Grundfähigkeitsversicherung: Große Vielfalt und fehlendes Vertrauen
Die Grundfähigkeitsversicherung leidet an zu komplexen Leistungskriterien und fehlenden Marktstandards. Das veranschaulicht ein aktueller Beitrag der Rating-Experten von Franke und Bornberg. Und doch: Mit den einzelnen Tarifen scheinen die Tester dennoch zufrieden. Der Versicherungsbote hat sich Analysen zum einstigen Branchen-Hoffnungskind „Grundfähigkeitsversicherung“ angesehen und stellt vor, wie aus Sicht der Experten der Markterfolg dennoch gelingen kann.
- Grundfähigkeitsversicherung: Große Vielfalt und fehlendes Vertrauen
- Produktsegment: Noch Stiefkind des Vertriebs
Produktsegment als Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung
Sehen, Hören, Gehen, Sprechen, Denken ("klar" und "strukturiert", „logisch“): viele angeborene Fähigkeiten sind für menschliches Handeln grundlegend. Auch ist die Ausübung vieler Berufe bei Verlust einer Grundfähigkeit unvorstellbar. Lokführer*innen, die nicht mehr sehen? Lehrer*innen, die die Fähigkeit zum Sprechen verlieren? Handwerker*innen, die nicht mehr greifen können? Die Grundfähigkeitsversicherung soll Berufstätige vor dem Verlust dieser Fähigkeiten absichern.
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Mindestens vierzehn Kern-Fähigkeiten sollte der Versicherungsschutz einer Police aus Sicht der Rating-Experten bei Franke & Bornberg abdecken: 1.) Gehen; 2.) Stehen; 3.) Knien oder Bücken; 4.) Autofahren; 5.) Sprechen; 6.) Hören; 7.) Heben und Tragen; 8.) Arme bewegen; 9.) Hände gebrauchen als „Geschicklichkeit“; 10.) Hände gebrauchen als „Kraft aufwenden“; 11.) Treppensteigen; 12.) Sehen; 13.) Geistige Leistungsfähigkeit; 14.) Sitzen.
Für psychische Erkrankungen wird in der Regel nicht gezahlt
Leistungen werden zu bestimmten Bedingungen fällig, wenn versicherte Grundfähigkeiten verloren gehen. Eine Ergänzung ist jedoch notwendig: Der Verlust der Grundfähigkeit muss in der Regel organisch bedingt sein – also zum Beispiel durch Multiple Sklerose, Schädelhirntrauma, Schlaganfall, Hirntumor oder ähnliches. Dieser Hinweis ist schon deswegen wichtig, weil jenes Risiko nicht durch den Versicherungsschutz abgedeckt ist, das mittlerweile am häufigsten zu Berufsunfähigkeit führt –das Risiko psychischer Erkrankungen. Viele Policen schließen psychisch bedingte Erkrankungen explizit vom Versicherungsschutz aus.
Gedacht waren die Produkte auch als Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung (BU). Das Versprechen dahinter: Der Verlust konkreter Grundfähigkeiten ist für den Kunden anschaulicher als das komplexe Themenfeld „Berufsunfähigkeit“. Jedoch: Der Leistungsfall muss auch transparent definiert werden. Anbieter machen ihren eigenen Produkten das Leben am Markt schwer. Das veranschaulicht ein aktueller Beitrag der Ratingagentur Franke & Bornberg.
Das Prinzip ist einfach… Bedingungen sind kompliziert
Demnach könnte es sich bei Grundfähigkeitsversicherungen tatsächlich um leicht verständliche Produkte handeln. Wenn, ja wenn es da zwei Probleme nicht geben würde. Denn zum einen gibt es keine Mindeststandards für diese noch jungen Produkte, die erst ab dem Jahr 2000 in Deutschland eingeführt wurden. Zum anderen ermöglichen die Produkte eine große Definitionsvielfalt, die Definitionen werden zudem immer komplexer.
In einem – auch ironisch gemeinten – Beitrag veranschaulicht dies Franke & Bornberg-Expertin Maren Dangelat am Beispiel der Grundfähigkeit „Hände gebrauchen“: Hätte es noch im Jahr 2015 in den Bedingungen eines maßgeblichen Maklerversicherers für diese Grundfähigkeit geheißen, „ein Verlust liegt vor, wenn die versicherte Person mit der rechten oder mit der linken Hand nicht mehr in der Lage ist, einen Wasserhahn auf- und wieder zuzudrehen“, so heißt es im aktuellen Bedingungswerk:
„Ein Verlust liegt vor, wenn die versicherte Person mit der rechten oder mit der linken Hand nicht mehr in der Lage ist, ein leeres auf dem Tisch stehendes Wasserglas zu greifen und so umzudrehen, dass es auf der geöffneten Seite steht oder ein leeres Wasserglas 5 Minuten zu halten, auch nicht, wenn der Unterarm abgestützt wird“.
Nach Maßgabe eines anderen Vertragswerks liegt ein Verlust der Grundfähigkeit „Hände gebrauchen“ vor, wenn die versicherte Person nicht mehr in der Lage ist, „eine angesetzte Schraube in ein gedübeltes Loch zu schrauben und zu lösen oder eine Wäscheklammer an einer Wäscheleine auf Hüfthöhe zu befestigen“.
Produktentwickler, so kommentiert Dangelat die Beispiele, definieren mittlerweile „mit viel Phantasie“ oder gar mit einer "Phantasie ohne Grenzen". Jedoch spiele es hierfür keine Rolle mehr, ob „es sich um eine bestehende oder neuartige Grundfähigkeit handelt“. Wirke doch als "Treiber der bunten Vielfalt", dass jeder Versicherer sich vom Wettbewerber abgrenzen will. Das aber geschehe zum Nachteil der Produkte.
Im Leistungsfall steckt der Teufel im Detail
Denn derartige Definitionen in der Grundfähigkeitsversicherung sind zentral für den Leistungsfall: Sie entscheiden darüber, ob eine Versicherung bei Verlust einer Grundfähigkeit auch tatsächlich zahlt oder nicht. Und je komplizierter und vielfältiger die Definitionen werden, desto mehr steckt der Teufel im Detail.
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Im vergangenen Jahr veranschaulichte dieses Problem auch Versicherungsfachwirt Philip Wenzel, wie der Versicherungsbote berichtete – und zwar anhand von Leistungskriterien für die Grundfähigkeit „Gehen“: Wenn schon nach 200 Metern selbständigem Gehen die Grundfähigkeit als erhalten gilt anstatt erst nach 400 Metern, wird eine Rentenzahlung im Schadensfall unwahrscheinlicher. Auch wäre relevant, ob medizinische Testverfahren Hilfsmittel ausschließen oder nicht. Denn muss ein Versicherungsnehmer für den Geh-Test zum Beispiel Unterarmstützen nehmen, erhält er ebenfalls mit geringerer Wahrscheinlichkeit die Rente als bei einer Fortbewegung ohne Hilfen. Je komplexer aber derartige Bedingungen und je vielfältiger das Angebot, desto schwieriger wird die Orientierung am Markt.
Produktsegment: Noch Stiefkind des Vertriebs
Komplexe Vielfalt und fehlende Vergleichbarkeit der Produkte könnten somit auch erklären, warum in einer AssCompact-BU-Studie 2018 nur knapp vier von zehn Maklern angaben, regelmäßig Grundfähigkeitsversicherungen zu vermitteln, wie der Versicherungsbote berichtete. Für ein aktualisiertes Rating zur Grundfähigkeitsversicherung, das Franke und Bornberg im Oktober diesen Jahres veröffentlichten, bestätigt auch das Analysehaus den Verdacht der Umfrage: Das Produktsegment bleibe „bisher vertrieblich hinter seinen Möglichkeiten zurück“. Seien doch "lediglich die Überschriften“ vergleichbar, ansonsten setze „jeder Anbieter auf seine eigene“ und zudem oft komplexe Definition.
Marktstandards bei Definitionen könnten Vertrauen sichern
Weil der Anspruch auf Leistungen aber mit diesen Definitionen steht und fällt, ist vor allem eines bisher nicht möglich – Sicherheit in der Beratung und Vertrauen beim Kunden. Deswegen fordern die Experten auch verbindliche Standards sowohl bei den versicherten Grundfähigkeiten als auch bei den Definitionen, wie es sie für andere Produktsegmente bereits gibt. Nur so kann sich die Grundfähigkeitsversicherung wirklich als Alternative zur BU-Versicherung am Markt etablieren.
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Trotz allem aber: Gute Rating-Ergebisse für Produktsegment
Trotz dieses analysierten Problems aber scheinen die Produkttester mit den Produkten zufrieden. So bekommen in einem Gesamtrating „Selbstständige Grundfähigkeit“ immerhin 35 Tarife die Bestnote FFF+ und damit ein „hervorragend“. Achtzehn Tarife bekommen zudem ein FFF und damit ein „Sehr gut“. Und alle anderen Tarife bekommen ein FF+ und damit immerhin noch ein „Gut“. Schlechteste vergebene Note ist die 2,5 für einen Tarif „Grundfähigkeitsversicherung Stand 01.2019“ der Canada Life Assurance Europe plc.
Ergebnisse dieses Ratings zur „Selbständigen Grundfähigkeit“ sowie ein weiteres Rating zur „Selbständigen Grundfähigkeit Plus“ (mit zusätzlichen Schutz für schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen) sind auf der Webseite der Rating-Experten verfügbar.
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