Kostet Überregulierung die Deutsche Wirtschaft 165 Milliarden Euro?
Es sind gewaltige Summen, die Deutschland nach Ansicht des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) durch Überregulierung verlorengehen: 165 Milliarden Euro allein binnen 16 Jahren. Der Verband orientiert sich am Index eines libertären Think Thanks, das unter anderem auch klimaskeptische Bewegungen finanziert und eine klare Vorgabe gibt: privat ist besser als Staat. Die Sicht der Verbraucher fehlt bei der Studie weitestgehend.
- Kostet Überregulierung die Deutsche Wirtschaft 165 Milliarden Euro?
- "Regeln unverzichtbar, aber Zuviel behindert Wachstum"
- Krise der Lebensversicherer: Schuld ist nicht die EZB allein
Wird in Deutschland grundsätzlich zu viel reguliert? Das jedenfalls will der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in einer Studie herausgefunden haben. Und präsentiert beeindruckende Zahlen: Demnach hätte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im untersuchten Zeitraum 2000 bis 2016 um 4,4 Prozent höher gelegen, wenn Deutschland zu den fünf OECD-Ländern mit dem besten Regulierungsumfeld zählen würde. Dies entspreche einem BIP von 165 Milliarden Euro, das Deutschland für den Zeitraum verloren gegangen sei. Eine gewaltige Summe.
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“Hohe Regulierungsdichte kostet Deutschland Wohlstand“
„Die vielen gesetzlichen Auflagen und die hohe Regulierungsdichte kosten Deutschland Wohlstand“, sagt GDV-Chefvolkswirt Klaus Wiener laut Pressetext. So würden auch Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass neue regulatorische Initiativen hiesige Unternehmen in jüngster Vergangenheit zusätzlich belastet haben. Mit Blick auf die Versicherungsbranche kann man die Beispiele IDD-Umsetzungsgesetz und Solvency II nennen, die sowohl Versicherern und Vermittlern zusätzliche Kosten beschert haben.
Doch ab wann bedeutet Regulierung tatsächlich einen Verlust an Wohlstand und Lebensqualität? Hier sei auf die Basis für die Studie verwiesen. Sie orientiert sich am Economic Freedom of the World-Index des Fraser Instituts. Dahinter verbirgt sich ein libertärer Think Thank aus Vancouver in Kanada, der 1974 von dem Banker und Ökonomen Michael Walker gegründet wurde. Mit dem erklärten Ziel, den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft zurückzudrängen: auch den regulatorischen. „Privat ist besser als Staat“ ist die Maxime des Fraser Instituts, vielleicht vergleichbar mit der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ in Deutschland.
Paradox: Hongkong bei Regulierung auf Platz 1, China auf Rang 164
Viele der Annahmen des Freedom-Indexes sind umstritten. So behauptet das Fraser Institut zum Beispiel einen engen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und individueller Freiheit - und dem daraus resultierenden Wohlstand. Aufhorchen lässt diesbezüglich, dass ausgerechnet Hongkong im Jahr der Erhebung auf Platz 1 der am besten regulierten Länder landet, so berichtet der GDV: Jene Verwaltungszone, in der seit Monaten Studenten verbittert gegen Repressionen der chinatreuen Regierung protestieren und die Menschenrechte zunehmend bedroht sind. Ein freier Markt muss nicht automatisch eine freie Gesellschaft bedeuten.
China hingegen kommt in dem Fraser-Index nur auf Rang 164 und zählt damit zu den am schlechtesten regulierten Ländern, im Grunde wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig. Obwohl sich das Land unleugbar zu einer der mächtigsten Wirtschaftsnationen überhaupt entwickelt hat: auch, weil der Staat den Markt und die eigenen Unternehmen vor dem Einfluss anderer Wettbewerber schützt, zudem Milliarden in innovative Zukunftstechniken investiert.
So kommt der aktuell weltgrößte Versicherer aus dem Reich der Mitte, wie Forbes berichtet: Ping An mit einem Jahresumsatz von 141,61 Milliarden US-Dollar. Obwohl Aktiengesellschaft, profitiert das Unternehmen aus Shenzhen vom Protektionismus der chinesischen Regierung, weil der Heimatmarkt nur zögerlich für internationale Konkurrenten geöffnet wird.
Am Beispiel Chinas zeigt sich, dass Wirtschaftswachstum und steigender Wohlstand nicht zwangsläufig mit „freien Märkten“ korrelieren müssen, sondern auch der Staat in staatskapitalistischen Regimes eine wichtige Rolle als Akteur spielen kann: obwohl die Stabilität dieser Modelle umstritten ist. In China ist der Kapitalismus ein hybrides Wesen, das durch zentrale Lenkung einer Partei, ja gar staatliche Repressionen (etwa bei der Enteignung von Bauern für Bauland) ebenso geprägt ist wie durch ein hohes Maß marktwirtschaftlicher Freiheit. Das Fraser-Institut kann solche Widersprüche mit seinem Index kaum abbilden: Die libertäre Grundidee, dass ein starker staatlicher Einfluss der Wirtschaft schadet, lässt es nicht zu.
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Wiederholt ist das Fraser Institut dadurch aufgefallen, dass es radikal einseitig für bestimmte Positionen Partei ergriff. Nach Recherchen des kanadischen Senders CBC diskreditierte das Think Thank zum Beispiel wissenschaftliche Studien zur Gefährlichkeit des Rauchens: Die Tabakindustrie zählt zu den wichtigen Geldgebern. In Kanada und den USA machte sich die Denkfabrik mit Kampagnen für Privatisierungen und gegen einen gesetzlichen Mindestlohn stark. Aktuell unterstützt man klimaskeptische Bewegungen. Auch das vielleicht kein Zufall, wenn man bedenkt, dass die Ölindustrie zu den wichtigsten Spendern von Fraser zählt: etwa ein Mineralöl-Gigant wie Exxon Mobil, der an fossilen Energien festhalten will.
"Regeln unverzichtbar, aber Zuviel behindert Wachstum"
Man muss hier anmerken, dass die GDV-Studie eine differenziertere Sicht auf Regulierung zeigt, weil sie Vorteile zumindest benennt. „Verbindliche Regeln, etwa zu Eigentums- oder Wettbewerbsfragen, sind einerseits unverzichtbar, damit sich die Wirtschaft entwickeln kann. Ab einem gewissen Regulierungsgrad überschreitet jedoch der Aufwand den Nutzen. Übermäßige Vorgaben führen bei Unternehmen zu unnötigen Kosten und können zudem Innovationen behindern, weil Firmen weniger Risiken eingehen“, heißt es hierzu im Pressetext des Verbandes. Zu den Nachteilen zähle darüber hinaus, dass zusätzliche Gelder für die öffentliche Hand anfallen, weil die Vorgaben von Behörden überwacht werden müssen.
Mit Blick auf einige Vorgaben, etwa die Solvenzberichte der Versicherer, trifft der GDV durchaus einen wunden Punkt. Sie sollen die Solvenzberichte auch den Verbrauchern einen Einblick über die Finanzstabilität der Versicherer liefern. Ein Ziel, das teils als verfehlt gelten muss: Oft voller Fachsprech und komplexer Berechnungen, finden sie kaum Leser. 2018 verzeichneten die Gesellschaften im Schnitt 33 Downloads im Monat (der Versicherungsbote berichtete). „Sowohl Umfang als auch Taktung der Berichte stehen oft in keinem Verhältnis zum Nutzen“, bemängelt GDV-Chefvolkswirt Wiener. Ein namhafter Versicherer habe im ersten Halbjahr 2018 alle 2,5 Wochen eine Meldung an die Aufsichtsbehörden abgeben müssen.
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Studie durch die Unternehmer-Brille
Dennoch zeigt sich die libertäre Brille des Fraser-Institutes auch in der Studie des Versicherer-Lobbyverbandes: in einer radikal von Unternehmerinteressen geprägten Perspektive. Auffallend ist, dass im zugehörigen Pressetext die Sicht der Verbraucher komplett ausgespart bleibt. Der GDV argumentiert einseitig aus Sicht der Versicherer und anderer Wirtschaftsunternehmen.
Aber auch Privatpersonen haben unter Umständen ein Interesse an regulatorischen Eingriffen, etwa wenn sie dadurch von einer besseren Beratung profitieren oder von transparenteren Altersvorsorge-Produkten. So fehlt in dem GDV-Text der Hinweis, dass Solvency II und IDD-Umsetzungsgesetz als Antwort auf Verfehlungen der Versicherer entstanden sind. Verfehlungen, die zum Teil aus Regulierungslücken resultierten.
Ein Beispiel: Die EU-Reform der Versicherungsaufsicht unter Solvency II war eine Reaktion darauf, dass sich infolge der Finanzkrise 2008 Versicherer als systemrelevant entpuppten, wenn auch nicht so stark wie Banken. Oder wie es heißt: „Too big to fail“. Die Insolvenz eines großen Anbieters kann demnach eine Kettenreaktion provozieren, in deren Folge auch andere Versicherer und Finanzdienstleister existenzielle Probleme bekommen. Ob das ein ähnliches weltweites Erdbeben auslösen kann wie die Finanzkrise 2008, ist umstritten.
Prominentestes Beispiel: Der US-amerikanische Riese AIG konnte nach der Lehmann-Pleite nur mit Hilfe von Notkrediten des Staates überleben: er hatte sich unter anderem mit toxischen Papieren verzockt. Insgesamt 150 Milliarden US-Dollar an Steuergeldern steckte die US-Notenbank in den Konzern, bis er wieder auf die Beine kam und den Kredit auch zurückzahlen konnte. Ohne diese Finanzspritze hätten Millionen Menschen voraussichtlich ihren Versicherungsschutz und die Altersvorsorge verloren.
Krise der Lebensversicherer: Schuld ist nicht die EZB allein
Nicht nur in den USA, auch in Europa zeigte sich infolge der Finanzkrise, dass mit Blick auf die Versicherungswirtschaft einiges im Argen liegt. Stichproben der Aufsichtsbehörden ergaben, dass einige europäische Versicherer über zu wenig Eigenmittel verfügten, was ihre Stabilität bedrohte. Auch deutsche Assekuranzen mussten nach der Krise 2008 in Summe Milliarden Euro abschreiben, wenngleich die Probleme nicht so extrem waren wie beim US-Riesen AIG.
Der Platzhirsch Allianz schloss beispielsweise im Geschäftsjahr 2008 mit einem Fehlbetrag von 2,4 Milliarden Euro ab, auch weil man sich mit dem Kauf der Dresdner Bank verzockt hatte. Dass die Versicherer nun jährlich umfangreiche Solvenzberichte vorlegen müssen, um ihre Stabilität nachzuweisen, und der Gesetzgeber die Regeln hier verschärft hat, ist eine Reaktion auf die beobachteten Probleme. Ein unregulierter Markt frisst im Zweifel seine eigenen Kinder.
Im Grunde begann auch die Niedrigzins-Phase schon vor dem Einschreiten der Europäischen Zentralbank (EZB) im Umfeld der Finanzkrise, weil infolge kurzfristiger Kursstürze an den Börsen viele institutionelle Anleger auf vermeintlich sichere Anleihen mit langer Laufzeit auswichen. Das ließ sich sogar schon vor der Lehmann-Pleite beobachten, als sich erste Turbulenzen an den Börsen abzeichneten, wie zeitgenössische Berichte in Fachmedien zeigen. Bezogen auf das investierte Kapital nahm die Verzinsung dieser Papiere ab, so sank die Umlaufrendite zehnjähriger Bundesanleihen von 4,78 Prozent im Juni 2008 auf 4,26 Prozent im September.
Auch der durchschnittliche Zins der Lebensversicherer hatte schon vor der EZB-Niedrigzinspolitik seine Talfahrt begonnen: Er sank bei kapitalbildenden Garantie-Policen von 4,39 Prozent in 2007 auf 4,26 Prozent in 2008, wie Daten des damaligen MAP-Reportes ergaben. Damals warnte der inzwischen verstorbene Map-Report-Gründer Manfred Poweleit, dass die Lebensversicherer in eine dauerhafte Krise schlittern könnten und die Rendite weiter sinken werde, und zwar deutlich. Auch wenn die aktuelle Nullzins-Krise zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen war und der Ertrag der Policen aus heutiger Sicht fast paradiesisch. Die Niedrigzinspolitik der EZB hat den Negativ-Trend verschärft und beschleunigt.
Gute Regulierung hilft auch, Kosten zu vermeiden
Gefragt ist also eine differenzierte Sicht auf Regulierung. Klug gemacht trägt sie dazu bei, dass auch die Wirtschaft profitiert: selbst wenn sie zunächst keinen Vorteil darin zu erkennen vermag, zum Beispiel, weil zusätzliche Kosten entstehen.
Mit Blick auf den Versicherungsvertrieb halfen strengere Qualifikations- und Weiterbildungsvorschriften, dass sich der Versicherungsvermittler zu einem spezialisierten Expertenberuf gewandelt hat und viele schwarze Schafe vom Markt verschwunden sind. Für den Ruf der Branche ist das wichtig, um das Vertrauen der Kunden nach zahlreichen Skandalen zurückzugewinnen. Dank einer damit verbundenen Marktkonsolidierung können strengere Vorschriften für Vermittlerbüros auch finanziell von Vorteil sein.
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Hier sei mit Blick auf die Finanzbranche darauf verwiesen, dass es nach wie vor große Regulierungslücken gibt. Beispiel Grauer Kapitalmarkt: Finanzskandale wie beim Container-Anbieter P&R, Infinus und dem Goldhändler PIM erlauben die Frage, ob diese Dienstleister auch deshalb lange ein mutmaßliches Schneeballsystem betreiben konnten, weil die Finanzaufsicht bei Bilanzen und Geschäftsmodell nicht so genau hinschaute: auch, weil die BaFin gar nicht die Befugnisse hierfür hatte.
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