Bernd Raffelhüschen, Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und an der Universität im norwegischen Bergen, ist für kontroverse Thesen bekannt. Der als wirtschaftsliberal geltende Finanzwissenschaftler kommt auch aktuell mit einer These um die Ecke, die verwundert, ja geradezu zu Widerspruch herausfordert. Demnach werden die Lockdown-Maßnahmen infolge der Coronakrise die Deutschen wertvolle Lebenszeit kosten - weil die Wirtschaft schwächelt.

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Der Lockdown selbst koste mehr Lebensjahre, als durch die Ausgangsbeschränkungen gerettet werden konnten, so die steile These des Ökonomen. "Unterm Strich kostet der Wachstumseinbruch deutlich mehr Lebensjahre, als wir bewahren konnten", sagt er laut einem Bericht der Zeitung "Die Welt“. Und weiter: „Verlierer sind wir alle, die Jungen mehr, die Alten weniger.“

Lebenserwartung und Bruttoinlandsprodukt gekoppelt

Wer Raffelhüschens Argumenten folgen will, muss aber auch die Grundannahmen teilen, auf denen seine Behauptung beruht. Das wäre zum einen, dass die steigende Lebenserwartung der Deutschen mit einem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes korreliert. Und zwar notwendigerweise. Im Umkehrschluss kostet eine Rezession im Schnitt pure Lebenszeit. Eine Argumentation, die von großem Fortschrittsoptimismus geprägt ist.

Bernd Raffelhüschen hat sich konkret angeschaut, wie die langfristige Entwicklung des realen Bruttoinlands-Produktes (BIP) pro Kopf in Deutschland seit den 50er Jahren mit der Wirtschaftskraft korreliert. Das Ergebnis: Beide sind parallel zueinander gestiegen. Als Grund für diese Korrelation nennt Raffelhüschen, dass ein Anstieg des Bruttoinlands-Produktes stets mit technischem und medizinischem Fortschritt einher gehe.

Auch wenn jetzt viel Geld in die Forschung für Corona-Impfstoffe und entsprechende Therapien fließe, bremse die einbrechende Konjunktur zugleich den medizinischen Fortschritt in der Bekämpfung von Volkskrankheiten aus, etwa bei Krebs oder Herzinfarkten, argumentiert der Ökonom. Aber schon wenn das BIP um ein Prozent pro Jahr einbreche, koste das die Deutschen eine Lebenserwartung von 0,89 Monaten, so rechnet Raffelhüschen vor.

Da die Bundesregierung davon ausgeht, dass die Wirtschaft in Deutschland im laufenden Jahr um 6,3 Prozent einbricht, gingen den Deutschen im Schnitt fünf Lebensmonate verloren. "Damit ist ein Verlust von mehreren Millionen Lebensjahren zu befürchten", sagt Raffelhüschen. Das alles als indirekte Folge des Lockdowns.

In seinen Berechnungen kommt Raffelhüschen zu dem Ergebnis, dass der Gesamtbevölkerung mehr als 37 Millionen Lebensjahre durch die Coronakrise und die folgende Rezession verloren gingen. Durch Lockdown und Kontaktverbote seien hingegen „nur“ circa 60.000 Todesfälle verhindert worden. Unter Berücksichtigung des Durchschnittsalters der Verstorbenen entspreche dies maximal 557.000 Lebensjahren.

Einbruch der Wirtschaft auch ohne "strengen" Lockdown

Während die WELT die Zahlen des Ökonomen kaum hinterfragt, provozierten die Thesen auf „Twitter“ schnell Kritik und wurden als unterkomplex zurückgewiesen. Ein User namens Andreas Winckler schrieb: „Das Beispiel Schweden zeigt, dass der Verzicht auf den Lockdown ebenfalls zu einem massiven Einbruch der Wirtschaft führt und man dann beide Probleme addiert. Zudem kann man den Rückstand aufholen, die Wirtschaft wieder ankurbeln, Tote nicht.“

Der Hintergrund: In Schweden wurden weit weniger strenge Restriktionen als in Deutschland verhängt, weshalb man auch vom „Schwedischen Sonderweg“ spricht. So blieben etwa Restaurants, Cafes und Geschäfte die ganze Zeit geöffnet, der Staat setzte auf Freiwilligkeit.

Stand jetzt war dieser Sonderweg nicht erfolgreich, im Gegenteil. Zum 12. Juni zählten die Nordeuropäer viermal so viele Tote auf 100.000 Einwohner wie Deutschland: trotz deutlich geringerer Besiedlungsdichte. Die Wirtschaft bricht dennoch massiv ein. Urban Hansson Brusewitz, Chef des schwedischen Wirtschaftsforschungsinstituts NIER, sagt in einem Interview mit dem Fernsehsender TV4, er erwarte für dieses Jahr ein Schrumpfen des schwedischen Bruttoinlandsproduktes um sieben Prozent und das Ansteigen der Arbeitslosigkeit auf etwa zehn Prozent.

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Bei derartigen Aufrechnungen muss bedacht werden, dass die europäischen Volkswirtschaften global vernetzt sind und infolge der Corona-Restriktionen auch für Schweden wichtige Exportmärkte wegbrachen. Schweden ist speziell in den Bereichen IT, Biomedizin, Maschinenbau und Holzindustrie eine führende Exportnation. Der Lockdown in anderen Staaten hat folglich die heimische Wirtschaft geschwächt. Aber immerhin drei Viertel des schwedischen BIP werden laut EU-Statistik im Dienstleistungssektor erwirtschaftet und damit auf dem Heimatmarkt.

...Argumentation unterkomplex

Diskutabel sind aber bereits die Grundannahmen von Bernd Raffelhüschen, denn sie verraten eine einseitige Perspektive auf das Phänomen der steigenden Lebenserwartung: eben aus der Sicht des Ökonomen. Zwar sind der medizinische Fortschritt und der wachsende Wohlstand tatsächlich wichtige Gründe, weshalb die deutschen Bürger auf ein immer längeres Leben hoffen können (siehe Grafik). Aber es sind bei weitem nicht die einzigen.

Die Deutschen werden immer älter. Grafik: Demografieportal des Bundes und der Länder.

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Steigende Lebenserwartung: Die Gründe sind komplex

Warum werden die Deutschen immer älter? Das zeigen zum Beispiel international vergleichende Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), aber auch Daten des Statistischen Bundesamtes sowie des Instituts für Demoskopie Allensbach. Um weitere wichtige Gründe zu nennen:

  • Die Arbeitsbedingungen in Deutschland haben sich verbessert: Noch in den 50er Jahren war in vielen Branchen Deutschlands die 48-Stunden-Arbeitswoche normal, gearbeitet wurde an sechs Tagen die Woche. Seither hat sich schrittweise vieles zum Besseren gewendet: Mehr Arbeitsschutz, mehr Pausen, längere Erholungsphasen. Damit ereignen sich nicht nur weniger Unfälle auf Arbeit, die Menschen sind auch weniger Schadstoffen ausgesetzt. Zudem sind infolge des Wandels zur Dienstleistungsgesellschaft viele körperlich aufzehrende Knochenjobs verschwunden.
  • Die Deutschen leben gesünder und bewusster: Ein wichtiger Faktor für eine steigende Lebenserwartung ist gesundheitliche Aufklärung - und damit eine gesündere Lebensweise der Bürger. Wie aus Daten des Instituts für Demoskopie Allensbach hervorgeht, ist zum Beispiel die Zahl der Raucher in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Seit Anfang der 50er Jahre sank demnach der Anteil der Raucher in der Bevölkerung von knapp über der Hälfte auf weniger als 23 Prozent. Der Obst- und Gemüseverbrauch pro Kopf hat sich hingegen in Deutschland in dieser Zeit nahezu verdoppelt. Zugleich gehen die Bürger zeitiger zum Arzt, so dass viele Krankheiten bereits in einem Stadium erkannt werden, in dem sie noch gut behandelbar sind.

Dies sind nur zwei Gründe, weshalb die Lebenserwartung steigt: und die nicht direkt mit dem Bruttoinlandsprodukt verrechnet werden können. Im Gegenteil: Es gibt auch gegenläufige Entwicklungen, in denen die direkten und indirekten Folgen des Wirtschaftswachstums die Gesundheit gefährden. Ein Beispiel: Der steigende Fleischkonsum führte zu mehr Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung: Mit der Gefahr, dass verstärkt resistente Keime auftreten und etablierte Medikamente ihre Wirksamkeit verlieren. Und die steigende Feinstaub-Belastung durch Industrie und Verkehr führt zu mehr Atemwegskrankheiten.

Deutschland: Top beim BIP, aber bei Lebenserwartung hinten

Auch eine international vergleichende Studie der Weltgesundheitsorganisation von 2018 zeigt, dass Bruttoinlandsprodukt und Lebenserwartung nicht einfach eins zu eins verrechnet werden können. Deutschland hat zwar das vierthöchste BIP der Welt: nur die USA, China und Japan schneiden besser ab. Aber unter allen westlichen Staaten mit die geringste Lebenserwartung.

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Laut WHO-Studie beträgt die Lebenserwartung in Westeuropa für Neugeborene im Schnitt 79,5 Jahre (männlich) und 84,2 Jahre (weiblich). Deutschland liegt den Angaben zufolge mit 78,2 und 83,1 Jahren deutlich darunter. Bei den Männern bildet man damit das Schlusslicht: bei den Frauen schneiden nur Großbritannien und Dänemark noch schlechter ab.

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