Am 17. März 2020 war es soweit: das Institut für Versicherungswissenschaften e.V. an der Universität Leipzig lud zu seinem 20. Vorlesungstag an der Universität Leipzig ein. Die Jubiläumsveranstaltung fand in diesem Jahr jedoch aufgrund der besonderen gesellschaftspolitischen Umstände und der angespannten Situation um Covid-19 kurzfristig als erste große Veranstaltung der Branche rein digital über ein Video-Streaming statt. Die Referenten hielten Ihre Vorträge bzw. diskutierten vom heimischen Rechner aus, und auch die Teilnehmer verfolgten die Veranstaltung via Livestreaming von daheim. Eine Chatfunktion bot die Möglichkeit sich dennoch inhaltlich einzubringen und Fragen zu stellen, die vom Moderator Prof. Dr. Fred Wagner an die Redner weitergegeben wurden.

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Nach einer Begrüßung durch Prof. Wagner fand Gerd W. Stürz, Partner bei der Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und Vorstand des Förderkreises für das Institut für Versicherungswissenschaften an der Universität Leipzig e.V., in einer kurzen Laudatio freundliche Worte anlässlich des 20. Jubiläum des Vorlesungstages. Er blickte auf die erfolgreiche Zeit des Instituts zurück und nahm die Teilnehmer auf eine kleine Reise durch vergangene Vorlesungstage mit. Dabei betonte er nicht nur den innovativen Geist des Instituts, sondern auch dessen Vorreiterrolle innerhalb der Branche. Der Vorlesungstag habe sich nicht ohne Grund zu einem der beliebtesten Branchentreffen innerhalb der Assekuranz im deutschsprachigen Raum entwickelt, lobte Stürz in seiner Laudatio.

Mitarbeiterführung in Zeiten wachsender globaler und digitaler Herausforderungen

Den fachlichen Teil des 20. Vorlesungstags eröffnete Renate Wagner, Mitglied des Vorstands der Allianz SE, mit einem Beitrag zum „Leadership in Zeiten von demografischem Wandel und Digitalisierung – Ansatzpunkte und Herausforderungen“. Erfolgreiche Mitarbeiterführung sei laut Wagner der entscheidende Faktor für den Erfolg, das Wachstum und die Innovationskraft eines Unternehmens in einer sich dynamisch entwickelnden Welt. Zu den Veränderungstreibern zählten insbesondere der demografische Wandel, die kontinuierliche Transformation, die zunehmende Globalisierung und Digitalisierung sowie Veränderungen des Arbeitsplatzes.

Unternehmerischer Erfolg in diesem Umfeld benötige Führungskräfte als Brückenbauer, um die unterschiedlichen Kulturen, Interessen und vielfältigen Mitarbeiterpersönlichkeiten zusammenzuführen. Ebenfalls sei der aktuelle Generationenwechsel innerhalb eines Unternehmens eine besondere Herausforderung, der jedoch genauso viele Chancen bieten würde. Wagner stellte heraus, dass sich die Anforderungen an die Führungskräfte von Morgen vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen und dem Mind Set neuer Generationen stark verändern werden. Soft Skills würden zunehmend an Bedeutung gewinnen und seien in Verbindung mit zukunftsorientierten Fähigkeiten sowie Expertenwissen ein absoluter Wettbewerbsvorteil für ein Unternehmen.

Zu den zukunftsorientierten Fähigkeiten einer Führungskraft seien unter anderem Agilität, IT-Versiertheit und digitales Know-how zu zählen. Ziel sei es zudem, Inklusion zu stärken und Barrieren abzubauen, um als Unternehmen für junge Talente attraktiver zu sein. Schlüssel dazu sei außerdem, junge Talente erfolgreich zu integrieren und zu binden. Dazu brauche es agile und vielseitige Führungskräfte, schloss Wagner.

Vertriebsvergütung in der Lebensversicherung

Anschließend erörterte Dr. Gerhard Schick, Vorstand der Bürgerbewegung Finanzwende e.V., das in der Versicherungswirtschaft umstrittene Thema „Vertriebsvergütung in der Lebensversicherung“. Die Branche würde den Verkauf von Lebensversicherungen mit dem Begriff „Beratung“ verschönern, der Kunde zahle jedoch nicht für eine Beratung, sondern für den Abschluss einer Police. Hinzu komme, dass das Provisionssystem ins 19. Jahrhundert zurückgehe und sich seitdem nicht verändert hätte. Die Branche hänge an ihrer Provision „… wie ein Teenager an seinem Smartphone“.

Die hohen Abschlusskosten, von denen die Abschlussprovision zwei Drittel ausmache, vernichte die ohnehin niedrige Rendite in der Lebensversicherung, so Schick weiter. Er appellierte an die Branche, die Kosten zu senken und auf Alternativen wie Nettopolicen zu setzen. Der vom Gesetzgeber vorgeschlagene Provisionsdeckel sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung, die Versicherungswirtschaft zum Umdenken zu bewegen, jedoch könne er höchstens eine Übergangslösung sein. Das Problem sei weiterhin, dass hohe Umsätze den Hauptanreiz im Vertrieb darstellen und nicht die Qualität der Beratung.

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Ein Ausweg sei unter anderem, den Kunden für die Beratung an sich zahlen zu lassen oder die Kosten für den Abschluss auf ein Prozent der angesparten Summe zu begrenzen. Die Politik zeige mit dem aktuellen Vorschlag zur Provision in der Lebensversicherung zwar einen politischen Willen; die Branche sei jedoch zu starr, um den notwenigen Wandel einzuleiten und dadurch den Kunden zu entlasten und dessen Vertrauen zurückzugewinnen.

...Bericht aus der Leipziger Forschung

Im Rahmen des wissenschaftlich ausgerichteten Veranstaltungsblocks „Leipziger Forschung“ berichtete Florian Römer, MSc., Doktorand am Institut für Versicherungswissenschaften und Analyst der V.E.R.S Leipzig GmbH, aus seinem Dissertationsprojekt „Externe Performanceanalyse von Versicherungsunternehmen unter besonderer Berücksichtigung des Solvency and Financial Condition Reports“. Nach einer Begriffsabgrenzung der externen Performanceanalyse differenzierte Römer zunächst einzelne Analysephasen. Beginnend mit der Festlegung der Analyseziele, folge zunächst die Informationsbeschaffung und -aufbereitung, anschließend die Entwicklung von Kennzahlen und schließlich deren Interpretation. Ziel der Analyse sei ein Erkenntnisgewinn über die wirtschaftliche Lage des Versicherungsunternehmens. Als Informationsquellen nannte Römer primär den Jahresabschluss und den „Solvency & Financial Condition Report (SFCR). Ergänzende Quellen seien Börsen- und Wirtschaftsdaten sowie Informationen, die von Dritten publiziert würden.

Die Frage, ob der SFCR als gewinnbringende Informationsquelle anzusehen sei, sei zum einen zu bejahen, so Römer, schon weil die Veröffentlichungen oftmals vor dem Jahresabschluss erfolgten und die marktnahe Bewertung aktuelle und realitätsnahe Informationen liefern würde. Jedoch seien die zugrunde gelegten Marktwerte innerhalb des Reportings nicht immer verlässlich. Er kritisierte ebenfalls die kurzen Pflichtangaben, lobte zugleich aber die umfangreiche Risikoberichterstattung. Die Evaluierung von Solvency II in diesem Jahr sei wegweisend für die Bedeutung des SFCR zur externen Performanceanalyse, schloss Römer.

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Vertriebskanäle und Vertriebsvergütung der Zukunft – Ergebnisse einer empirischen Studie

Die anschließend von Fred Wagner vorgestellte Studie „Vertriebskanäle und Vertriebsvergütung der Zukunft“ beschäftigte sich mit den künftig erfolgreichen Kommunikationskanälen gegenüber den Kunden sowie einem zukunftsfähigen Vergütungsmodell für den Vertrieb – in Zeiten von zunehmender Digitalisierung und Regulierung sowie des wachsenden Innovationsdrucks auf die Versicherungswirtschaft. Befragt wurden dafür Vertriebsverantwortliche von Versicherungsunternehmen.

Kunden seien aus anderen Lebensbereichen bereits an eine große Auswahl an Interaktionsmöglichkeiten mit Handel und Dienstleistern gewöhnt und würden diese Erwartung auch auf die Versicherer und Vermittler übertragen. Um den Ansprüchen gerecht zu werden, spiele Omnikanalkompetenz eine wichtige Rolle. Innerhalb der Studie bestätigte sich erneut, dass Kunden mehrere Kanäle nutzen, um sich zu informieren. Dazu zählen aktuell insbesondere Empfehlung von Verwandten und Bekannten, der persönliche Kontakt mit dem Vermittler, Online-Vergleichsportale und die Homepage des Versicherers.

Weniger beliebt sind der Online-Chat mit einem Vermittler und die App eines Versicherungsunternehmens. Die Präferenzen werden sich nach den Erwartungen der befragten Vertriebsverantwortlichen in den nächsten drei Jahren verschieben. Insbesondere der Online-Chat mit Vermittlern und die Informationsbeschaffung durch Apps nähmen deutlich an Relevanz zu.

Für den Abschluss eines einfachen Versicherungsprodukts bevorzugten Kunden aktuell den persönlichen Vermittler und eine Online-Vergleichsplattform. Ein anderes Bild ergäbe sich beim Abschluss eines komplexen Produkts. Hier spiele der persönliche Vermittler die tragende Rolle, und das bleibe auch über die nächsten drei Jahre so. In der Zukunft bestehe somit die Herausforderung, die Qualität der Vermittler hoch zu halten und die Digitalisierung im Versicherungsvertrieb weiter voranzutreiben. Dabei sei der Kostendruck auf den Vertrieb durch regulatorische Anforderungen und Verbraucherschützer angekommen, so Wagner. Im Fokus der Diskussion stehe insbesondere die Abschlussprovision. Mehrheitlich äußerten die Vertriebsverantwortlichen, auch weiterhin ein Vergütungsmodell aus Abschluss- und Bestandsprovision zu goutieren – mit einem etwas zunehmenden Gewicht für die Bestandsprovision.

Die Befragten plädierten überdies zum Teil dafür, die Vergütung an individuelle Verhältnisse der Vermittler anzupassen. Angemessene Kriterien seien dafür die Stornoverhältnisse, der Erfolg bei der Neukundengewinnung und die Kundenbindung. Eine Conclusio der Studie sei, so Wagner, dass der Antrieb aus der Versicherungsbranche selbst zur Veränderung der Vergütungssysteme fehle. Die Versicherer müssten sich zudem verstärkt mit den digitalen Kommunikationskanälen auseinandersetzen.

Qualitätssicherung statt Kostensenkung

Dr. Helge Lach, Mitglied des Vorstands bei der Deutschen Vermögensberatung AG, referierte im Anschluss über „Perspektiven von Anreizmechanismen im Versicherungsvertrieb“. Die stark regulierte Branche der Finanzvermittler unterläge seit jeher einem schlechten Ruf, der ihr nicht gerecht werde, so Lach. Dies beträfe vor allem das mangelhaft wahrgenommene Eigeninteresse des Vermittlers an der Kundenzufriedenheit und Qualitätssicherung sowie die Meinung, Finanzvermittler seien an der Finanzkrise schuld und würden bewusst Fehlberaten.

Die Allgemeinheit würde zudem das Vermittlereinkommen und die Honorarberatung überschätzen. Er beklagte, dass die Kosten- und Provisionsdiskussion zunehmend die Leistungs- und Qualitätsdiskussion überlagere. Insbesondere würde verkannt, dass die Branche aus eigenem Antrieb heraus vielfältige Maßnahmen anwende, um die Beratungsqualität zu sichern. Zu diesen Maßnahmen zählten unter anderen die Verhaltenskodizes der Verbände, die Vermittlerregister sowie Maßnahmen, die das Geschäftsmodell direkt beträfen, wie beispielsweise interne Aus- und Weiterbildungen, die analysegestützte Bedarfsermittlung sowie eine interne Qualitätskontrolle, unter anderem in Bezug auf Stornoquoten.

Um die unterschiedlichen Abschlussvergütungen der Produktpartner zu homogenisieren, würden Angleichungszahlungen geleistet. So könne eine qualitative Beratung ohne einen produktorientierten Provisionsdruck gewährleistet werden, so Lach weiter. Er sprach sich zudem für eine Senkung der Abschlussprovision zugunsten produktunabhängiger und laufender Vergütung aus. „Die explizite Herausstellung der Provisionen als primären Gestaltungsparameter (bis hin zum Verbot) ist eine extrem verkürzte, der Praxis nicht Rechnung tragende Sichtweise“, endete Lach.

Podiumsdiskussion: Big Data, Smart Data sowie Data Analytics

Die Podiumsdiskussion wurde mit einem Impulsbeitrag von Felix Hufeld eröffnet, Präsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Hufeld betonte zu Beginn, dass die Branche erst am Anfang der Digitalisierungsmöglichkeiten stehen würde und ein klarer Ausblick noch kaum möglich sei. Klar sei jedoch, dass die Kunden Annehmlichkeiten von der Versicherungsbranche erwarten, die sie bereits aus anderen Branchen kennen würden, beispielweise eine „Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit“ und einen auf den Kunden zugeschnittenen Service.

Ob die Vorbilder dieser Serviceleistungen, wie Google und Amazon, bald selbst zu Risikoträgern in Deutschland werden würden, sei bisher nicht klar. Aufsichtsrechtlich wäre es jedoch kein Problem, betonte Hufeld. Auch ohne den Einstieg von Tech-Giganten sei aber der Veränderungsdruck innerhalb der Branche hoch. Insbesondere an der Kundenschnittstelle habe es in den letzten Jahren einen starken Wettbewerbsdruck durch Aktivitäten von Start-ups gegeben. Auch wenn diese nicht selbst Risikoträger sein würden oder wollten, könnten Start-ups Entwicklungen vorantreiben, die die Versicherer zwingen würde, effizienter zu arbeiten.

Das Internet of Things könne Visionen aus der Vergangenheit in Zukunft Realität werden lassen, so Hufeld weiter. Er maß dabei vor allem Analyseverfahren auf Basis von künstlicher Intelligenz im Kern- oder Dienstleistungsgeschäft eine tragende Rolle zu. Jedoch müsse die letzte Verantwortung von Entscheidungen weiterhin beim Management und nicht bei Maschinen oder Algorithmen liegen, mahnte Hufeld. Die Branche solle sich außerdem an der Debatte über Werteentscheidungen, die im Hinblick auf die Digitalisierung zu treffen sind, aktiv beteiligen und sich nicht als „Opfer“ solcher Entscheidungen sehen.

Im Zuge der anschließenden Podiumsdiskussion, moderiert von Prof. Wagner, diskutierten Dr. Mathias Bühring-Uhle, Mitglied des Vorstands des Gothaer Konzern, Felix Hufeld, Präsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Sofie Quidenus-Wahlforss, CEO & Founder von omni:us, Johannes Rath, Chief Digital Officer der SIGNAL IDUNA Gruppe, und Dr. Thilo Weichert, Mitglied des Vorstands der Deutschen Vereinigung für Datenschutz e. V. über die Zukunft von Big Data, Smart Data sowie Data Analytics in der Versicherungswirtschaft. Als prominentes Beispiel für kontroverse Debatten nannten die Teilnehmer die Diskussion um Telematik-Tarife. Neben der Erfüllung der Datenschutzrichtlinien seien im Zuge von Data Analytics und künstlicher Intelligenz Anforderungen des Aufsichtsrechts und des Verbraucherschutzes sowie gesamtgesellschaftliche Erwartungen an ethisches Verhalten zu beachten.

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Im Zuge dessen thematisierten die Teilnehmer die Akzeptanz algorithmisch getriebener Versicherungsprodukte. Sie kamen zum Schluss, dass „Übergriffe durch die Hintertür“ – z.B. eine tarifliche Differenzierung nach Geschlechtern durch Ersatzmerkmale, die in Algorithmen versteckt mitlaufen könnten – strikt zu vermeiden sind, jedoch ein Verbot smarter Tarif- und Produktentwicklungen die Innovationskraft hindern würde. Wichtig sei einerseits die Bereitschaft aller relevanter Akteure zur Transformation und andererseits der anhaltende Dialog zwischen der Assekuranz und der Aufsicht sowie dem Verbraucherschutz, schlossen die Teilnehmer.

PM IfVW
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