Versicherer müssen Fach- und IT-Seite näher zusammenbringen
Agil sein wie ein Start-up, datengetrieben wie Amazon: Versicherer wollen das auch. Jedes zweite Versicherungsunternehmen hat den Umbau zu einer agilen Organisation auf der strategischen Agenda. Rund jedes dritte möchte im Vertrieb mit datenbasierten Tarifen punkten. Das ergibt die Studie Branchenkompass Insurance 2019 von Sopra Steria Consulting. Die Vorhaben werden allerdings nur dann erfolgreich sein, wenn Fach- und IT-Seite deutlich näher zusammenrücken. Ein Gastbeitrag von Christoph Jimenez Ramos, Manager Insurance von Sopra Steria Consulting.
- Versicherer müssen Fach- und IT-Seite näher zusammenbringen
- Unternehmen müssen komplett neue Berufsbilder entwickeln
Man könnte meinen, mit einem regelmäßigen Austausch zwischen Versicherungsexperte und Data Scientist sei es getan. Das ist ein Irrtum: Es braucht den Paradigmenwechsel im Management. Fachseite und IT sollten deutlich radikaler zusammenrücken – strategisch, organisatorisch und personell. Beide Seiten sollten eine Sprache sprechen und genau wissen, was die andere kann und benötigt. Im Fußball würde man sagen: Jeder Spieler hat ein blindes Verständnis für die Laufwege des anderen. Im Ergebnis gibt es aufeinander abgestimmte Teams, die täglich miteinander zu tun haben, nicht nur wenn das nächste Release ansteht oder ein neues Feature, entdeckt beim Wettbewerber, schnell nachgebaut werden soll.
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Eine Annäherung und spätere Verschmelzung erreichen Unternehmen am besten, indem eine Seite Aufgaben der anderen übernimmt. Vorreiter statten vor allem die Fachkollegen mit IT-Know-how aus und verzahnen ihre Arbeit mit den IT-Prozessen. In diesen Unternehmen bringen Sachbearbeiter und Produktentwickler mehr IT-Expertise mit, und sie übernehmen mehr IT-Arbeiten als üblich.
Business IT Alignment in der Praxis
Ein Versicherer aus dem Rhein-Main-Gebiet hat diesen Weg bei einem konkreten Projekt in Angriff genommen. Zur Modernisierung der Vertriebssysteme für einen 360-Grad-Blick auf seine Kunden wurde eine Standardsoftwarekomponente eingeführt. Der Systemanbieter bot ein Modell „Software von der Stange“ an. Einzelne Bestandteile der Software konnten an die speziellen Bedürfnisse des Versicherers angepasst werden. Dem Versicherer war es wichtig, dass die Anforderungen aus dem Vertrieb sowie indirekt auch der Endkunden so weit wie möglich einflossen. Deshalb wurden Nutzer, die mit der Software arbeiten, sowie Vertriebsmitarbeiter mit genauen Vorstellungen, was Versicherungsberater im Kundengespräch wissen und bieten müssen, in das Projekt beratend und operativ integriert. Softwareanbieter der Standardsoftware, Fachbereichskollegen sowie Entwickler und Tester wurden an einem Standort zusammengezogen. Mittels Pair Programming flossen technische und fachliche Inhalte in die Prototypen ein.
Ein Versicherer aus dem süddeutschen Raum setzte agile Projektteams, bestehend aus Entwicklern, Product Ownern und den Requirements Engineers, mit den Fachexperten so eng zusammen, dass die Kommunikationswege minimal sind. Fragen können über den Tisch gestellt werden, so dass sich Unklarheiten unmittelbar klären lassen.
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Und ein mittelgroßes Versicherungsunternehmen aus dem Rheinland schulte Sachbearbeiter aus den Regionaldirektionen zu Requirements Engineers um und stattete sie mit Test-Know-how aus. Im Ergebnis haben Sachbearbeiter Arbeitspakete für aktuelle Tests vorbereitet und erste Automatisierungsskripte vorbereitet. Dieses Vorgehen hat der Versicherer beibehalten.
Unternehmen müssen komplett neue Berufsbilder entwickeln
Diese Schritte funktionieren nur, wenn das Top-Management sie forciert. In der Digitalstrategie sollte klar formuliert sein, dass digitale Qualität im Unternehmen einen großen Stellenwert hat. Das Umdenken muss bildlich manifestiert werden, damit Verbindlichkeit entsteht. Unternehmen sollten Arbeitsabläufe dahingehend ändern, dass Fach- und IT-Mitarbeiter praktisch jeden Tag im Austausch stehen. Dazu gehören angepasste Arbeitsplatzbeschreibungen, bei denen Fachmitarbeiter viel mehr IT-Arbeiten selbst übernehmen. Der Blick hinüber zum IT-Kollegen ist nicht nur erwünscht, sondern Alltag. All das hat auch räumliche und kommunikative Konsequenzen. Anpassungen im Office Management und Schulungen im Umgang mit Collaboration Software sind unausweichlich.
Sachbearbeiter 4.0: 60 Prozent Fach-, 40 Prozent IT-Arbeit
Den größten Veränderungsprozess muss der Mensch durchlaufen. Die Job-Anforderungen werden sich massiv verändern. Die Stellenbeschreibungen für einen Sachbearbeiter, Kundenbetreuer oder Produktentwickler enthalten neben fachlicher Expertise deutlich mehr IT-Kenntnisse. Ein Fachexperte muss künftig einige bis viele IT-Arbeiten in Kooperation mit einem IT-Spezialisten oder Data Scientist selbst erledigen können. Ein Beispiel ist der Einsatz von Robotic Process Automation, die Automatisierung von Standardabläufen durch eine Software. Die Befehlsabfolgen kann ein geschulter Sachbearbeiter ebenfalls programmieren und dabei seine fachlichen Anforderungen berücksichtigen. In einem fortgeschrittenen Unternehmen reduziert sich die Arbeit der Sachbearbeiter auf 60 Prozent rein fachliche Arbeit, in der übrigen Zeit bringen sie ihr Know-how in IT-Tätigkeiten ein.
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Business IT Alignment der kleinen Schritte
Klassische Startgebiete für den Umbruch sind das IT-Testing sowie die fachliche Beratung der IT-Entwickler. Berater oder Sachbearbeiter können besser bewerten, wie geschäftskritisch Abläufe sind, welche IT-Systeme und weiteren Prozesse betroffen sind und wie schwer sich IT-Fehler einer neuen Software beim Kunden auswirken. Ihr Know-how ist damit Gold wert, und das Management freut sich über schnelle Fortschritte.
Dabei darf es allerdings nicht bleiben. Im Ergebnis werden Management und HR nicht umhinkommen, komplett neue Berufsbilder zu entwickeln. Mitarbeiter müssen rekrutiert, überzeugt und qualifiziert werden. Nicht immer werden die eigenen Mitarbeiter diesen Schritt akzeptieren, einige werden kündigen. Diese Lücke müssen die Unternehmen schließen, auch indem sie Allrounder ausbilden und Zwitterpositionen für die Schnittstellen schaffen.
Einige Versicherer haben aus Negativerfahrungen Konsequenzen gezogen, indem sie zunächst punktuell die strategische Entscheidung trafen, Fach- und IT-Seite näher zusammenzubringen. Als konkrete operative Maßnahmen haben sie Sachbearbeiter zunächst für einfache IT-Tests weitergebildet. Zudem werden reine Produktspezialisten mit IT-Wissen „aufgeschlaut“. Sie erlernen, wie sie zum Beispiel Analyse- und Business-Intelligence-Tools selbst bedienen und einsetzen können, um Daten in Erkenntnisse und Anwendungsfälle zu verwandeln.
Dieser Prozess befindet sich auch bei diesen Unternehmen noch am Anfang, allerdings haben sie den Handlungsbedarf erkannt und Veränderungen eingeleitet. Denn das Testen von Software kann nur der Einstieg für ein umfassenderes Verschmelzen von Fach- und IT-Seite sein. Der Transformationsprozess ist einschneidend, mühsam und langwierig. Die Beispiele zeigen aber, dass sich der Schritt bei ausreichender Konsequenz auszahlt: zunächst in Form von schnelleren Entwicklungszeiten, weniger Fehlern und weniger Ausschuss bei den digitalen Endprodukten, später mit einer agilen, datengetriebenen Organisation, die es mit Start-ups und Amazon aufnehmen kann.
Informationen zum Autor:
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Christoph Jimenez Ramos ist Manager im Geschäftsbereich Insurance bei Sopra Steria Consulting. Der Praktiker besitzt 20 Jahre Berufs- und Beratungserfahrung in der Versicherungsbranche. Sein Themen- und Beratungsschwerpunkt ist das Testmanagement bei Versicherungen.
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- Unternehmen müssen komplett neue Berufsbilder entwickeln