzelfall vorab die Frage: Lohnt es sich für den Versicherungsnehmer, einen Rechtsanwalt zu mandatieren, einen Gutachter zu bezahlen, Gerichtskosten vorzuschießen und einen gegebenenfalls über mehrere Instanzen gehenden Rechtsstreit zu riskieren? Hierbei verursachten die Insolvenzen mehrerer auf Versicherungsrückabwicklung spezialisierter Unternehmen sicherlich zusätzliche Verunsicherungen.
Gelegentlich ist auch das Vorurteil anzutreffen, dass im Fall der erfolgreichen Rückabwicklung nur mit geringen Mehrerlösen gerechnet werden kann. Auch hier hilft aber vielleicht ein Blick auf die oben genannte Stichprobe der 1.100 begutachteten Fälle (alle Angaben als Median): bei durchschnittlich eingezahlten 25.200 Euro ergaben sich Bereicherungsansprüche der Versicherungsnehmer in Höhe von durchschnittlich 7.600 Euro, was immerhin einer Rendite von 4,1 Prozent per annum auf die eingezahlten Beiträge entspricht. Wesentlicher Grund für diese Bereicherungsansprüche waren dabei die seitens der Versicherungen einbehaltenen Abschluss- und Verwaltungskosten in Höhe von durchschnittlich 5.200 Euro, die laut BGH im Falle der Rückabwicklung durch die Versicherungsgesellschaften zurückzuzahlen sind.
Auch viele lukrative Altverträge betroffen
Hierbei ist aber noch ein weiterer Aspekt zu berücksichtigen: Nicht jeder Versicherungswiderspruch ist wirtschaftlich sinnvoll, nur weil hohe Rückabwicklungsansprüche geltend gemacht werden könnten. Schließlich beinhalten viele Versicherungsverträge noch attraktive Garantieverzinsungen oder bieten Steuerfreiheit für eine gegebenenfalls noch lange Restlaufzeit. Ein Widerspruch hingegen hat eventuell steuerliche Implikationen und eine Neuanlage des Geldes ist aktuell nur zu sehr niedrigen Zinsen möglich. Stets sollte daher vorab eine Wirtschaftlichkeitsuntersuchung durchgeführt werden, um die Sinnhaftigkeit eines Versicherungswiderspruchs zu prüfen.
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Fazit: Ein erfolgreiches Bearbeiten von Versicherungsrückabwicklungen ist aus Praxiserfahrung durchaus möglich, erfordert aber Lösungen für die vorgenannten Schwierigkeiten und Fragen. Dazu gehört ein enges Zusammenwirken von Kundenansprechpartner, Rechtsberater und wirtschaftlichem Gutachter/Aktuar, ein hoher Automatisierungsgrad bei der Bearbeitung und ein ausreichend langer Atem, zeitlich wie finanziell. Wie immer helfen natürlich auch einschlägige und umfangreiche Erfahrungen, die mit einer entsprechenden Spezialisierung verbunden sind. Zusätzliche Verbesserungspotentiale lägen darüber hinaus sicherlich in einer stärkeren Interessenbündelung der Beteiligten auf Versicherungsnehmerseite in Form von zum Beispiel Erfahrungsaustauschen, Urteilsbesprechungen und Fachveröffentlichungen.
Jan Hartlieb