Versicherungsbote: Wie bewerten Sie die aktuelle Bedrohung durch Altersarmut in Deutschland? Müssen die Bundesbürger Altersarmut fürchten — und was kann dagegen getan werden?

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Markus Kurth: Alle Menschen müssen sich auf eine Alterssicherung verlassen können, die vor Armut schützt und den Lebensstandard sichert. Dennoch sind immer mehr Rentnerinnen und Rentner von Altersarmut betroffen. Angesichts unsteter Erwerbsbiografien, prekärer Arbeitsverhältnisse und eines sinkenden Rentenniveaus ab 2025 droht diese Entwicklung stetig fortzuschreiten. Betroffen sind insbesondere Frauen, Solo-Selbständige und Personen mit gesundheitlichen Problemen. Um diesen Problemen entgegenzutreten, ist eine ganze Reihe von Maßnahmen notwendig.

Die bisherige Regierungskoalition hat es versäumt, den notwendigen Richtungswechsel in der Rentenpolitik einzuleiten. Es wurden weder die Grundrente noch die Altersvorsorgepflicht für Selbstständige angepackt. Es sind insbesondere immer mehr Frauen, die durch geringe Rentenansprüche von Altersarmut betroffen sind. Die Erziehung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen darf nicht zu niedrigeren Renten führen. Deshalb brauchen wir eine Rente, die den Schutz vor Armut für alle Menschen garantiert, die mindestens 30 Jahre lang Mitglied der gesetzlichen Rentenversicherung waren und gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben.

Konkret fordern wir eine Garantierente von 30 Entgeltpunkten - das wären im kommenden Jahr circa 1000 Euro. Diese Garantierente wächst als dynamischer Teil der Rentenversicherung bei jeder Rentenerhöhung weiter an. Damit erkennen wir die Lebensleistung aller langjährig Versicherten und insbesondere diejenige von Frauen an.

Nach pessimistischen Schätzungen wird in der gesetzlichen Rentenversicherung schon Mitte dieses Jahrhunderts ein Arbeitnehmer fast alleine für einen Rentner aufkommen müssen. Wie sattelfest ist aus Ihrer Sicht die umlagefinanzierte Rente?

Der demografische Wandel bedeutet für die umlagefinanzierte Rente eine große Herausforderung. Dieser führt aber nicht, wie bisweilen behauptet wird, in einer Art quasi-naturgesetzlicher Vorbestimmung zu einem Kollaps der Rentenversicherung, sondern ist politisch gestaltbar. Die jetzige, spätestens aber die kommende Bundesregierung ist aufgefordert, eine konsistente Gesamtstrategie vorzulegen, die Rentenpolitik mit Arbeitsmarkt- und Demografiepolitik verbindet und die hohe Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung auf Dauer gewährleistet. Dabei gilt es unter anderem, die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen und bestehende Benachteiligungen am Arbeitsmarkt abzubauen. Gerade ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen die Möglichkeit erhalten, gesünder und länger zu arbeiten.

Nicht nur weil diese Maßnahmen viele Menschen individuell unterstützen würden, sind mutige Schritte dringend erforderlich. Kombiniert würden sie auch die Einnahmebasis der Sozialversicherungen und besonders die der Rentenversicherung erheblich erweitern und so einen wichtigen und notwendigen Beitrag zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme leisten. Angesichts der demografischen Veränderungen wird es zukünftig auch über 2025 hinaus nötig sein, die Rentenfinanzen zusätzlich über einen Stabilisierungsbeitrag aus Steuermitteln zu stützen.

Sollte die gesetzliche Rente zukünftig gestärkt werden, etwa durch Anhebung des Rentenniveaus oder mehr Einzahler? Beispiel Österreich: Hier zahlen auch Selbstständige und Beamte in die Rentenkasse, der Beitrag ist höher. Aber im Schnitt erhalten Altersruheständler über 300 Euro mehr Rente im Monat. Auch für Deutschland ein denkbares Modell?

Die gesetzliche Rentenversicherung ist und bleibt die zentrale Säule im Alterssicherungssystem. Das gesetzliche Rentenniveau wollen wir langfristig stabilisieren, also auch über 2025 hinaus wie im vergangenen Jahr von der Regierungskoalition beschlossen.

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Wir streben gleichzeitig eine Bürgerversicherung in der Rentenversicherung an, in die alle Bürgerinnen und Bürger unter der Berücksichtigung aller Einkunftsarten einbezogen werden. So sind sie gut abgesichert und können entsprechend ihrer Einkommen Rentenansprüche erwerben. In einem ersten Schritt sollen schon heute nicht anderweitig abgesicherte Selbständige, Minijobberinnen und –jobber, Langzeitarbeitslose und Abgeordnete aufgenommen werden.

Das Rentenniveau muss stabilisiert werden

Versicherungsbote: Die OECD plädiert dafür, das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung der Bundesbürger zu koppeln: auch, weil die Gesellschaft altert. Werden wir künftig länger arbeiten müssen, damit die Rente finanzierbar bleibt?

Markus Kurth: Die OECD macht es sich hier leider zu leicht. Wir wissen, dass es schon bei der Rente mit 67 zahlreiche Problemgruppen gibt. Vielen Menschen ist es in den vergangenen Jahren nicht gelungen, mit der Anhebung der Regelaltersgrenze Schritt zu halten. Denn nach wie vor ist der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im rentennahen Alter zu niedrig. Die Zahl der MinijobberInnen über 63 Jahre und der Anteil atypisch Beschäftigter haben in den letzten Jahren erheblich zugenommen, während die Zahl der in Vollzeit arbeitenden Älteren stagniert. Und Frauen kurz vor dem Rentenalter machen besonders in Ostdeutschland einen immer größeren Teil der Arbeitslosen aus. In zahlreichen Branchen und Berufsgruppen – gerade in jenen, in denen manuelle Tätigkeiten dominieren – bleibt ein Arbeiten bis 67 oft Utopie.

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Für die Akzeptanz der getroffenen Entscheidung, die Regelaltersgrenze anzuheben, ist es entscheidend, Lösungen für die vielfältigen Problemgruppen zu schaffen. Wir Grüne wollen deshalb die Teilrente attraktiver machen – unter anderem, indem wir die Abschläge für besonders belastete Beschäftigte streichen. Die Möglichkeiten auch umfangreicher Weiterbildungen für Ältere sind zu erweitern. Die Erwerbsminderungsrente wollen wir stärken. Präventionsmaßnahmen müssen zum Standard werden und gemeinsam mit der Rehabilitation einen noch größeren Beitrag zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit leisten.

Aktuell wird eine Altersvorsorgepflicht für Selbstständige diskutiert, weil speziell sogenannte Soloselbstständige mit kleinem Einkommen oft darauf verzichten, aber später Anspruch auf Grundsicherung haben. Wie positionieren Sie sich zu dieser Pflicht — wie könnte diese gestaltet sein?

Immer mehr alte Menschen landen im Sozialhilfesystem. Insbesondere die zahlreichen Selbstständigen, die nicht für das Alter abgesichert sind und zunehmend die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Anspruch nehmen müssen, brauchen in Zukunft einen besseren Schutz vor Altersarmut. Damit dies gelingt, ist es notwendig, diese Menschen in der Rentenversicherung zu versichern.

Mit der Einführung einer Bürgerversicherung können sie am Solidarsystem teilhaben. Ihre Rentenansprüche sind dann im Fall einer Insolvenz pfändungssicher geschützt. Die gesetzliche Rentenversicherung ist im Gegensatz zu manchen Finanzdienstleistern sicher vor Pleiten und bietet mit der Erwerbsminderungsrente Leistungen, die private Versicherungen nicht im Angebot haben. Das schließt private Vorsorge nicht aus. Die gesetzliche Rentenversicherung sollte jedoch die Basis darstellen. Die Vereinbarung im Koalitionsvertrag - eine Versicherungspflicht mit Wahloption zwischen der Rentenversicherung und anderen effektiven und insolvenzsicheren Vorsorgearten - kommt dieser Forderung immerhin nah. Es bleibt jedoch fraglich, wie verwaltungsarm überprüft werden soll, ob eine mögliche Absicherung jenseits der Rentenversicherung zu einer Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus führt.

Neben der gesetzlichen und betrieblichen Rente sollen die Menschen auch privat vorsorgen: unter anderem staatlich gefördert mit der Riester-Rente. Muss Riester reformiert oder gar abgeschafft werden? Oder funktioniert das aktuelle Modell? Über 16,56 Millionen Menschen hatten zum Ende des dritten Quartals einen Riester-Vertrag abgeschlossen. Aber das Neugeschäft stagniert, jeder fünfte Vertrag liegt nach Schätzungen des Bundesarbeitsministeriums auf Eis.

Die Riester-Rente funktioniert in der Tat nicht so, wie es bei ihrer Einführung erwartet wurde. Nur rund sieben Millionen Menschen sorgen in vollem Umfang über die geförderte private Altersvorsorge vor. Und das mit regelmäßig zu geringen Renditen und zu hohen Verwaltungskosten. Ihrer Funktion, nämlich das Absinken des Rentenniveaus flächendeckend auszugleichen, wird die Riester-Rente daher bei weitem nicht gerecht. Das Rentenniveau muss deshalb langfristig stabilisiert werden. Wir Grüne fordern außerdem einen Neustart in der privaten Vorsorge. Neben einer besseren Förderung von Geringverdienenden braucht es endlich transparentere und günstigere Möglichkeiten der Geldanlage.

Wie positionieren Sie sich zu der Idee, einen Kapitalstock bei der Deutschen Rentenversicherung aufzubauen, ähnlich dem schwedischen Staatsfonds? Dort zahlen die Bürger 2,5 Prozent ihres Gehalts in bis zu fünf Fonds ein, über 800 stehen zu Auswahl. Sie müssen Nachhaltigkeitskriterien erfüllen. Die Verwaltungskosten: 0,1 Prozent. Ein Modell auch für Deutschland?

Das schwedische Modell der „Premiepension“ ist sicher nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbar, da sie dort Teil der ersten, obligatorischen Säule der Alterssicherung ist. Die Grundidee eines von einer öffentlichen Einrichtung, wie zum Beispiel der Rentenversicherung, verwalteten Fonds zur Altersvorsorge unterstützen wir aber. Unser Ziel ist die Einführung eines Grünen Bürgerfonds. Die Verwaltung des Bürgerfonds über eine öffentliche Stelle kann gewährleisten, dass er als Non-Profit-Produkt ausgestaltet wird, die Verwaltungskosten minimiert werden und dass die zusätzliche Altersvorsorge an Vertrauen zurückgewinnt, das durch die vielen mangelhaften Altersvorsorgeprodukte in den letzten Jahren sehr gelitten hat. Ähnlich wie beim norwegischen Staatsfonds wollen wir sicherstellen, dass der Bürgerfonds soziale, ökologische und ethische Maßstäbe bei der Kapitalanlage transparent einbezieht.

Zusätzliche Einzahlungen in die GRV sollten deutlich vereinfacht werden

Dank Niedrigzins-Politik werden viele populäre Geldanlagen der Deutschen vakant: Lebens- und Rentenversicherungen rentieren sich immer seltener. Müssen die Bürger umlernen und ihr Geld in andere Vorsorgeformen stecken? Wird der Niedrigzins aus Ihrer Sicht in den kommenden Jahren anhalten — und mit welchen Konsequenzen für deutsche Sparer?

Zahlreiche Ökonominnen und Ökonomen erwarten, dass die Phase niedriger Zinsen noch eine ganze Weile anhalten wird. Die Schwäche des Finanzmarktes zeigt doch eines: Die gesetzliche Rentenversicherung muss auch in Zukunft die zentrale Säule des Alterssicherungssystems bleiben. Sie muss sogar noch gestärkt werden. Alle historischen Verwerfungen hat sie letztlich unbeschadet überstanden. Und in Zeiten niedriger Zinsen erweist sie sich als stabiler als die kapitalgestützte Altersvorsorge. Eine ernsthaft zu prüfende Überlegung ist es deshalb, zusätzliche Einzahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung deutlich zu vereinfachen, indem wir sie ausnahmslos zulassen, also auch etwa vor dem fünfzigsten Geburtstag, was durch die bisherige Rechtslage noch verhindert wird.

Unser Wohlfahrtssystem beruht auf der Idee, dass Wirtschaftswachstum zu mehr Wohlstand führt: dies wird auch wirtschaftspolitisch angestrebt. Nicht erst seit den „Fridays for Future“-Demonstrationen gibt es Bedenken, ob das Wachstumsideal dem Menschen auch schadet: es bedroht die Umwelt, führt zu Stress und Burnout etc. Gibt es eine Alternative zu einer Wirtschaft, die Wachstum anpeilt — wie könnte sie aussehen?

Oftmals gilt wirtschaftliches Wachstum, ausgedrückt im Bruttoinlandsprodukt (BIP), als das Maß aller Dinge. Doch das BIP ist „blind“ dafür, ob unser Wirtschaften auch seine sozialen, ökologischen und gesellschaftlichen Quellen erhält oder ob es ihnen Schaden zufügt. Es ist an der Zeit, eine Trendwende einzuleiten. Mit dem Verharren im Status quo riskieren wir - ähnlich wie beim Klimawandel - Kipppunkte zu erreichen, nach denen sich negative Entwicklungen dynamisch beschleunigen. Die Ressource Zukunft wird knapp.

Wir setzen uns für mehr Lebensqualität statt blindes Wachstum ein. Dies gelingt zum Beispiel durch soziale Innovationen, wie sie in manchen Bereichen der Share Economy mit dem Konzept Teilen statt Besitzen entwickelt wurden. Zusammen mit neuen Technologien führen sie einer wirksamen und sparsamen Nutzung unserer natürlichen Ressourcen. Gemeinwohlorientierten Modellen wollen wir gleichwertige Rahmen- und Förderungsbedingungen wie anderen Unternehmen zusichern. Den Wandel wollen wir mit einem neuen Wohlstandsmaß begleiten, dass zum Beispiel auch den ökologischen Fußabdruck, gute Bildung und gesunde Lebensjahre abbildet.

Die Digitalisierung bedroht Arbeitsplätze, gerade einfache Tätigkeiten könnten wegfallen. Zugleich böte sie die Chance, Arbeit neu zu organisieren: zum Beispiel durch kürzere Arbeitszeiten. Eine Prognose: Wie arbeiten wir in 30 Jahren?

Die Digitalisierung wird laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) die Arbeitsnachfrage insgesamt kaum beeinflussen, aber die Arbeitsplätze erheblich verändern. Allein in Nordrhein-Westfalen fallen demnach bis 2035 rund 290.000 Arbeitsplätze weg. Die gleiche Zahl entsteht in diesem Zeitraum allerdings in anderen Bereichen. Bildung und Weiterbildung werden folglich in den kommenden Jahren immer wichtiger. Deshalb wollen wir die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterentwickeln und die Weiter- oder Neuqualifizierung auch von Menschen in bestehenden Beschäftigungsverhältnissen in den Mittelpunkt stellen.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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