Deutschland: Land der niedrigen Löhne

Wer ein Arbeitsentgelt von weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns (Medianlohns) bekommt, der gilt laut Definition der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als Niedriglöhner. Für Deutschland berechnet sich für das Jahr 2017 eine Schwelle des unteren Entgeltbereichs von 2.139 Euro brutto für Vollzeitjobs. Rund 4,17 Millionen Menschen bzw. 19,8 Prozent der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten liegen unterhalb dieser Schwelle, wie eine Antwort der Bundesregierung in 2018 auf eine Kleine Anfrage der Partei Die Linke ergab (BT-Drs. 19/05340).

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Deutschland als Niedriglöhner-Land: Damit will aber nicht nur Die Linke, sondern will nun auch die Partei Bündnis 90/ die Grünen Schluss machen. Hierzu fasste der Bundesvorstand der Grünen auf der ersten Klausurtagung des neuen Jahres einen neuen Beschluss, der zu Beginn dieser Woche veröffentlicht wurde. Das Papier trägt den Titel: „Der Niedriglohnsektor als Armutsfalle –wirksame Maßnahmen gegen die steigende Ungleichheit“. Der Versicherungsbote hat sich angesehen, wie die Partei den Niedriglohn bekämpfen will.

Zwölf Euro Mindestlohn: Der Chor der Fordernden wird größer

Trotz Jahren guter Konjunktur und steigender Beschäftigung gehe die Armut in Deutschland nicht zurück, konstatiert das Papier. Eine zentrale Forderung betrifft demnach den Mindestlohn: Auf zwölf Euro soll dieser nun angehoben werden, „damit Vollzeiterwerbstätige von ihrer Arbeit leben können“. Die Grünen schließen sich also einer Forderung an, die zuerst von der Partei Die Linke erhoben wurde. Seit Dezember des zurückliegenden Jahres möchte sich außerdem die SPD für eine Erhöhung des Mindestlohns auf just jene zwölf Euro einzusetzen – und plant außerdem eine Neuverhandlung des Mindestlohngesetzes (MiLoG) in der Großen Koalition. Die Forderungen erfolgen auch vor dem Hintergrund drohender Altersarmut.

Denn 12,63 Euro pro Stunde müsste aktuell ein Arbeitnehmer verdienen, um nach 45 Beitragsjahren in der gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente oberhalb des Niveaus der Grundsicherung zu erhalten. Das ergab eine Berechnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Derzeit aber beträgt der gesetzliche Mindestlohn – seit dem 1. Januar 2020 – 9,35 Euro. Rentenexperten wie der Volkswirtschaftler Axel Börsch-Supan gehen sogar davon aus, dass erst ab etwa 18 Euro Mindestlohn die Menschen genug für eine auskömmliche Rente im Alter verdienen (der Versicherungsbote berichtete).

Aus diesem Grund beschränken sich die Grünen auch nicht auf die Forderung nach einem höheren Mindestlohn. Sondern zugleich wird eine „Reform der Mindestlohnkommission“ gefordert. Diese Kommission legt regelmäßig eine neue Lohnuntergrenze fest, Basis hierfür sind die letzten Tariferhöhungen und ist die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Neue Berechnungsmethoden des Mindestlohns sollen also das Armutsrisiko in der Bevölkerung reduzieren.

Reform des Tarifrechts: Verhinderung eines Betriebsrats künftig Strafbestand?

Ebenso eine Reform des Tarifvertragsgesetzes (TVG) streben die Grünen an. Eine Forderung: Die Verhinderung der Gründung eines Betriebsrats soll künftig als Straftat geahndet werden. Wie dieser zu schaffende Strafbestand dann konkret geahndet wird, darüber informiert jedoch das aktuelle Papier der Grünen nicht.

Eine weitere Forderung: Ein „stärkerer Gebrauch des Instruments der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen“. Dieses Instrument gibt es bereits – aufgrund von Paragraph 5 des Tarifvertragsgesetzes kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Jedoch: Den Grünen scheint die aktuelle Regelung nicht weit genug zu gehen. Denn möglich ist diese Allgemeinverbindlicherklärung aktuell nur im Einvernehmen mit einem Ausschuss, der aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer besteht. Die Grünen jedoch wollen „das de facto Vetorecht der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften“ abschaffen.

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Vorbild solcher Ideen könnten Länder wie die Niederlande sein – dort ist es dem Staat zum Beispiel für Betriebsrenten möglich, für einzelne Branchen die Teilnahme an einem Branchenfonds allgemeinverbindlich vorzuschreiben. Ist also ein Tarifvertrag im öffentlichen Interesse, kann er auf ganze Branchen ausgedehnt werden auch ohne Zustimmung weiterer interessengeleiteter Akteure auf Seiten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Zuverdienstmöglichkeiten beim Arbeitslosengeld II sollen auf 30 Prozent erhöht werden

Aber auch für jene Menschen, die nicht in Vollzeit beschäftigt sind, fordern die Grünen bessere Bedingungen. So sollen zum Beispiel Zuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslose erhöht werden. Bisher gilt, gemäß Paragraph 11b Abs. 2 des Zweiten Sozialgesetzbuchs (SGB II): Übersteigt das Einkommen den Freibetrag von 100 Euro monatlich und beträgt nicht mehr als 1.000 Euro, können 20 Prozent des selbst verdienten Einkommens behalten werden. Die Grünen wollen diesen Prozentsatz aber auf 30 Prozent erhöhen.

Minijobs: Die problematische Umwandlung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen

Eine weitere Forderung der Grünen betrifft Minijobs – und damit jene Beschäftigungsverhältnisse mit geringfügiger Beschäftigung und geringfügiger selbständige Tätigkeit gemäß Paragraph 8 des Vierten Sozialgesetzbuchs (SGB IV), die ein Arbeitsentgelt von 450 Euro im Monat nicht übersteigen. Diese Minijobs sollen in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen umgewandelt werden. Die Umsetzung aber ist nicht unproblematisch.

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Werden doch schon jetzt Sozialbeiträge für Minijobs abgeführt, jedoch unter Berücksichtigung des geringen Arbeitsentgelts. Bestimmungen unterscheiden sich hierbei – je nachdem, ob die Minijobs im gewerblichen Bereich oder in Privathaushalten geleistet werden. Zu beachten ist außerdem die Dauer der Jobs:

  • Für kurzfristige Minijobs fallen zum Beispiel sowohl im gewerblichen Bereich als auch im Bereich von Privathaushalten nach aktuellem Gesetzesstand keine Sozialbeiträge an – Arbeitgeber bezahlen hier nur geringe Umlagebeiträge für Aufwendungen bei Krankheit und Mutterschaft von 0,7 Prozent und 0,14 Prozent des Arbeitsentgelts. Gemäß Paragraph 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV gilt ein Minijob als „kurzfristig“, wenn er längstens auf drei Monate oder 70 Arbeitstage eines Kalenderjahrs begrenzt ist.
  • Dauert ein Minijob allerdings länger, gilt eine Rentenversicherungspflicht. Der Beitragssatz zur allgemeinen Rentenversicherung von insgesamt 18,9 Prozent wird aufgeteilt: Bei gewerblichen Arbeitgebern trägt der Arbeitgeber den größeren Teil, bei Minijobs in Privathaushalten hingegen der Arbeitnehmer. Bei gewerblichen Minijobs trägt der Arbeitgeber demnach 15 Prozent und der Arbeitnehmer die verbleibenden 3,9 Prozent. Auf Antrag kann der Arbeitnehmer sich aber von seiner Rentenversicherungspflicht befreien lassen. Bei Minijobs in Privathaushalten hingegen trägt der Arbeitgeber nur fünf Prozent vom Beitragssatz der Rentenversicherung, der Arbeitnehmer hingegen die verbleibenden 13,9 Prozent.
  • Auch Krankenversicherungsbeiträge werden geleistet: Der gewerbliche Arbeitgeber trägt einen Pauschalbeitrag von 13 Prozent. Bei Minijobs in Privathaushalten fällt ein Pauschalbeitrag von fünf Prozent für den Arbeitgeber an. Allerdings leistet der Minijobber als Arbeitnehmer keine Beiträge zur Krankenversicherung.

Derartige bestehende Regelungen werfen Fragen auf, wie die Umwandlung der Minijobs erfolgen soll. Denn werden Beiträge wie bei sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen zu gleichen Teilen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer getragen, bliebe vom wenigen Geld für den Arbeitnehmer noch weniger übrig. Gerade bei gewerblichen Arbeitgebern würde eine Umstellung auf die Parität eher zum Nachteil des Minijobbers ausfallen. Aber auch kurzfristige Minijobs würden bei Umwandlung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse nicht nur höhere Lohnkosten für den Arbeitgeber, sondern überhaupt erst Kosten für den Arbeitnehmer bedeuten.

Entsprechend ratlos geben sich auch die Meldungen zur aktuellen Forderung der Grünen. So schreibt die Zeit: „Wie genau der Umbau funktionieren soll, also etwa wer die Beiträge für die Sozialversicherung bezahlen würde, steht in dem Papier allerdings nicht.“ Erwähnt wird jedoch durch das Hamburger Blatt, dass ein konkretes Konzept zur Umsetzung der Umwandlung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige Jobs bei den Grünen in Arbeit ist.

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Der aktuelle Beschluss der Grünen mit allen Forderungen kann auf der Webseite der Partei abgerufen werden.

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