Versicherungsbote: Herr Brockmann, unser Thema ist die Sicherheit auf deutschen Straßen. Ich habe gelesen, Sie sind seien selbst passionierter Motorradfahrer.

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Siegfried Brockmann: Das stimmt, ja. Ich weiß gar nicht, ob ich das sagen darf.

Ganz banal gefragt: Fühlen Sie sich auf deutschen Straßen sicher?

UDV-Leiter Siegfried Brockmann: Wir haben genügend Baustellen in Sachen Verkehrssicherheit!UDV-Leiter Siegfried Brockmann: Wir haben genügend Baustellen in Sachen Verkehrssicherheit!Siegfried Brockmann ist Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV).Nein, natürlich nicht (lacht). Aber man sollte auch nicht glauben, sich ohne Risiko auf die Straße begeben zu können. Wir haben ein sehr komplexes Verkehrsgeschehen. Das stellen Sie spätestens fest, wenn Sie versuchen den Verkehr zu automatisieren, also schauen, ob ein Auto mittels eines Computers autonom durch die Stadt fahren kann. Dann beobachten Sie, aus wie vielen Richtungen und mit wie vielen Geschwindigkeiten sehr verschiedene Verkehrsteilnehmer kommen – teils, ohne dass man voraussehen kann, was sie als nächstes machen. Das alles in ein System zu gießen, das Unfälle vollständig ausschließt, halte ich gar nicht für möglich.

Dann frage ich anders: Wird in Deutschland genug getan, um Unfälle zu vermeiden? Einerseits ist die Zahl der Unfälle im internationalen Vergleich niedrig. Andererseits sterben immer noch mehr als neun Menschen pro Tag auf deutschen Straßen.

Wir haben in den letzten Jahren bereits viel verbessert. Noch Anfang der 70er Jahre verloren in der Bundesrepublik rund 21.000 Menschen pro Jahr bei Verkehrsunfällen ihr Leben, bei deutlich geringerer Verkehrsdichte. Heute sind es in ganz Deutschland rund 3.300.

Aber: Viele Sicherheitsgewinne stammen aus der Automobiltechnik. Allein die Einführung des Sicherheitsgurts hat uns dramatisch viele Unfallopfer im Auto erspart. Hinzu kamen der Airbag und weitere Innovationen – wie die sichere Fahrgastzelle oder Fahrassistenzsysteme. Heute stellen wir fest, dass diese Entwicklung zum Erliegen gekommen ist. Die nächsthöhere Entwicklungsstufe „Automatisation von Fahrzeugen“ steckt noch in den Kinderschuhen und wird länger brauchen. Umso wichtiger ist es, dass wir weitere Fortschritte im Bereich der Infrastruktur und des Verkehrsverhaltens erzielen. Das ist noch schwieriger als technisch etwas zu bauen, weil die empfohlenen Maßnahmen aufwendige Eingriffe in das Verkehrsnetz erfordern. Also: Die Aufgabe stirbt nicht aus, Unfallzahlen und -folgen zu reduzieren. Wir haben genügend Baustellen, an denen wir etwas verbessern müssen.

Ein Thema, das in den letzten Monaten kontrovers diskutiert wurde, ist ein Tempolimit auf Autobahnen. Zwar starben hier 2018 mit 424 Menschen vergleichsweise wenige Menschen, diese aber mehrheitlich aufgrund hohen Tempos. Auch waren mehr als 5.900 Schwerverletzte zu beklagen. Halten Sie ein solches Limit für sinnvoll?

Es sprechen Indizien dafür, dass geringere Geschwindigkeiten auch weniger Unfälle und vor allem auch weniger schwerere Unfälle nach sich ziehen. Weil: Zum Ersten senke ich die kinetische Energie, falls es doch zum Unfall kommt. Zweitens senke ich die Wahrscheinlichkeit, dass es überhaupt zum Unfall kommt, weil die Anhaltewege kürzer werden bei geringeren Geschwindigkeiten. Ich schaffe außerdem deutlich weniger Stress für Fahrer, weil ich die Differenzgeschwindigkeiten zwischen den Spuren minimiere – was zum Beispiel für ältere Fahrer ein wichtiger Vorteil ist.

Das ist eine ideologisch sehr aufgeladene Debatte. Ulf Poschardt, Chedredakteur der WELT, sieht durch ein Tempolimit die Freiheit der Bürger in Gefahr. In einem Twitter-Tweet von Dezember 2018 schreibt er: “Rasen richtig gemacht ist die höchste Verantwortung und das schönste und wunderbarste und poetischste!“

Auweia! Aber das ist der Haken daran: Wir bräuchten eine klare gesellschaftliche Mehrheit für ein Tempolimit. Ein Verbot, das ständig und massiv übertreten wird, nützt wenig.

Zu dieser Debatte fehlen in Deutschland schlicht wissenschaftliche Studien, die den Nutzen eines Limits beweisen. Deswegen bin ich dafür, dass wir, was wir alle ahnen, auch mal als Großversuch unter die Lupe nehmen. Das bedeutet: Man müsste ein ziemlich aufwendiges Versuchsdesign machen, das einen „Vorher- Nachher“-Vergleich zwischen verschiedenen Strecken mit und ohne Tempogrenze erlaubt.

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Ein solcher Feldversuch ist nicht trivial. Aber man könnte über einen längeren Zeitraum die Unfallentwicklung messen und hätte harte Zahlen zu der Frage, ob ein Tempolimit was bringt – und bei welchen Geschwindigkeiten. Denn das oft vorgeschlagene Limit „130 km/h“ ist sehr willkürlich gewählt. Sicherheitsvorteile treffen auch bei Tempo 150 noch zu. Mit den gewonnenen Zahlen könnte man ganz anders diskutieren: „Hier sehen wir jetzt schwarz auf weiß: so und so viele Tote und Schwerverletzte könnten vermieden werden, wenn…“.

"Vom SUV geht nach unserer Forschungslage nicht a priori ein höheres Risiko aus."

Ein weiterer Grund, weshalb wir viele Unfälle zu beklagen haben, ist das Unfallgeschehen in Großstädten. Wenn ich richtig informiert bin, bleiben hier die Unfälle auf recht hohem Niveau oder nehmen sogar wieder zu — auch wegen des immer dichter werdenden Verkehrs und vieler Pendler.

Die hohen Unfallzahlen in den Städten resultieren unter anderem daraus, dass wir mit den Radfahrern eine neue Verkehrsteilnehmer-Gruppe haben. Radfahrer gab es zwar schon immer. Aber nicht in dieser Art wie heute – als sehr schnelle Verkehrsteilnehmer und auch als schnell wachsende Gruppe. Hier lässt sich zum Beispiel beobachten, dass Unfälle mit E-Bikes aufgrund des hohen Tempos oft mit schweren Verletzungen oder gar tödlich enden — auch vor dem Hintergrund, dass sie überproportional von Senioren genutzt werden. Von den 445 getöteten Radfahrern im letzten Jahr starben viele in den Städten.

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Für die Stadt werden mögliche Verbesserungen der Infrastruktur diskutiert, um Unfälle zu reduzieren. Hier haben wir eine verkniffene Situation: Es fehlt schlicht Raum, die Städte wurden nicht für eine solche Masse an Verkehr geplant. Für mehr Radwege müssten zum Beispiel die Autofahrer zurückstecken. Gibt es da Möglichkeiten, den Verkehr zu entzerren und so sicherer zu machen?

Ehrlich gesagt, ich bin da pessimistisch. Es gibt Experten, die viel Hoffnung daran setzen, den Verkehr mit digitaler Technik besser zu steuern und dadurch mehr Sicherheit zu erzielen: zum Beispiel durch grüne Wellen auf den Hauptstraßen. Doch selbst wenn wenn wir es im Zuge der Digitalisierung hinbekommen würden, solche Prozesse zu optimieren – ich kann den Verkehrsfluss besser gestalten, ich kann freie Parkplätze anzeigen, zu denen man sofort geleitet wird, ohne dreimal um den Block zu müssen —, könnten positive Effekte schnell verpuffen. Das beobachten wir zum Beispiel bei vermeintlich intelligenten Navigationssystemen. Wenn wegen eines Staus Umleitungen empfohlen werden, dann sind die Nebenstraßen auch schnell verstopft, weil alle Fahrer der Empfehlung ihres Navis folgen. Insofern glaube ich nicht, dass wir durch digitale Infrastruktur große Profite bei der Verkehrssicherheit erreichen.

Das Kernproblem bleibt: Verkehrsraum ist nicht beliebig vermehrbar. Zumal die Ansprüche von vielen Seiten steigen. Wir führen in Berlin in mehreren Bezirken die Debatte, dass Bereiche, wo sich viele Fußgänger bewegen, auch fußgängerfreundlich gestaltet werden sollen … also der Autoverkehr ganz herausgenommen wird oder so eingeschränkt, dass man da nur noch mit Schrittgeschwindigkeit fahren darf. Die Probleme zeigen sich schnell: Der Fußverkehr verlangt viel mehr Fläche für sich, der Radverkehr auch. Und alle schauen drauf, wie viel Fläche dem Auto bleibt.

Man muss kein Experte sein, um zu sagen, dass die Masse der öffentlichen Fläche vom Autoverkehr besetzt wird – und zwar nicht nur im fließenden Verkehr, sondern auch im ruhenden. Wir haben kaum eine Straße, die nicht zugeparkt ist. Wenn wir für Fußgänger und Radfahrer in den Städten tatsächlich mehr Sicherheit schaffen wollen, indem sie mehr Raum erhalten — was im Moment in fast allen Kommunen politischer Wille ist —, dann hat das unweigerlich Folgen für den Autoverkehr.

Nun gibt es radikale Konzepte, wo gesagt wird: Autos möglichst raus aus der Innenstadt oder der Autoverkehr soll stark einschränkt werden, so dass man nur mit gewissen Befugnissen reinfahren darf. Glauben Sie, dass das die Unfallzahlen senken könnte?

Man muss bedenken: Konzepte für freie Innenstädte hängen erstens davon ab, ob ich überhaupt einen identifizierbaren Innenstadtkern habe. Es gibt viele Städte, die polyzentrisch sind. Das heißt: Sie haben mehrere Unterzentren, in und zwischen denen sich die Menschen bewegen. Dann muss ich mir was für die Anwohner überlegen, die dort leben. Ihnen werde ich nicht zumuten wollen, dass sie mehrere Kilometer zu ihrer Haustür laufen, vielleicht mit einem Kasten Wasser in der Hand. Und drittens muss ich mir für den Lieferverkehr Konzepte überlegen. Aber das sind Themen, die der Unfallforscher nicht prioritär bearbeitet. Die möchte ich gern anderen überlassen.

In Deutschland gibt es den Trend zu großen Autos, vor allem SUV. Mittlerweile ist jedes vierte zugelassene Auto so eine große „Kiste“. Trägt das zu schwereren Unfällen bei? Paradox: Wenn ich mich so im Bekanntenkreis umhöre, wird das oft mit Sicherheitsaspekten begründet. Meine Freunde sagen dann, sie fühlen sich in dem Auto sicher. Aber das Problem scheint mir: Sobald ich aussteige, sind SUV ein größeres Risiko.

Sobald Sie ein kleineres Fahrzeug haben, ist der SUV für Sie ein größeres Risiko – durch die größere Masse und durch den höheren Aufschlagpunkt, wie Crashtests beweisen. Das heißt: Der SUV ist für alle sicherer, die drinnen sind. Der Sicherheitsaspekt, natürlich, wird aber immer kleiner, je mehr wir diese Fahrzeuge haben — für Fußgänger und Zweiradfahrer bedeuten sie ohnehin schwerere Unfallschäden, das ist leider so.

Allerdings muss man hier relativieren: Vom SUV geht nach unserer Forschungslage nicht a priori ein höheres Risiko aus. Das heißt: Da sind nicht besondere Rambos am Steuer, sondern es sind sehr oft Mütter oder auch Senioren, die aus anderen Gründen diese Autos fahren: etwa, weil Sie eine bessere Übersicht haben und weil man leichter ein- und aussteigen kann.

"Als Problem mit Blick auf den Innenstädte könnten sich Lieferwagen entpuppen..."

Mehr Verkehr, weniger Raum, der Trend zu größeren Fahrzeugen — das stimmt mich jetzt nicht optimistisch, ob unter derzeitigen Umständen die Großstädte sicherer für den Verkehr werden können…

Als weiteres Problem mit Blick auf den Innenstädte könnten sich Lieferwagen entpuppen: diese ganzen Sprinter-Klassen. Da sieht man eine deutliche Zunahme durch Versandhändler und Paketdienste: Stichwort „Just-in-Time-Belieferung“. Es gibt allerdings keine neue Studie im Moment, die aufzeigt, in welchem Verhältnis diese Zunahme zum Unfallgeschehen in den Städten steht.

Ich beobachte mögliche Risiken auch selbst, wenn ich auf Arbeit fahre. Da stehen manchmal zwei Lieferwagen gleichzeitig auf der unübersichtlichen Kreuzung oder blockieren Straßen an gefährlichen Stellen. Die können anders auch gar nicht stehen, es fehlt schlicht an Raum…

Ja, genau. Zugespitzt formuliert: Früher kam ein Postwagen, einmal am Tag. Heute kommen vier verschiedene Dienste zwei Mal täglich. Dieses Problem beobachte ich auch in meiner Wohnstraße. An den Kaufgewohnheiten – auch daran, dass man zu Hause sehr schnell über Internet bestellt – werden wir alle wenig ändern. Die Frage ist, ob wir diesen Händlern den öffentlichen Raum einfach mal gratis so zur Verfügung stellen: oder sie sich an den Kosten, auch für mehr Sicherheit, künftig beteiligen sollen.

Ich habe den Eindruck, es wird über Sicherheit auf den Autobahnen und auch über die Innenstädte diskutiert, aber einer der wichtigsten Unfallschwerpunkte bleibt außen vor. Nach wie vor sind auf den Landstraßen die meisten Unfalltoten und Schwerverletzten zu beklagen: im letzten Jahr starben hier 57 Prozent aller fast 3.300 Unfallopfer. Was wird aktuell diskutiert, um die Landstraßen sicherer zu machen?

Zunächst muss man sagen: Dass die Landstraßen der Unfallschwerpunkt sind, ist gar kein Wunder. Denn Sie haben, im Gegensatz zu Autobahnen, massenhaft Konfliktpunkte. Jede Kreuzung, jede Einmündung, jeder Feldweg, der da rauf geht, ist konfliktbeladen. Sie haben die Möglichkeit, zu überholen – was ja auch reichlich wahrgenommen wird. Auch da, wo Sie vielleicht gar nichts sehen. Und es werden sehr viel höhere Geschwindigkeiten gefahren als in der Stadt. Dass deswegen auf der Landstraße viel passiert, ist klar. Wir haben ja auch ein sehr großes Landstraßennetz.

Auch hier sind sicher Eingriffe möglich: zum Beispiel, dass ich die erlaubte Höchstgeschwindigkeit öfter mal von 100 auf 80 km/h reduziere und das dann auch kontrolliere. Aber so lange das nicht gemacht wird, bleiben für die Landstraße nur Kleinkorrekturen – dass man Kreuzungen noch sicherer macht, dass man die Übersichtlichkeiten verbessert. Dass man da, wo ich viele Geschwindigkeitsunfälle habe, auch mal einen Starenkasten hinstellt.

Und dann bleiben noch zwei Gründe für die Landstraßen als Unfallschwerpunkt übrig. Das eine haben Sie gleich zum Eingang angesprochen: Das sind die vielen Motorradunfälle, die überwiegend auf der Landstraße passieren. Und das andere ist das Thema „Bäume an der Straße“ – die bedauerlicherweise immer dann, wenn jemand von der Straße abkommt, auch gleich zum Tod oder schweren Verletzungen führen.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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