Versicherungsbote: Der ADFC ist Lobbyverband der Radfahrer. Können Sie sich kurz vorstellen? Seit wann gibt es Sie — wie viele Mitglieder haben Sie? Wie finanzieren Sie sich?

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Konrad Krause: Den ADFC gibt es mittlerweile 40 Jahre, seit 1979. Deutschlandweit haben wir über 190.000 Mitglieder. Und die finanzieren zum größten Teil unsere Arbeit, mit Mitgliedsbeiträgen und Spenden.

…und was sind aktuell Ihre wichtigsten Projekte?

Der ADFC bietet seinen Mitgliedern eine große Palette unterschiedlichster Angebote - von der Feierabendradtour bis zur Pannenhilfe fürs Rad. Außerdem zertifizieren wir fahrradfreundliche Arbeitgeber sowie radfreundliche Unterkünfte mit dem Label Bett + Bike, damit man im Radurlaub immer ein fahrradfreundliches Dach überm Kopf hat. Daneben gibt es viele einzelne Projekte, zum Beispiel den Fahrradklima-Test, wo wir gemeinsam mit dem Bundesverkehrsministerium deutschlandweit alle zwei Jahre ermitteln, wie sich die Qualität des Radverkehrs in deutschen Städten entwickelt.

Konrad Krause ist Geschäftsführer des ADFC Sachsen, Politikwissenschaftler und Historiker. Und leidenschaftlicher Radfahrer.ADFC Sachsen

Die Zahl der Radunfälle bleibt ungebrochen hoch und nimmt sogar zu, vor allem in den Innenstädten: auch, weil der Verkehr mehr wird. 2018 wurden 88.850 Radfahrer verletzt und 445 getötet, allein sechs Unfalltote waren es in Leipzig. Welche Forderungen haben Sie an die Politik, um hier eine Trendumkehr zu bewirken?

Jahrzehntelang haben wir unsere Verkehrsinfrastruktur danach ausgerichtet, dass der motorisierte Verkehr schneller durch die Städte kommt. Hohe Geschwindigkeiten brauchen fast zwangsläufig mehr Verkehrsfläche. Die fehlt dann dem Radverkehr, aber auch für die Fußgänger. Sichere Netze und „Mehr Platz fürs Rad“ sind die zwei Stichworte, für die sich der ADFC verkehrspolitisch vor allem einsetzt - neben vielen weiteren, kleineren Themen.

Aber nicht nur der Mangel an Flächen für sicheren Radverkehr an sich, sondern auch die oft unstetige Wegeführung ist eine Gefahrenquelle. Wir brauchen in unseren Städten funktionierende, homogene Radwegenetze - das ist es, was das spezielle Fahrradgefühl in vielen Städten in Holland ausmacht und natürlich auch viel Sicherheit bringt. Hier kämpft man sich mit dem Rad ja ganz oft durch einen Flickenteppich an Radwegen, Mischverkehr mit Autos und freigegeben Gehwegen durch, um dann zielsicher immer wieder am Schild "Radweg Ende" zu landen. Da muss jetzt wirklich dringend etwas passieren.

Zwei Drittel aller Fahrradunfälle sind Kollisionen mit Autos, die Hauptschuld liegt in beinahe 75 Prozent der Zusammenstöße beim Autofahrer. Was sind aus Ihrer Sicht Gründe dafür, dass gerade Autos so oft Radunfälle verursachen? Braucht es mehr Sensibilisierung für die Risiken - bei der Fahrausbildung, über Kampagnen etc.?

Die Ursache dafür ist ja zunächst mal reine Physik: Autos sind schwerer, schneller und weniger präzise unterwegs als zum Beispiel ein Fußgänger oder jemand auf dem Rad. Klar, dass da mehr passieren kann. Deshalb muss man beim innerstädtischen Verkehr an diese Faktoren ran. Der ADFC setzt sich daher ganz klar für eine innerstädtische Regelgeschwindigkeit von Tempo 30 ein - mal abgesehen von Schnellstraßen ist das einfach zum Schutz aller anderen Verkehrsteilnehmer schlicht vernünftig. Wir setzen uns außerdem dafür ein, dass an großen Straßen mit viel Autoverkehr baulich gesicherte Radinfrastruktur geschaffen wird, die Radfahrer schützt und allen, die noch nicht Rad fahren, auch Mut macht, öfter mal aufs Rad zu steigen.

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Der dritte Baustein sind Kampagnen. Der ADFC ist da zum Beispiel beim Thema Überholabstand aktiv - ein heißes Eisen angesichts knapper Flächen in der Stadt. Aber wenn wir wollen, dass Radverkehr sicherer wird und sich mehr Menschen aufs Fahrrad trauen, muss man sich drauf verlassen können, dass Autofahrer die 1,50 m Mindestabstand auch tatsächlich einhalten. Darüber brauchen wir eine breite gesellschaftliche Debatte. Aber damit ist es nicht getan. Wir sind sehr froh, dass die Novellierung der StVO auch den verbindlichen Mindestabstand beim Überholen von 1,50 m innerorts und 2 Meter außerorts enthalten wird.

Wir brauchen eine Debatte, wie moderne Mobilität aussehen kann

Versicherungsbote: Die seit letzten Jahr zugelassenen eScooter müssen Fahrradwege nutzen, wenn es einen gibt. Vielfach wurde bei der Einführung gemutmaßt, das könnte die Unfallzahlen weiter hochtreiben. Eine erste Bilanz: Beobachten Sie vermehrt Konflikte zwischen Radfahrern und Scooter-Fahrern? Oder wurde da vieles argumentativ hochgekocht?

Konrad Krause: Nach Aussagen der Polizei ist die Zahl der Unfälle mit eScootern relativ hoch. Auffällig viele davon stünden in Zusammenhang mit alkoholisierten Fahrern und der Verwendung des eScooters als Spaßvehikel. Es ist wie bei allen neuen Erfindungen: Sie werden erstmal ausprobiert bis an die Grenzen und darüber hinaus. Der gesellschaftliche Lernprozess, was sinnvoll ist und was nicht, der folgt mit etwas geringerer Geschwindigkeit. Ein großes Problem sind die kleinen Räder der Scooter in Verbindung mit der großen Kraft des Antriebs. Ich bin überzeugt, dass die Scooterhersteller über kurz oder lang größere Räder einsetzen werden, weil dann so ein Fahrzeug natürlich einen besseren Geradeauslauf hat. Aber insgesamt muss man auch die Kirche im Dorf lassen: Die Konflikte sind überschaubar und am meisten tun sich die Scooterfahrer bei ihren Stürzen ja selbst weh.

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In den Medien wird viel über eine Verkehrswende debattiert, was vor allem bedeutet: weniger Autos in den Innenstädten, mehr Rad- und Nahverkehr. Schnell ist von Verboten die Rede, sogar von Einschränkung der individuellen Freiheit: das Thema wird emotional diskutiert. Ich vermute, Sie befürworten eine solche Verkehrswende? Wie kann dafür Akzeptanz geschaffen werden — gerade in einer vermeintlichen Autonation wie Deutschland?

Nun, Deutschland ist ja zuerst einmal Fahrradnation - immerhin wurde hier auch das Fahrrad erfunden! Aber mal Spaß beiseite: Nur über eine Verbotsdebatte werden wir natürlich keine nach vorn gerichtete Debatte über die Verkehrswende hinbekommen und wir werden so auch nicht das Dilemma lösen, dass die Verkehrsflächen für den Autoverkehr immer weiter anwachsen und in gleicher Weise das System Autoverkehr immer weniger gut funktioniert. Man muss ja nur einen Blick auf die wachsenden Zeiten werfen, die die Deutschen im Stau stehen, auf die galoppierenden Kosten des Straßenbaus. Da ist klar: Irgendwas kann da nicht stimmen. Mit einem effizienten System hat das nicht mehr viel zu tun.

Was wir in Deutschland vor allem brauchen, ist eine Debatte darüber, wie moderne Mobilität aussehen kann. Und ich glaube, da sind wir mit unserer Idee des Fahrrads im Mittelpunkt moderner Mobilität näher an den Leuten dran, als sich das weite Teile der Politik vorstellen können. Ich erlebe immer wieder bei neugebauten Radwegen, dass die Leute noch vor der Eröffnung die Absperrungen zur Seite schubsen und die Wege in Besitz nehmen, schneller als sich das vielleicht der eine oder andere Verkehrspolitiker oder Bürgermeister vorstellen kann. Die Leute wollen ihre Wege gern mit dem Rad zurücklegen. Was fehlt, ist ein flächendeckendes und sicher benutzbares Rad-Netz. Und da sind wir beim Begriff der individuellen Freiheit: Dass das Auto beim alltäglichen Verkehr in unseren Städten individuelle Freiheit bringt, das ist doch Murks. Wir sehen ganz genau - in Holland und in vielen Fahrradstädten rund um die Welt - dass sehr viele Leute ins Auto gezwungen werden, weil die Alternativen nicht funktionieren. Weil der ÖPNV überlastet ist und weil eben auch dieses lückenhafte Radwegenetz an vielen Stellen noch nicht funktioniert. Wo es aber funktioniert, da steigen die Leute um, quer durch alle Altersgruppen.

Ist es überhaupt realistisch, dass jede Stadt oder Region vermehrt auf das Fahrrad setzt? Ich denke zum Beispiel an hochgelegene bergige Gegenden, Städte mit vielen engen Pflasterstein-Straßen oder mit viel Schnee und Niederschlag.

Klar gibt es irgendwo Grenzen und nicht jedes letzte Schweizer Bergdorf wird eine Fahrradmetropole werden. Dennoch ist das Potential auch außerhalb flacher Regionen groß. In Zeiten von E-Bikes sind Berge ja eigentlich kein Thema mehr. Und das sieht man auch an den Verkaufszahlen von Fahrrädern: Jedes dritte neu verkaufte Rad ist ein E-Bike.

Ein Problem sind eher die "Berge in den Köpfen". Das heißt, dass Kommunalpolitiker und Verkehrsplaner fest davon ausgehen, dass in ihrer Kommune sowieso keiner Rad fährt - zu bergig. Das führt dann dazu, dass das Fahrrad bei der Infrastruktur nicht mitgedacht wird. Ein schönes Beispiel ist Wuppertal: Dort wurde vor ein paar Jahren eine alte Eisenbahntrasse zu einem wunderbaren Radschnellweg umgewandelt - plötzlich stiegen die Wuppertaler aufs Rad! Und dort mag es ja an dem einen oder anderen mangeln - Berge gibt es wahrlich genug. Die Frage nach der Topografie spielt natürlich zum Schluss auch eine Rolle, aber viel bedeutender ist es, ob sich die Menschen in einer Stadt gefährdet fühlen oder ob sie eine realistische Chance sehen, mit dem Rad am Ende des Tages heil zuhause anzukommen. In den Nierlanden müssen die Leute ja auch mit heftigem Wind und nasskaltem Wetter klarkommen - und dort haben wir Anteile des Radverkehrs von über einem Viertel aller Wege!

Viele Kommunen sind klamm und haben kaum Geld, um selbst die nötigsten Aufgaben zu erfüllen, wie man auch an Schlaglöchern und kaputten Radwegen sieht. Ganz banal gefragt: Ist es da überhaupt realistisch, von den Städten mehr Investitionen in den Radverkehr zu fordern? Oder muss die komplette Finanzierung der Radinfrastruktur neu aufgestellt werden?

Der ADFC ist ja am Thema der Finanzierung moderner und sicherer Radwegenetze schon einige Jahre am Ball. Und man muss sagen: Für Ortsumgehungen und große Parkplätze für Autos kommt das Geld ja auch irgendwoher. In Sachsen haben wir für den Radwegebau eine Förderquote von 90% - da braucht es fast keine Eigenmittel mehr. Auf Bundesebene ein ähnliches Bild: Bundesverkehrsminister Scheuer hat den Radverkehrsetat des Bundes ab 2020 von knapp über 100 auf 325 Mio. Euro pro Jahr verdreifacht - da kann wirklich keiner mehr erzählen, dass es am Geld hängt.

Was wir aber brauchen sind mehr Verkehrsplaner, mehr Know-how und einen Bewusstseinswandel auf der kommunalen Ebene, dass sie für den Umbau der Städte auch Verantwortung übernehmen müssen. Da ist etwas in Bewegung, aber dem ADFC geht das natürlich alles noch ein bisschen zu zäh. Ein Problem ist auch, dass die Länder und Kommunen jahrzehntelang ihre Schubladen mit Ortsumgehungen und Straßenverbreiterungen für den Autoverkehr gefüllt haben - und in diesen Schubladen heute praktisch kein Radverkehrsprojekt liegt, was man jetzt im Angesicht des Geldregens mal eben ausrollen könnte.

Vorurteile über "kriminelle Radfahrer"

Versicherungsbote: Ein - scheinbar kaum zu lösendes - Problem sind Fahrraddiebstähle. 292.000 Räder wurden 2018 geklaut, allein in meiner Heimatstadt Leipzig waren es rund 10.000. Mir selbst wurden in den letzten vier Jahren drei Räder entwendet, alle waren mit einem guten Schloss an einem festen Gegenstand befestigt. Auch das macht Radfahren unattraktiver. Was kann aus Ihrer Sicht getan werden, damit weniger Räder entwendet werden?

Konrad Krause: Wir brauchen natürlich mehr Polizeiarbeit, um beim Fahrraddiebstahl wirklich den Trend zu brechen und das heißt vor allem: mehr Personal. Aber daneben sind auch andere Akteure in der Pflicht. Zuallererst die Besitzer der Räder selbst: Viele geklaute Räder waren eben nicht an einem festen Gegenstand angeschlossen. Zweitens die Kommunen, die für sichere Abstellanlagen, zum Beispiel an Bahnhöfen und im Straßenraum sorgen müssen. Und drittens die Wohnungswirtschaft, denn ganz viele Räder werden aus Höfen herausgestohlen, wo diebstahlsichere und abgeschlossene Fahrradständer meist nicht vorhanden sind und man als Mieter oft keine Chance hat, sein Rad sicher abzustellen. Da gäbe es viel Potential und erste Städte justieren auch auf Druck des ADFC ihre Bauordnungen zu diesem Thema nach.

Blickt man auf die Berichterstattung der Medien, scheint sie Vorurteile gegenüber Radfahrern teils zu bestärken. „Radfahrer verursachen immer mehr Unfälle“, schrieb zum Beispiel vor kurzem dpa — obwohl bei verunfallten Radfahrern, Alleinunfälle eingerechnet, diese „nur“ zu 40 Prozent Hauptverursacher sind. Die „WELT“ gibt, weitestgehend unkommentiert, einen Kommentar von Bernd Irrgang wieder, Vorsitzender des Bundes der Fußgänger: „Es liegt in der Natur des Radfahrers, dass er 90 Prozent der für ihn geltenden Regeln ignoriert“. Woher rühren aus Ihrer Sicht derartige Vorurteile? Was hilft dagegen?

Radfahrer sind - so lange sie es gibt - immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt gewesen, gesetzlos zu sein, sich über Regeln hinwegzusetzen, latent gegen gesellschaftliche Konventionen zu verstoßen. Das fängt bei Rad fahrenden Frauen im 19. Jahrhundert an, die sich skandalöserweise weigerten Röcke zu tragen und ich bin mir sicher, es hört beim heute immer wieder ertönenden Vorwurf nicht auf, Radfahrer seien selbst Schuld an Unfällen, solange sie keine Warnweste trügen. Das ist natürlich völlig absurd: Niemand käme angesichts einer ungleich größeren Zahl an Unfällen mit Autos auf die Idee, die Zulassung eines Kraftfahrzeugs an eine neongelbe Lackierung zu koppeln.

Ich denke, im Kern geht es darum, welche Form der Alltagsmobilität wir in Deutschland heute als Normalität wahrnehmen und welche Form eher die Ausnahme darstellt. Und Dinge, die normal sind, werden nicht hinterfragt - wer etwas unnormales tut, muss sich hingegen dafür rechtfertigen. Niemand würde je auf die Idee kommen, eine Autohelmpflicht zu verlangen - obwohl die Zahl der schweren Kopfverletzungen bei Autoinsassen ungleich größer ist als bei Radfahrern. Ich erlebe da gerade aber auch einen Wandel des Diskurses, der mich grundsätzlich hoffnungsvoll stimmt. Und in den Niederlanden redet schon lange niemand mehr über die kriminelle "Natur des Radfahrers" - schließlich legen dort inzwischen nahezu alle Leute Wege mit dem Rad zurück.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig. Das Gespräch fand vor dem Corona-Lockdown statt.

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