Die Digitalisierung hat auch die Rolle des Menschen in der Versicherungsbranche massiv verändert. Einer Studie des Beratungsunternehmens Deloitte zufolge gab es in Großbritannien eine technologiebedingte Verlagerung von Stellen mit geringer Qualifizierung und routinemäßigen Aufgaben hin zu höher qualifizierten Positionen. Innerhalb von 15 Jahren gingen mehr als 800.000 Arbeitsplätze verloren – allerdings wurden in diesem Zeitraum auch viele Arbeitsplätze neu geschaffen.

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Dennis Toomey, Global Director for Counter Fraud Analytics and Insurance, BAE Systems Applied IntelligenceBAE SystemsAuch in Deutschland hat sich die Zahl der Angestellten in der Versicherungsbranche kontinuierlich reduziert – in den letzten 20 Jahren um knapp 40.000 – und die Digitalisierung wird zu weiteren Stellenstreichungen führen. Der technologische Fortschritt wird auch in Deutschland neue Tätigkeiten hervorbringen, die viele der obsolet gewordenen Arbeitsplätze ersetzen werden.

Zu diesen Zeitpunkt können die Versicherungsunternehmen noch nicht genau abschätzen, in welcher Weise die Digitalisierung die Branche verändern wird. Aber schon heute ist klar zu erkennen, dass durch Künstliche Intelligenz, Robotik und Datenanalyse eine weitere Rationalisierung von Prozessen vorangetrieben wird. Die zentrale Herausforderung für die Versicherer besteht darin sicherzustellen, dass die Digitalisierung sowohl den Beschäftigten der Versicherungsbranche als auch deren Kunden den größtmöglichen Nutzen bringt.

Versicherer sind konservativ

Versicherungsunternehmen sind von Natur aus konservativ. Der Ursprung der Branche liegt in ihrer Eigenschaft als Risikomanager. Das wirkt bis heute fort. Obwohl der Einsatz Künstlicher Intelligenz und weiterer digitaler Technologien allmählich Wirkung zeigt, ist die Versicherungsbranche bei der Digitalisierung nicht an vorderster Front dabei. Laut einer Capgemini-Umfrage aus dem Jahr 2018 setzen nur zwei Prozent der Versicherer weltweit Künstliche Intelligenz in ihren Prozessen ein und 13 Prozent sind dabei, den Einsatz Künstlicher Intelligenz in Anwendungsfällen zu erproben. Etwa ein Drittel der befragten Versicherer sagte, sie befinden sich noch im Stadium der Ideenfindung.

Der Zwang zum Wandel

Heutzutage haben die Versicherer Mühe, Geld zu verdienen. Die Folge ist ein Zwang zum Wandel. Die Versicherungsunternehmen wenden sich zunehmend der Automatisierung, der Robotik und der Künstlichen Intelligenz zu, um ihre Effizienz zu verbessern. Aber sie setzen die neuen Technologien nicht nur zur Kosteneinsparung ein. Es geht Ihnen auch darum, die Interaktion mit ihren Kunden zu verbessern, die attraktivsten Risiken zu identifizieren und Finanzbetrug zu bekämpfen.

Die für Betrugsbekämpfung und IT-Sicherheit zuständigen Abteilungen haben es nicht leicht, da Schritt zu halten, denn für die Versicherer steht die Automatisierung ihres Kerngeschäfts im Vordergrund und nicht der Einsatz digitaler Technologien, um Betrugsbekämpfungsmaßnahmen effektiver zu machen. Dennoch müssen sie ihre Strategien beim Kampf gegen Betrug anpassen, weil sich die Art und Weise, wie Unternehmen mit den Kunden interagieren, geändert hat:

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Heute bewegen sich die Versicherer in einer Welt, in der ihnen Vereinbarungen zum Dienstleistungsniveau eine Schadensregulierung innerhalb von zwei Stunden vorgeben. In dieser Situation können sie nicht ein Viertel der Ansprüche einem manuellen Verfahren zur Betrugseinstufung unterziehen, weil das gegen diese Vereinbarungen verstoßen würde.

Menschen treffen Entscheidungen

Die Versicherer, die nicht nur auf Effizienzsteigerung durch Technologie setzen, sondern auch auf die Produktivität und die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter, sind am besten auf die Zukunft vorbereitet. Beim Kampf gegen Finanzkriminalität besteht die Aufgabe der Technologie in erster Linie darin, den Menschen bessere Entscheidungen zu ermöglichen. Die Kernaufgabe von Maschinen besteht darin, die riesigen Datenmengen, die einem Versicherer zur Verfügung stehen, zu durchforsten und aufkommende Muster und Bedrohungen zu erkennen.

Aber Maschinen sind keine Patentlösung für die Verbrechensbekämpfung im Versicherungswesen. Ihr Nutzen ist begrenzt. Das Fachwissen von Experten und die Art und Weise, wie dieses eingesetzt wird, ist nach wie vor entscheidend. So kann ein Versicherer durch den Einsatz eines Datenanalyseprogramms 100 Betrugswarnmeldungen erhalten und sich anzeigen lassen, welches die Top-10-Meldungen sind, die 90 Prozent der gesamten potenziellen Betrugssumme ausmachen. Der Experte kann dann entscheiden, ob er alle 100 Betrugswarnmeldungen oder nur die Top 10 näher untersucht.

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Betrugsprüfungen können weitgehend automatisiert werden. Menschliche Expertise wird jedoch benötigt, wenn neue Betrugsmethoden aufkommen. Diese müssen untersucht und verstanden werden. Erst dann können die neuen Erkenntnisse in den Algorithmus eingespeist werden. Der Algorithmus kann sich nicht aus sich selbst heraus auf die neue Situation einstellen. Es ist unwahrscheinlich, dass Technologie die Menschen in absehbarer Zeit aus der Versicherungsbranche verdrängen wird. Vielmehr werden neue Technologien wie die Künstliche Intelligenz den Menschen dabei helfen, bessere und schnellere Entscheidungen zu treffen.

Neue Arbeitsweisen erfordern neue Fähigkeiten

Von entscheidender Bedeutung wird sein, ob die Beschäftigten in der Versicherungsbranche über die Fähigkeiten wie Kreativität, Einfühlungsvermögen und Führungsqualitäten verfügen, die für die Anpassung an neue Arbeitsweisen erforderlich sind. Dies ist keineswegs gewährleistet. Einer Umfrage des Beratungsunternehmens PwC zufolge sind mehr als 80 Prozent der Vorstände von Versicherungsunternehmen äußerst (36 Prozent) oder etwas (45 Prozent) darüber besorgt, dass sich der Fachkräftemangel negativ auf ihre Wachstumsaussichten auswirken könnte.

Die Versicherungsunternehmen haben keine sonderlich gute Erfolgsbilanz bei der Rekrutierung von Mitarbeitern mit den erforderlichen Qualifikationen vorzuweisen. Besonders alarmierend ist, dass in einer Umfrage von Deloitte im Jahr 2018 nur 4 Prozent der Millennials den Wunsch äußerten, im Versicherungswesen zu arbeiten. Dabei könnte der Fokus der Versicherer auf die Kundenbeziehung die Branche in besonderer Weise dafür prädestinieren, dass Menschen und Maschinen Seite an Seite arbeiten.

Wer hat den moralischen Kompass?

Im Gegensatz zu den meisten Menschen verfügt Technologie, zumindest bislang, jedoch nicht über moralische Entscheidungskompetenz. Technologie ist nicht in der Lage, eine Frage zu beantworten wie: „Sollen wir dies tun?“ Es wird immer Menschen vorbehalten sein, auf eine solche Frage die Entscheidung zu treffen. Auf dem Papier mag es so aussehen, als ob Maschinen Großartiges leisten können. Aber die Daten, auf die sie ihre Entscheidungen stützen, könnten verzerrt sein, denn sie basieren auf den Vorgaben, mit denen Menschen sie gefüttert haben.

Amazon stieß 2018 mit einem KI-gesteuerten Rekrutierungstool auf ein solches Problem. Das Problem war, dass Frauen benachteiligt wurden. Das Rekrutierungstool hatte nicht von sich aus beschlossen, Frauen im Rekrutierungsprozess zu diskriminieren. Dies war ihm unbeabsichtigt von Menschen „beigebracht“ worden. Der Algorithmus war mit Einstellungsdaten gefüttert worden, die auf Bewerbungen bei Amazon über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg beruhten. Angesichts der männlichen Dominanz in der Technologiebranche waren die Daten verzerrt, was zu einem unfairen Ergebnis führte. Wäre das Rekrutierungstool nicht beaufsichtigt und überprüft worden, hätte es weibliche Bewerber dauerhaft diskriminiert. Dies zeigt, weshalb menschliche Expertise und Urteilskraft immer eine Rolle bei der Digitalisierung spielen werden, so attraktiv und unvermeidlich diese auch sein mag.

Technologie ist nur so gut wie die Daten, mit denen sie gefüttert wird. Und der Mensch ist nur so gut wie der moralische Kompass, der ihn leitet. Versicherungsunternehmen müssen sicherstellen, dass sie über einen guten moralischen Kompass verfügen, zumal die Anforderungen an Nachvollziehbarkeit und Fairness immer lauter werden. Dies ist nicht nur aufgrund von Anforderungen der Aufsichtsbehörden der Fall. Es ist auch so, weil immer mehr Versicherungskunden wissen wollen, wie bestimmte Entscheidungen, etwa eine Risikoklassifizierung, zustande kommen.

Versicherer als Vorreiter bei der Versöhnung von Mensch und Maschine?

Die Rolle des Menschen in der Versicherungsbranche hat sich dramatisch verändert und Technologie wird diesen Veränderungsprozess weiter vorantreiben. Die Maschinen kommen nicht. Sie sind bereits hier. Sie arbeiten unter uns und helfen uns dabei, uns in einer zunehmend komplexen und datengetriebenen Umgebung zurechtzufinden. Die Angst vor einer Roboter-Apokalypse ist unbegründet. Der menschliche Faktor wird weiterhin wichtig sein. Dies gilt insbesondere auch in der Versicherungsbranche, denn das Geschäft der Versicherungen ist ein Geschäft mit Menschen.

Für die Versicherungen geht es darum, die Fähigkeiten zu identifizieren und zu entwickeln, die sie benötigen, damit sie auch in Zukunft den Bedürfnissen ihrer Kunden gerecht werden. Wenn dies gelingt, könnte die Versicherungsbranche eine Vorreiterrolle dabei spielen, Mensch und Maschine in Einklang zu bringen.

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Über Dennis Toomey: Dennis Toomey ist Global Director, Counter Fraud Analytics and Insurance Solutions, bei BAE Systems Applied Intelligence und war zuvor in führenden Positionen unter anderem bei Accenture, IBM, SAS und LexisNexis tätig.

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