Der „Jahresbericht 2019“ des Wissenschaftlichen Instituts des Verbands der Privaten Krankenversicherung (WIP) offenbart: die zusätzlichen Umsätze durch PKV-Versicherte sind enorm. Und dennoch könnten solche Zahlen der PKV zum Bumerang werden. Der Versicherungsbote hat sich die WIP-Studie „Mehrumsatz und Leistungsausgaben von PKV-Versicherten“ angesehen.

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Mehrumsatz: Die Verheißung der PKV

„Mehrumsatz“ meint jenen Umsatz, der im Gesundheitswesen aufgrund der PKV-Versicherten zusätzlich anfällt. Das Argument hinter diesem Mehrumsatz soll beweisen: Die privaten Krankenversicherer garantieren durch ihre Existenz erst das hohe Versorgungsniveau des deutschen Gesundheitswesens. Denn was wären die Praxen und Krankenhäuser sowie weitere Leistungserbringer, wenn ihnen dieser Betrag durch private Krankenversicherer nicht mehr zur Verfügung stehen würde? Ein großes Klinik- und Praxen-Sterben durch Reformen des jetzigen Systems wird stetig in Kampagnen der PKV beschworen, beispielhaft sei der „Inselarzt Martin“ genannt. Leistungserbringer des Gesundheitswesens hängen aus dieser Sicht am Tropf der PKV.

Dass nicht nur leere Worte und Zahlen hinter solchen Behauptungen stehen, sondern Ärzte in der Tat von PKV-Versicherten profitieren, müssen alle GKV-Versicherten erfahren, die lange auf Facharzt-Termine warten müssen. Erhalten PKV-Versicherte doch bevorzugt Termine, die so genannte „Wartezeiten-Kluft“ zwischen GKV- und PKV-Versicherten wird immer größer. Der „Mehrumsatz“ ist demnach nicht nur Argument der Debatte, sondern begründet reale Bedingungen für GKV- und PKV-Versicherte.

Wie aber lässt sich dieser Mehrumsatz durch privat Versicherte anhand modellhafter Rechnungen abbilden? Im Grunde ermitteln die WIP-Experten aus statistischen Daten für Privatversicherte hypothetische GKV-Profile. Diese Profile sollen ergeben, wie hoch Einnahmen für Leistungserbringer (wie Ärzte und Krankenhäuser) wären, falls die PKV-Patienten nach Maßgaben der gesetzlich Versicherten abgerechnet worden wären (zum Beispiel nach Maßgabe ihres RSA-Profils für den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich). In einem zweiten Schritt werden die Zahlen dann mit den tatsächlichen Ausgaben durch die PKV verglichen. Das „Plus“ der realen Ausgaben ergibt den Mehrumsatz.

Nicht in die Berechnungen einbezogen jedoch werden jene Ausgaben, die privat Versicherte oder auch gesetzlich Versicherte selber schultern mussten (zum Beispiel für so genannte individuelle Gesundheitsleistungen/ IGeL). Nur weil die Kasse nicht oder nur anteilig zahlt, verzichten eben viele Deutsche dennoch nicht auf Zahnersatz, sondern erstatten es eben aus eigener Kasse. Das WIP-Institut wertet also nur Leistungen, die durch gesetzliche Krankenversicherer erstattet werden oder die durch die PKV-Versicherer real erstattet wurden. Hier wäre bereits zu fragen, ob diese Einnahmen den Ärzten tatsächlich komplett wegbrechen würden, nur weil sie eben keine Kassenleistungen sind.

Die Zahlen: Ein sattes Plus für niedergelassene Ärzte

Tatsächlich können die Zahlen zunächst beeindrucken. Das zeigt sich besonders für den ambulanten ärztlichen Sektor, der mit Ausgaben in Höhe von 11,53 Milliarden Euro und einem Anteil von 32,3 Prozent an den gesamten Gesundheitsausgaben die größte Leistungsart der PKV in 2017 darstellt. Zwar stehen dem Ausgaben der GKV von 38,09 Milliarden Euro gegenüber: Gelder der gesetzlichen Krankenversicherung sind also grundlegend für die Praxen. Hätten Praxen und niedergelassene Ärzte jedoch alle privat Versicherten nach Maßgaben der gesetzlichen Krankenversicherung abrechnen müssen, wären statt der 11,53 Mrd. Euro nur 5,11 Mrd. Euro geflossen, wie die Studie vorrechnet.

Ein Mehrumsatz durch Privatversicherte in Höhe von 6,43 Mrd. Euro ist also in 2017 zu verzeichnen. Die Studie führt aus: Für jede der 118.356 Arztpraxen in Deutschland steht ein durchschnittliches Plus von 54.319 Euro zu Buche, einzig durch die private Krankenversicherung. Eine Zahl, die erklären könnte, warum Pläne wie die Bürgerversicherung oder die Integrierte Krankenversicherung, die ein Zusammengehen von PKV und GKV anstreben, bei niedergelassenen Ärzten einen schweren Stand haben.

Auch weitere Sektoren profitieren

Doch auch für die anderen Bereiche können sich die Mehrumsätze sehen lassen. So errechnet die Studie für den zahnmedizinischen Sektor Mehrumsätze in Höhe von 3,196 Milliarden Euro durch die PKV, für den stationären Bereich (und damit die Krankenhäuser) Mehrumsätze in Höhe von 687 Millionen Euro durch die PKV, für Arznei- und Verbandmittel Mehrumsätze in Höhe von 951 Millionen Euro durch die PKV und für Heilmittel Mehrumsätze in Höhe von 1,03 Milliarden Euro. Auch fallen für Hilfsmittel Mehrumsätze in Höhe von 527 Millionen Euro durch die Privatversicherer an. Die Stoßrichtung der Studie ist demnach deutlich: Gäbe es diese Mehrumsätze durch die PKV nicht, würden dem Gesundheitssystem wichtige Gelder entzogen, die Konsequenzen wären fatal.

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Auf 13,226 Milliarden Euro summieren sich alle Mehrumsätze, die dem Gesundheitswesen durch die PKV zufließen. Und diese Mehrumsätze ermöglichen aus Sicht der privaten Versicherer Investitionen und Innovationen, führen zum Aufbau einer besseren Infrastruktur und ermöglichen zudem das Einstellen von Fachpersonal. Sprich: Die Gelder kommen letztendlich auch gesetzlich Versicherten zugute. Das Fazit der WIP-Studie lautet demnach auch: „Privatversicherte spielen für alle Leistungsanbieter im Gesundheitswesen eine wichtige Rolle“.

Mehrumsätze als Bumerang: Die Sicht der Kritiker

Sind diese Mehrumsätze Argument für die Beibehaltung des jetzigen Systems und gegen anderweitige Reformpläne wie die Bürgerversicherung? Es gibt Kritiker an dem jetzigen System, die das anders sehen. Und diese Kritiker wollen nicht trotz, sondern sogar wegen der Mehrumsätze das jetzige System abschaffen oder zumindest reformieren. Das hat seinen Grund: Die Mehrumsätze kosten dem Staat jede Menge Geld. Geben sich in einem Punkt die Studien des WIP-Instituts, bei aller Genauigkeit, doch auffallend bedeckt. Und dieser Punkt betrifft die Beamtenbeihilfen.

Mehrumsätze der PKV: Einen nicht geringen Teil finanzieren Bund und Länder

So kritisierte der verbrauchernahe Bund der Versicherten (BdV) in der Vergangenheit bereits über eine Pressemitteilung: PKV-Studien zu Mehrumsätzen seien „irreführend“ und wollten die PKV „mit reißerischen Aussagen in gutes Licht rücken“. Ein Grund: Die Studien würden belegen wollen, dass PKV-Versicherte „überproportional in das Gesundheitssystem einzahlen“. Jedoch: Ausgaben der Beihilfeträger für Beamte werden auch in diese Leistungen eingerechnet, die Leistung demnach „künstlich hochgerechnet“. Ein nicht geringer Teil des Geldes nämlich stammt von Bund und Ländern und könnte auch anders dem Gesundheitssystem zugute kommen.

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Beamtenbeihilfen als demographisches Problem

Systematischer führt diesen Gedanken die Bertelsmann-Stiftung aus. Das hat seinen Grund: In einer Studie vom Januar 2017 prognostiziert die Bertelsmann-Stiftung explodierende Kosten aufgrund der Beamten-Beihilfen in der PKV (der Versicherungsbote berichtete). Beamte stellen rund die Hälfte der Privatversicherten in Deutschland. Im Jahr 2014 gaben die Bundesländer für Beihilfen 7,4 Milliarden Euro aus, der Bund zahlte 4,5 Milliarden Euro. Allerdings liegt aus Sicht der Studienmacher in solchen Zahlen nicht das Hauptproblem.

Schlimmer erscheint die Prognose für die Zukunft: Bis 2030 müssten die Bundesländer nach den Berechnungen doch satte 83 Prozent mehr für Beihilfen einplanen, der Bund immerhin noch 46 Prozent, wie es in dem Papier der Stiftung heißt. Führt doch der demographische Wandel auch bei Beamten zu immer höheren Kosten. Insbesondere Kosten für PKV-Privilegien der Beamten wie kürzere Wartezeiten werden aus Sicht der Stiftung jedoch dem Gesundheitssystem für wirkungsvollere Ausgaben entzogen oder verhindern notwendige Einsparungen.

Höhere Ausgaben führen nicht automatisch zu mehr Gesundheit

Somit wird es geradezu zum Argument für die Reform des jetzigen Systems, dass für jenen Teil des PKV-Mehrumsatzes Einsparungen möglich sind, die durch Beamtenbeihilfen begründet werden. Fordert doch die Bertelsmann-Stiftung in ihrem Papier eine "Verringerung des PKV-Mehrumsatzes", da dahinter Mehrausgaben für Bund und Länder stehen. Ein Argument, das keinesfalls für sich steht, sondern nur im Kontext weiterer Argumente betrachtet werden kann. Ähnlich nämlich wie das Abrechnungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung gibt es auch innerhalb des PKV-Systems Fehlentwicklungen, die zwar zu steigenden Kosten, keinesfalls aber zu gesünderen Patienten führen.

So zeigt sich ein oft kritisiertes „Zwei-Klassen-System“ nicht nur zwischen PKV und GKV, sondern auch innerhalb der PKV. 102.200 Personen sind in der PKV mittlerweile im Notlagentarif versichert, können bei vermindertem Beitrag also nur Leistungen in sehr geringem Umfang in Anspruch nehmen, und zwar nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzen. Auch sind 31.000 PKV-Versicherte im so genannten „Basis-Tarif“ versichert und erhalten demnach nur Leistungen, die der Grundversorgung in der GKV vergleichbar sind (der Versicherungsbote berichtete). Ausgaben also, die den Mehrumsatz der Leistungsträger begründen, kommen keineswegs allen PKV-Versicherten zugute.

Überversorgung als gesundheitliches Risiko

Aber auch jene, die in den Genuss vieler Leistungen kommen, profitieren nicht automatisch durch ein "Mehr" an Gesundheit. Der Grund: Eine oft kritisierte Überversorgung. Im Sinne der PKV-Kritiker besteht die Gefahr, dass gerade der Mehrumsatz zu einem wichtigen Faktor der Diagnostik wird – medizinische Behandlungen und Eingriffe werden demnach auch dann vorgenommen, wenn sie gar nicht notwendig sind. Das schafft wiederum gesundheitliche Gefahren.

So warnte Ellis Huber, ehemaliger Präsident der Berliner Ärztekammer, schon vor Jahren vor einer „gesundheitlichen Gefahr für Privatversicherte“ durch „ausufernde Anwendung von gefährlicher Diagnostik und Therapie“, wie die FAZ in einem Artikel darlegt. Und für den Mediziner und Autor Werner Bartens sind „Risiken für Leib und Leben“ so drastisch, dass er einen Artikel mit dem Motto überschreibt: „Hoffentlich nicht privat versichert!“

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Patienten werden als "Cashcow der Ärzte...krank geredet und krank gemacht", spitzt Bartens zu. Die Folge: doppelte Untersuchungen, unnötige Krankenhaus-Aufenthalte und sogar überflüssige Operationen: einfach deshalb, weil viele Ärzte und Gesundheitsdienstleister finanziell davon profitieren. In einer solchen Sichtweise produziert das jetzige System zwar zusätzliche Kosten, sichert aber keineswegs ein höheres Versorgungsniveau. Stattdessen leiste sich der Staat über die Beamtenbeihilfen teuere Fehlanreize und gebe Gelder aus, die für Reformen des jetzigen Gesundheitssystems besser investiert wären.

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