Herr Professor Zimmermann, Herr Gorr, Sie haben von der TU Braunschweig aus eine Studie zum Kaufverhalten von Berufsunfähigkeitsversicherungen erstellt. Was war Ihre Motivation?

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Claus-Dieter Gorr, Geschäftsführender Gesellschafter von Premium CircleGorr: Nur etwa 25 % der infrage kommenden Menschen in Deutschland haben eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. Jedes Jahr werden wir auf unseren Fachveranstaltungen mit Vermittlern damit konfrontiert, dass eine große Verunsicherung bei Vermittlern wie Kunden herrscht, was die BU-Produkte eigentlich wann unter welcher Voraussetzung leisten.

Die Fülle vorhandener Unverbindlichkeiten in den AVB wird von Versicherern gerne darauf geschoben, dass der Versicherungsschutz für lange Zeiträume gewährt wird und man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein will. Dadurch wissen jedoch weder Vermittler noch potentielle Kunden welcher konkrete Versicherungsschutz da eigentlich ver- oder gekauft werden soll.

Das Produkt ist in hohem Maße interpretierfähig. Der Abschluss einer BU-Versicherung gleicht einer Blackbox und ist bislang größtenteils quasi ein Vertrauensprodukt.

Zimmermann: Genau aus diesem Grund haben wir an der Technischen Universität Braunschweig eine wissenschaftliche Untersuchung durchgeführt, um festzustellen, ob nicht das unbefriedigende Kaufverhalten der Versicherten von den Versicherern quasi hausgemacht sein könnte.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Gorr: Da nahezu alle Versicherungsbedingungen – ganz gleich von welchem Anbieter – nur so von unverbindlichen Formulierungen und unbestimmten Begriffen wimmeln, wurden im Losverfahren die AVB der AXA (SBU-Druckstücknummer: D 1350 21012931 4.18 C; Stand 04/2018) herausgenommen und einer komplexen Untersuchung unterzogen.

Zimmermann: Wir haben den Text in drei Schritten untersucht:

  1. Sprachwissenschaftliche Analysen ergaben, dass der Text zahlreiche ungeläufige Wörter enthält und die Sätze unnötig komplex sind. So übersteigt ein Satz mit 66 Wörtern bei weitem die Verarbeitungskapazität von Lesenden. Bei einfachem Satzbau und geläufigen Wörtern wären etwa 18 bis 20 Wörter pro Satz die Grenze.
  2. Eine folgende qualitative Studie mit Hilfe des Lauten Denkens und anderer Methoden bestätigte die Ergebnisse der sprachwissenschaftlichen Analysen: den Versuchspersonen waren bis zu 18 Wörter unbekannt. Zwei Sätze wurden auch nach mehrmaliger Lektüre nicht oder falsch verstanden.
  3. Die abschließende quantitative Studie mit 103 Versuchspersonen bekräftigte die bisher gewonnenen Ergebnisse: Durch die Überarbeitung wurde der Text signifikant verständlicher. Die Verständlichkeit hatte außerdem einen statistisch schwachen bis mittleren signifikanten und kausalen Effekt auf die Kaufabsicht. Wir finden, das ist eine beachtliche Wirkung und sie wird einzig durch die gekonnte Überarbeitung der Verständlichkeit erzeugt!

Prof. Dr. Günther Zimmermann von der Technischen Universität BraunschweigProf. Dr. Günther ZimmermannWie haben Sie Ihre Versuchspersonen ausgewählt?

Zimmermann: Die Versuchspersonen wurden unter Studierenden gewonnen. Sie bekamen per Zufall entweder den Original-Text zu lesen oder die verbesserte Version des Textes.

Wie haben Ihre Versuchspersonen emotional auf den Text reagiert?

Zimmermann: Die Einstellungen zu dem Text, aber auch zu dem Versicherer, waren überwiegend negativ. Zwei Beispiele:

  • Die Befragten lasen Sätze immer wieder mehrmals und machten dann nach längeren Pausen Angaben wie "Ja, das Problem ist, dass ich jetzt schon wieder vergessen hab', was am Anfang stand".
  • Oder Unterstellungen wie "Also so kompliziert geschrieben, dass man eigentlich nur denken kann, dass die gar nicht wollen, dass man's versteht, vielleicht dadurch 'n Punkt überliest."

Welche Handlungsfelder adressieren Sie nun an die Versicherungsbranche?

Zimmermann: Der Handlungsbedarf ist zwingend. Im Kern gibt es drei Punkte:

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  1. Schwerverständlichkeit widerspricht der Gesetzeslage, nach der Geschäftsbedingungen für beide Vertragsparteien verständlich sein müssen (§ 307 Absatz 1 Satz 2 BGB).
  2. Mangelnde Verständlichkeit ist auch nicht vereinbar mit den Interessen der Versicherer. Zeigen die empirischen Studien doch überzeugend, dass der überprüfte Text eine unnötig geringe Kaufabsicht generiert.
  3. Die Bedeutung der Ergebnisse dürfte in Zeiten zunehmender Digitalisierung noch zunehmen, da gut verständliche schriftliche Texte durch den Wegfall von Vermittlerkapazitäten grundlegend wichtiger werden.

Gorr: Vermittler und Kunden benötigen verbindliche, verständliche und nicht interpretierfähige AVB als Leitplanken für die Absicherung des existentiellen Risikos einer Berufsunfähigkeit. Insofern sind die Produktanbieter gefordert, genau das zu liefern.