Allianz-Chef Oliver Bäte hat seinem Konzern eine radikale Digital-Kur vermacht. Schneller soll alles werden, die Tarife einfacher, radikal vom Kunden her gedacht. Um das umzusetzen, nimmt die Allianz-Gruppe Milliarden in die Hand. An seine Mitarbeiter spricht der Vorstand dann auch schon mal eine Drohung aus. Man könne nicht alle für den neuen Kurs gewinnen, aber 80 Prozent derer, die wichtig sind. Jene aber, die nicht mitmachen wollen, die „muss man nach Hause schicken“, so Bäte (der Versicherungsbote berichtete).

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Liegen gebliebene Anträge, Telefon-Warteschleifen: und Ärger

Ein Blick in interne Vertreter-Gruppen der Allianz erlaubt nun aber die Frage, ob die Münchener ihre digitale Agenda nicht zu schnell und radikal vorantreiben. Auf über 30 Print-Seiten macht sich im Intranet und in Vermittlerforen die Wut von Vertretern und Agenturbetreibern breit: eigentlich loyale Mitarbeiter des Versicherers, manche seit Jahrzehnten in Diensten des deutschen Marktführers. Doch nun hadern sie. Sie berichten von Systemausfällen, von liegen gebliebenen Anträgen, von verschwundenen Kunden-Dokumenten. Zuerst hat die Süddeutsche Zeitung das Thema am Donnerstag aufgegriffen: Dem Versicherungsboten liegen die zitierten Dokumente ebenfalls vor.

Die meisten Vorwürfe beziehen sich auf die Tochtergesellschaft Allianz Private Krankenversicherung (AKPV), vereinzelt auch auf Unfall- und Leben-Policen. Und mancher geschilderter Fall ist gar kurios, wie die Vorstandsbeschwerde eines Agentur-Inhabers zeigt: Sie wird in den Vertretergruppen rege weiterverbreitet. Ein Versicherter will eine Krankenhaus-Rechnung erstattet bekommen. Doch das entpuppt sich als gar nicht so einfach. Oder, wie der Vertreter klagt: der Vorfall gestaltet sich immer mehr als Komödie.

Eine Versicherten-Odyssee in 14 Akten

Die Krankenhaus-Rechnung wird am 18.01.2019 eingereicht. Zunächst fordert die Abteilung eine Bescheinigung nach, die der Vertreter im Auftrag des Kunden wenige Tage später an die Allianz gibt. Vier Wochen später fragt der Vertreter nach, ob das Geld bereits überwiesen sei: und erhält als Auskunft, die Leistungsabrechnung sei „in der finalen Bearbeitung“. Doch dann passiert: scheinbar nichts. Denn bereits weitere vier Wochen sind vergangen, bis der Kunde sich bitterböse bei der Agentur beschwert, dass er sein Geld noch nicht erhalten habe.

Das Büro des Vertreters wird sofort tätig: Und nimmt Kontakt mit einer Sachbearbeiterin auf. Diese klärt ihn auf, man habe den Versicherten angeschrieben, weil seine Bankverbindung fehle. Woraufhin der Vertreter berichtet, die Kontodaten seien im Vertrag bereits angegeben und hinterlegt worden. Die Sachbearbeiterin wiederum berichtet, sie könne die Bankverbindung nicht telefonisch einsehen. Also gibt eine Mitarbeiterin der Agentur die Kontodaten erneut durch, damit der Vorgang abgeschlossen werden kann.

Auftrag wurde gelöscht

Wer jetzt glaubt, die Odyssee des Versicherungsnehmers hätte ein Ende und er erhält endlich sein Geld, der irrt. Denn die Sache wird nun immer kafkaesker. Fast drei Monate nach Einreichen der Rechnung, am 03.04.2019, ergibt ein weiter Anruf, dass immer noch keine Kontoverbindung des Versicherungsnehmers hinterlegt sei. Die Agentur übermittelt die Daten noch am selben Tag per Mail.

Weitere 14 Tage vergehen, bis der Versicherte schließlich kurz vor Ostern im Büro der Agentur auftaucht, um die Zusammenarbeit mit dem Vertreter aufzukündigen. Erneut ruft ein Mitarbeiter der Agentur bei der Allianz an. Die Abteilung aber berichtet, der Vorgang könne nicht erledigt werden, weil noch wichtige Dokumente fehlen. Es handelt sich um eben jene Dokumente, die bereits am 18.01.2019 an die Abteilung zugesandt wurden: und am 21.01. vom System eingelesen und verarbeitet.

Ein Mitarbeiter ruft nun erneut in der verantwortlichen Abteilung an. Just um die Aussage zu erhalten, der Vorgang wäre von einem Kollegen geschlossen wurden, da kein Beleg über den Zeitraum des Krankenhaus-Aufenthaltes vorgefunden werden konnte. Mit anderen Worten: Der Auftrag wurde wegen eines vermeintlich fehlenden Dokumentes einfach gelöscht, ohne den Kunden und die Agentur darüber zu informieren.

Einen Tag später unternimmt die Agentur erneut den Versuch, die Abteilung damit zu beauftragen, die Rechnung zu erstatten. Das Gespräch dauert nur 20 Sekunden: eine Mitarbeiterin teilt mit, das Computersystem sei komplett abgestürzt, da könne man „heute gar nicht reinschauen“. Eine Versicherten-Odyssee in vierzehn Akten: aber ohne Erfolg. Da ist ein Viertel Jahr bereits vergangen.

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"Leider sind wir diejenigen, die Ansehen verlieren"

Verärgert berichtet der Vertreter in der Beschwerde an den Vorstand, dass ihm nicht nur ein potentieller Großkunde durch die Lappen gegangen sei: Er habe mit ihm über Wohngebäude- und Gewerbeschutz sprechen wollen. Er habe zusammengerechnet auch einen halben Arbeitstag allein für die erfolglose Klärung des Falles aufwenden müssen. Aufhorchen lässt ein Passus in der Beschwerde: „Wir sprechen hier nicht von Einzelfällen“, schreibt der Handelsvertreter. Er wolle sich „vorerst von der aktiven Vermittlung von APKV-Produkten aus Gründen des Selbstschutzes verabschieden, denn leider sind wir diejenigen, die das Ansehen verlieren und zudem auch wirtschaftlich noch die Leidtragenden sind.“

"Wir haben sofort Zusatzkräfte eingesetzt"

Mit seiner Erfahrung ist der arg gebeutelte Agentur-Inhaber der Allianz nicht allein, wie die Diskussionen im internen Netz zeigen. Mehrere Vertreter berichten von ähnlichen Problemen. Ein Agenturleiter schreibt zum Beispiel, er habe täglich bis zu acht Kundenbeschwerden, weil Anträge nicht schnell genug abgearbeitet werden: bereits seit zwei Jahren. “Eingereichte Rechnungen und Anträge verschwinden. Anträge zur Policierung und Erstattung dauern bis zu vier Monate!“, schreibt der Handelsvertreter. Für ihn sei nicht nachvollziehbar, wie so ein Desaster habe entstehen können.

Eine Ausgabe der Zeitschrift "IG Intern" (Nr. 48 vom Juni 2019) thematisiert den Ärger mit der IT und dem verzögerten Schadenservice ebenfalls. Der vielsagende Titel: "Zeitfresser", denn es würde den Agenturen ein deutlicher Mehraufwand entstehen. Immerhin wird der Allianz zugestanden die Probleme anzugehen. Berichtet wird unter anderem von einem Projekt zum "UX Shadowing", mit dem die Technik-Macken schrittweise bis zum Juli 2019 abgestellt werden sollen.

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"In den ersten Monaten Beitragsrückstände"

Dass beim Umstellen der kompletten IT-Infrastruktur Probleme entstehen können, ist nicht verwunderlich und auch bei anderen Versicherern zu beobachten. Schließlich müssen ja sämtliche Prozesse auf die neue Technik umgestellt werden, während Anträge und Kundendaten weiterhin bearbeitet werden müssen: Es ist eine Operation am offenen Herzen aller Prozesse. Die Vertreter äußern auch Verständnis für die Probleme. Zugleich beklagen sie aber, dass Vorstand und Management auf Beschwerden und Anregungen ungenügend eingehen würden. Mehrfach ist davon die Rede, dass Briefe und Eingaben an Vorstandschefin Birgit König nicht beantwortet worden.

Gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" räumt Vorstand Joachim Müller Probleme ein: Er ist bei der Allianz Deutschland für Vertrieb und Sachversicherung zuständig. "Es stimmt, dass wir in der privaten Krankenversicherung in den ersten Monaten des Jahres Bearbeitungsrückstände hatten", sagte Müller dem Blatt. Das liege auch daran, dass viele Kundinnen und Kunden ihre Rechnungen nun anders einreichen würden als bisher. Früher hätten sie ihre Belege gesammelt und dann zum Ende des Jahres an die Allianz geschickt. Jetzt reichen viele Kunden ihre Belege digital ein - im ganzen Jahr.

Es handle sich um Einzelfälle, sagt Müller weiter. Er versichert, heute seien "die Arbeitsstände im Normalbereich". Auch die Stimmung in den Agenturen sei insgesamt gut - schon weil die Allianz stark wachse, also mit der verordneten Digital-Strategie Erfolg habe.

"Sechs von zehn Anträgen innerhalb von 24 Stunden abgearbeitet"

Gegenüber dem Versicherungsboten positionierte sich auch Konzernsprecherin Claudia Hermann zu den Vorwürfen. Und nennt Daten: "Das IT-System der Allianz Privaten Krankenversicherung läuft stabil. Die APKV hat durch die Umstellung ihres IT-Systems heute eines der modernsten Systeme in der Branche und viele Kunden profitieren davon: Aktuell werden rund sechs von zehn Rechnungen innerhalb von 24 Stunden bearbeitet".

Auch in der Bearbeitung von Leistungsbelegen liege die Allianz in der Frist von vier Wochen, berichtet Hermann weiter. "Nur in bestimmten Fällen kann es länger dauern - für eine längere Bearbeitungsdauer gibt es aber stets einen Grund: wenn beispielsweise noch Berichte von einem Krankenhaus eingeholt werden müssen, ein Vertrag umgestellt wurde oder ähnliche Sonderaspekte eine Rolle spielen", positioniert sich die Sprecherin.

Die Verzögerungen am Jahresanfang erklärt sie ebenfalls mit einem sich ändernden Kundenverhalten. "Nach unserer Kenntnis haben bei den PKVen Kunden branchenweit in den ersten Monaten deutlich früher und mehr eingereicht als in vergangenen Jahren – auch bei uns. Dadurch kam es Anfang des Jahres für einige Kunden zu längeren Bearbeitungszeiten. Wir haben sofort Zusatzkräfte eingesetzt. Hier sind wir längst wieder auf Normalniveau", sagt Hermann dem Versicherungsboten.

Die IT-Probleme bearbeitet die Allianz auch bei den Vertretern vor Ort: Stichwort UX-Shadowing. Dafür werden IT-Experten in die Agenturen geschickt, um sie bei ihren Alltagsprozessen zu beobachten: Ziel ist es, die IT an die Anforderungen des Alltags anzupassen. In über 50 Agenturen sei ein UX-Shadowing durchgeführt worden, berichtet Hermann; Die Allianz Deutschland stellte hierfür ein gesondertes Budget zur Verfügung. "Von den dabei konkret erfassten Themen werden 90 Prozent bis Oktober abgearbeitet sein. Dieses Versprechen haben wir den Vertretergremien gegeben und hier sind wir auch auf einem sehr guten Weg, das zu erreichen".

Nicht die ersten Probleme

Trotzdem: Es ist nicht das erste Mal, dass sich Vertreter des blauen Riesen über Probleme mit der IT und Ärger mit dem Management beschweren. Auch vor ziemlich genau einem Jahr hatten Schwierigkeiten mit der Digital-Technik zu tagelangen Ausfällen geführt: und zu einem Bearbeitungsstau (der Versicherungsbote berichtete). Vertreter forderten damals einen finanziellen Ausgleich für den entstandenen Mehraufwand. Für Missmut sorgte auch, dass der Versicherer seinen Agenturen im Vorjahr eine erfolgsabhängige Bestandsprovision strich. Trotz Rekordgewinn beharrte der Versicherer darauf, dass er bei den Vertriebskosten sparen müsse (der Versicherungsbote berichtete).

Dass Oliver Bäte nun auf die Bremse tritt und vorsichtiger digitalisiert, ist nicht zu erwarten. Anfang des Jahres positionierte er sich in einem Interview mit der "Süddeutschen", dass ihm der Umbau des Konzerns noch zu langsam gehe. Es ist eine Existenzfrage: als potentielle Wettbewerber wertet er Firmen wie Google, Amazon und Co. Der Chef von Deutschlands größtem Versicherer hat Angst, den Anschluss an technische Zukunftstrends zu verlieren: und früher oder später nicht mehr überlebensfähig zu sein.

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Mit Blick auf die vermeintliche Unzufriedenheit der Vermittler verweist Allianz-Sprecherin Hermann auf die vergleichsweise stabile Zahl der Handelsvertreter, die Allianz-Policen an den Mann bzw. die Frau bringen. "Gegen den Markttrend halten wir unsere hauptberuflichen Vertriebskapazitäten seit Jahren stabil. Auch unsere Fluktuationsrate ist seit Jahren auf konstant niedrigem Niveau", berichtet die Sprecherin.

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